Werke (eBook)

Werke 5: Die Stücke 3

(Autor)

Frank Hörnigk (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
360 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76102-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Werke - Heiner Müller
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»Die Stücke 3« enthält sämtliche als Theaterarbeiten konzipierten Texte, die Müller zwischen 1978 und seinem Tod 1995 verfaßt hat. Darunter sind bekannte und zum Kern des Werkes zählende Stücke; außerdem werden bisher ungedruckte dramatische Texte zugänglich gemacht, die nur in Inszenierungen einen Weg in die Öffentlichkeit gefunden hatten. Stücke wie Philoktet 1979 waren bislang lediglich in Zeitungen publiziert und liegen hier erstmals in Buchform vor. Drei im Nachlaß gefundene knappe Szenen wurden ebenfalls aufgenommen.

Bitte beachten Sie: Der Band enthält mit »Nachleben Brechts Beischlaf Auferstehung in Berlin« einen Text, der nicht von Heiner Müller, sondern von Jan Knopf stammt. Der Fehler wird in der nächsten Auflage des Bandes korrigiert.



<p>Heiner Müller, geboren am 9. Januar 1929 in Eppendorf, Sachsen, war einer der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zudem war er Lyriker, Prosa-Autor und Essayist sowie Präsident der Akademie der Künste Berlin (Ost). Er ist am 30. Dezember 1995 in Berlin verstorben.</p>

DER AUFTRAG

Erinnerung an eine Revolution

Das Stück verwendet Motive aus der Erzählung »Das Licht auf dem Galgen« von Anna Seghers

PERSONEN

Galloudec

Debuisson

Sasportas

Antoine

Matrose

Frau

Erste Liebe

Galloudec an Antoine. Ich schreibe diesen Brief auf meinem Totenbett. Ich schreibe in meinem Namen und im Namen des Bürgers Sasportas, der gehängt worden ist in Port Royal. Ich teile Ihnen mit, daß wir den Auftrag zurückgeben müssen, den der Konvent durch Ihre Person uns erteilt hat, da wir ihn nicht erfüllen konnten. Vielleicht richten andere mehr aus. Von Debuisson werden Sie nichts mehr hören, es geht ihm gut. Es ist wohl so, daß die Verräter eine gute Zeit haben, wenn die Völker in Blut gehn. So ist die Welt eingerichtet und es ist nicht gut so. Entschuldigen Sie meine Schrift, sie haben mir ein Bein abgenommen und ich schreibe im Fieber. Ich hoffe, daß dieser Brief Sie bei guter Gesundheit antrifft und verbleibe mit republikanischem Gruß.

Matrose. Antoine. Frau.

MATROSE Sind Sie der Bürger Antoine. Dann ist das hier ein Brief für Sie. Von einem Galloudec. Es ist nicht meine Schuld, wenn der Brief schon alt ist und vielleicht hat sich die Angelegenheit erledigt. Die Spanier haben uns festgehalten auf Kuba, dann der Engländer in Trinidad, bis euer Konsul Bonaparte den Frieden gemacht hat mit England. Dann haben sie mich ausgeraubt in London auf der Straße, weil ich betrunken war, aber den Brief nicht gefunden. Was diesen Galloudec angeht: er wird nicht mehr älter. Er ist krepiert in einem Hospital auf Kuba, halb Gefängnis und halb Hospital. Er lag dort mit einem Wundbrand, ich mit Fieber. NIMM DEN BRIEF ER MUSS ANKOMMEN UND WENN ES DAS LETZTE IST WAS DU MACHST DAS MUSST DU FÜR. MICH TUN war das letzte, was er zu mir gesagt hat. Und die Adresse von einem Büro und Ihr Name, wenn Sie dieser Antoine sind. Aber dort gibt es kein Büro mehr, und von Ihnen, wenn das Ihr Name ist, Antoine, weiß auch niemand etwas, da wo das Büro war. Einer der hinter den Baugerüsten in einem Keller wohnt, hat mich in eine Schule geschickt, wo ein Antoine als Lehrer gearbeitet haben soll. Aber da wußten sie auch nichts von dem. Dann hat mir eine Aufräumfrau gesagt, ihr Neffe hat Sie hier gesehn. Er ist Fuhrmann. Und er hat Sie mir beschrieben, wenn Sie der sind.

ANTOINE Ich kenne keinen Galloudec.

MATROSE Ich weiß nicht, was ihm an dem Brief so wichtig war. Etwas mit einem Auftrag. Den er zurückgeben muß, damit andre seine Arbeit weitermachen. Was immer das für eine Arbeit war. Er hat zuletzt von nichts anderm mehr geredet. Außer wenn er gebrüllt hat, und das war der Wundschmerz. Der kam in Wellen. Und lang genug hat es gedauert, bis er mit dem Sterben fertig war. Der Doktor sagte, sein Herz ist zu stark, er müßte zehnmal tot sein. Manchmal hält der Mensch zu wenig aus, manchmal zu viel. Das Leben ist eine Gemeinheit. Der andre, von dem er in seinem Brief schreibt, ein Neger, hat einen schnellern Tod gehabt. Den Brief hat er mir vorgelesen, Galloudec, damit ich ihn auswendig weiß, im Fall er geht verloren. Und wenn Sie ihn immer noch nicht kennen, will ich Ihnen erzählen, was sie mit ihm gemacht haben und wie er gestorben ist, Sie waren nicht dabei. Erst haben sie ihm ein Bein bis zum Knie abgeschnitten, dann den Rest. Es war das linke. Dann

ANTOINE Ich weiß von keinem Auftrag. Ich vergebe keine Aufträge, ich bin kein Herr. Ich verdiene mein Geld mit Privatstunden. Es ist wenig. Und Schlächtereien habe ich genug gesehn. Ich kenne mich aus in der Anatomie des Menschen. Galloudec.

Frau mit Wein Brot und Käse.

FRAU Du hast Besuch. Ich habe einen Orden verkauft. Den für die Vendée, wo ihr die Bauern totgeschlagen habt für die Republik.

ANTOINE Ja.

MATROSE Soweit ich sehe, haben Sie noch alles. Im Gegensatz zu diesem Galloudec, den Sie nicht kennen und der tot ist wie ein Stein. Der andre hieß Sasportas. Ihn haben sie aufgehängt in Port Royal, wenn Sie es wissen wollen, für den Auftrag, von dem Sie nichts wissen, auf Jamaika. Der Galgen steht auf einem Kliff. Wenn sie tot sind, werden sie abgeschnitten und fallen ins Meer. Den Rest besorgen die Haie. Danke für den Wein.

ANTOINE Sasportas. Ich bin der Antoine den du gesucht hast. Ich muß vorsichtig sein, Frankreich ist keine Republik mehr, unser Konsul ist Kaiser geworden und erobert Rußland. Mit vollem Mund redet es sich leichter über eine verlorene Revolution. Blut, geronnen zu Medaillenblech. Die Bauern wußten es auch nicht besser, wie. Und vielleicht hatten sie recht, wie. Der Handel blüht. Denen auf Haiti geben wir jetzt ihre Erde zu fressen. Das war die Negerrepublik. Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden, und wenn die Toten erwachen trägt sie Uniform. Ich werde dir jetzt ein Geheimnis verraten: sie ist auch nur eine Hure. Und ich kann schon darüber lachen. Hahaha. Aber hier ist etwas leer, das hat gelebt. Ich war dabei, als das Volk die Bastille gestürmt hat. Ich war dabei, als der Kopf des letzten Bourbonen in den Korb fiel. Wir haben die Köpfe der Aristokraten geerntet. Wir haben die Köpfe der Verräter geerntet.

FRAU Schöne Ernte. Bist du wieder betrunken, Antoine.

ANTOINE Es paßt ihr nicht, wenn ich von meiner großen Zeit rede. Vor mir hat die Gironde gezittert. Sieh sie dir an, mein Frankreich. Die Brüste ausgelaugt. Zwischen den Schenkeln die Wüste. Ein totes Schiff in der Brandung des neuen Jahrhunderts. Siehst du, wie sie schlingt. Frankreich braucht ein Blutbad, und der Tag wird kommen.

Antoine gießt sich Rotwein über den Kopf.

MATROSE Davon verstehe ich nichts. Ich bin Matrose, ich glaube nicht an Politik. Die Welt ist überall anders. Das ist der Brief.

Geht.

ANTOINE schreit: Sei vorsichtig, Matrose, wenn du aus meinem Haus gehst. Die Polizisten unseres Ministers Fouché fragen dich nicht, ob du an Politik glaubst. – Galloudec, Sasportas. Wo ist dein Bein, Galloudec. Warum hängt dir die Zunge aus dem Hals, Sasportas. Was wollt ihr von mir. Kann ich für deinen Beinstumpf. Und für deinen Strick. Soll ich mir ein Bein abschneiden. Willst du, daß ich mich danebenhänge. Frag deinen Kaiser, Galloudec, nach deinem Bein. Zeig deinem Kaiser die Zunge, Sasportas. Er siegt in Rußland, ich kann euch den Weg zeigen. Was wollt ihr von mir. Geht. Geht weg. Verschwindet. Sag du es ihnen, Frau. Sag ihnen, sie sollen weggehn, ich will sie nicht mehr sehn. Seid ihr noch da. Dein Brief ist angekommen, Galloudec. Das ist er. Ihr habt es jedenfalls hinter euch. ES LEBE DIE REPUBLIK.

Lacht. Ihr denkt, mir geht es gut, wie. Habt ihr Hunger. Da. Wirft Essen auf die Toten.

FRAU Komm ins Bett, Antoine.

ANTOINE DAS IST DIE HIMMELFAHRT FÜR WENIG GELD IM GITTERWERK DER BRUST SOLANG ES HÄLT DAS HERZ DER HUND

Während des Beischlafs tritt der Engel der Verzweiflung auf.

ANTOINE/STIMME Wer bist du.

FRAU / STIMME Ich bin der Engel der Verzweiflung. Mit meinen Händen teile ich den Rausch aus, die Betäubung, das Vergessen, Lust und Qual der Leiber. Meine Rede ist das Schweigen, mein Gesang der Schrei. Im Schatten meiner Flügel wohnt der Schrecken. Meine Hoffnung ist der letzte Atem. Meine Hoffnung ist die erste Schlacht. Ich bin das Messer mit dem der Tote seinen Sarg aufsprengt. Ich bin der sein wird. Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von morgen.

Wir waren auf Jamaika angekommen, drei Emissäre des französischen Konvents, unsre Namen: Debuisson, Galloudec, Sasportas, unser Auftrag: ein Sklavenaufstand gegen die Herrschaft der britischen Krone im Namen der Republik Frankreich. Die das Mutterland der Revolution ist, der Schrecken der Throne, die Hoffnung der Armen. In der alle Menschen gleich sind unter dem Beil der Gerechtigkeit. Die kein Brot hat gegen den Hunger ihrer Vorstädte, aber Hände genug, die Brandfackel der Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit in alle Länder zu tragen. Wir standen auf dem Platz am Hafen. In der Mitte des Platzes war ein Käfig aufgestellt. Wir hörten den Wind vom Meer, das harte Rauschen der Palmblätter, das Fegen der Palmwedel, mit denen die Negerinnen den Staub vom Platz kehrten, das Stöhnen des Sklaven im Käfig, die Brandung. Wir sahen die Brüste der Negerinnen, den blutig gestriemten Leib des Sklaven im Käfig, den Gouverneurspalast. Wir sagten: Das ist Jamaika, Schande der Antillen, Sklavenschiff in der Karibischen See.

SASPORTAS Bis wir mit unsrer Arbeit fertig sind.

GALLOUDEC Du kannst gleich anfangen. Bist du nicht hergekommen, um die Sklaven zu befrein. Das in dem Käfig ist ein Sklave. Morgen wird er es gewesen sein, wenn er heute nicht befreit wird.

DEBUISSON Sie stellen sie in den Käfigen aus, wenn sie versucht haben wegzulaufen oder für andre Verbrechen, zur Abschreckung, bis die Sonne sie wegdorrt. Das war schon so, als ich von Jamaika wegging, vor zehn Jahren. Sieh nicht hin, Sasportas, einem können wir nicht helfen.

GALLOUDEC Immer stirbt nur einer. Gezählt werden die Toten.

DEBUISSON Der Tod ist die Maske der Revolution.

SASPORTAS Wenn ich von hier weggehe, werden andre in den Käfigen hängen, mit weißer...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2023
Co-Autor Klaus Gehre, Barbara Schönig, Marit Gienke
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte 20. Jahrhundert • Bühne • Deutschland • Drama • Dramatiker • Heiner Müller • Müller • Sammlung • Schauspiel • Stücke • Theater • Werke
ISBN-10 3-518-76102-1 / 3518761021
ISBN-13 978-3-518-76102-1 / 9783518761021
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