Wellenkinder (eBook)

Roman | Ein großer Schicksalsroman über das starke Band der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind
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2023 | 1. Auflage
416 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3026-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wellenkinder -  Liv Marie Bahrow
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Nichts ist so groß wie die Liebe einer Mutter Berlin 2022: Vor über 30 Jahren ist Jans Mutter unter dubiosen Umständen verschwunden. Heute steht der Familienvater vor den Trümmern seiner Ehe, als ein erschreckender Fund an einem Küstenabbruch ihn zwingt, nach Rügen zurückzukehren und sich seiner Vergangenheit zu stellen. Boltenhagen 1970: Oda träumt von der Freiheit, doch ihre Flucht durch die Wellen scheitert. Als sie in der Haftanstalt Hoheneck ist, merkt sie, dass sie ein Kind erwartet. Ostpreußen 1945: Margit gerät auf einem der letzten Schiffe von Königsberg über die Ostsee in einen Bombenhagel. Sie sieht, wie eine Frau gemeinsam mit ihrem Baby über Bord gehen will. In letzter Sekunde entreißt sie ihr das Bündel. Drei Kinder ihrer Zeit auf der Suche nach Freiheit und dem Halt einer Familie.

Liv Marie Bahrow ist geboren und aufgewachsen in einer Kleinstadt in der ehemaligen DDR. Ihr kritisches Umfeld und die Ereignisse der Wendezeit haben sie tief geprägt. Sie ist Literaturwissenschaftlerin und Schreibdozentin und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Liv Marie Bahrow ist geboren und aufgewachsen in einer Kleinstadt in der ehemaligen DDR. Ihr kritisches Umfeld und die Ereignisse der Wendezeit haben sie tief geprägt. Sie ist Literaturwissenschaftlerin und Schreibdozentin und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Oda


Die Linie, die den Horizont zerschneidet, schmerzt in Odas Augen, so fest starrt sie sie an, so beschwörend. Du da, bleib, wo du bist, und keinen Nebel, sonst ertrinken wir!

Sie sind doch so jung, sie und Jürgen, der mit ihr unterm Wachturm kauert, wo der Sichtwinkel tot ist und sie auf den einen, richtigen Moment warten. Bald wollen sie wie Fische sein, in stetiger Bewegung, immer weiter, nach vorn, in die Freiheit. Oda bläst einen schmalen Streifen Atemluft aus. Es sind dreißig Kilometer Luftlinie von Boltenhagen bis Dahme in Schleswig-Holstein, dreißig, was ist das schon, wenn man einen Motor zu Hilfe hat, den Kopf oben hält und die Orientierung nicht verliert. Sie haben den Kompass am Mann und die Seekarte eines Fischers im Kopf, lauter Kringel und Pfeile für Strömungen, die zu umgehen sind, und solche, die sie vorantragen. Der Zeitpunkt ist perfekt, die Nächte lang, die See noch sommerwarm. Es wird gelingen. Es muss.

Aus der Körpermitte heraus wird ihr heiß. Oda spürt, dass sie wächst, die Schichten ihrer Haut dehnt. Als die Sonne in den Spalt am anderen Ende der Welt taucht, hört sie ein feines »plopp«. Die Luft schabt über ihren Taucheranzug wie ein Messer über Papier, flüstert im Sand, klirrt in den Kiefernnadeln hinter der Düne. Das Meer ist ein Tuch onyxschwarzer Seide, die der Wind kräuselt.

Jürgens Gesicht schleicht auf sie zu, es ist herrlich und vollkommen. Die Gummihaut seines Taucheranzugs quietscht, als er ihren Ellbogen anstupst. »Das Aufputschmittel wirkt? Sehr gut.«

Oda nickt und hält ihm die Lippen hin.

»Gleich«, sagt er. »Einverstanden?«

Sie braucht einen Moment, um Ja zu sagen, etwas wallt durch ihren Magen, dabei sollte sie gar nichts spüren. Nun gähnt da ein brackiges Loch. Wird sie krank? Oda gräbt die Füße in den Sand, schiebt ihre Flanke dicht an Jürgen.

»Du, ich …«

»Pst!«

Ein dunkler Schatten schält sich aus den Bäumen, er trägt ein Spitzdach auf dem Kopf, an seinem Arm baumelt eine Maschinenpistole. Ein Soldat der Grenzbrigade Küste, der gerade von seinem stündlichen Rundgang zurückkehrt. Er schlurft durch den Sand, seine Schultern hängen, er ist müde.

Jürgen zieht die hellbraune Decke über ihre Köpfe, hinter Odas Stirn pocht das Blut. Ihr Körper ist so straff, dass sie fürchtet, der Taucheranzug könnte jeden Moment mit lautem Knall zerreißen. Sie hört genagelte Sohlen auf Trittstangen, einmal, zweimal, es sind sieben Stufen, auf der sechsten bleibt der Soldat stehen. Oda beginnt zu zittern, Jürgen stupst sie an, sie brummt einen leisen, kurzen Ton. Ja, wir haben das tausendmal besprochen, nein, es gibt kein Problem, ich will es ja auch. Raus aus diesem engen Land, Papa wiedersehen, auf der ganzen Welt spielen, in den besten Orchestern, die es gibt.

In ihrem Taucheranzug wird es nass und warm. Komisch, dass sie seit ein paar Tagen so häufig muss, eine Blasensache? Sie hätten sich wohl besser nicht die Nächte durchgeliebt.

Von oben hört sie Gelächter. »Oh Mann, Scheiße, was rauchst du da? Ich muss das melden, muss ich das melden?«

»Wenn du was aufs Maul willst.«

Wieder Gekicher, der Soldat steht immer noch draußen, Odas Blut rauscht so laut, dass sie meint, die Grenzer müssten es hören.

»Siehst du was?« Der Soldat im Turm.

»Ne. Aber es ist so schöööön hier.« Der andere.

Husten, dann Gesang, tief und ruckelnd. »Wohin auch das Auge blicket, Moor und Heide nur ringsum …«

Der Tritt auf die letzte Stufe, ein Klappen der Tür, gedämpfter Gesang, die Soldaten sind beschäftigt.

Endlich löst sich die Beklemmung, die Oda einschnürt. Nur nicht die glimmende Übelkeit, das schwammige Gefühl in den Gliedern, sie steckt in einem Körper, der unbekannten Gesetzen folgt.

»Mir ist schlecht, ich glaub, von der Tablette«, flüstert sie.

»Die Dinger hauen richtig rein, aber das vergeht.«

»Und jetzt?«

»Bereit machen.« Jürgen drückt eine Faust gegen ihr Knie.

Sie tut, was er tut, mechanisch, wie aufgezogen. Setzt sich auf die Waden, schiebt sich der Länge nach vor, winkelt die Beine an wie eine Echse. Fünfzig Meter vor ihnen gluckert das Wasser.

Jürgen hebt die rechte Hand. Ihre Muskeln spannen sich, Odas Herz hüpft in alle Richtungen. Drei Fingerspitzen recken sich dicht vor ihrem Gesicht nach oben.

Drei. Zwei. Eins. »Jetzt!«

Das Wort zischt an ihr vorbei wie eine Kugel, sie folgt ihr, dicht neben Jürgen robbt sie nach vorn, es geht zügig und leicht.

Am Ufer spuckt sie ein wenig Mageninhalt aus, der Strudel in ihrem Bauch kommt zur Ruhe. Flach gleiten sie nach vorn, ins Wasser, das sanft die Arme um sie legt. Schnell verschwindet der Ufersand unter ihren Beinen, Oda streckt die Knie, schlägt behutsam aus. Kein Lichtkegel schwebt über sie hinweg, niemand ruft: »Halt! Stehen bleiben! Grenzbrigade!«, so ein Glück.

Jürgen zupft an der Decke, sie lassen sie los, tauchen darunter weg. Dann kraulen sie ganz langsam unter der Wasseroberfläche weiter. Zehn Züge, zwanzig, dreißig. Angst fühlt Oda keine, auch nichts sonst, sie geht auf in ihrem Körper, ist Bewegung, ist Schwung, ein Kind der Wellen. Das Seil, das sie an Jürgen bindet, zieht sacht an ihr und lockert sich, sie passt ihre Bewegungen seinen mühelos an, ein neuer Rhythmus der Liebe.

Lange geht das so.

Sie sind schon weit, als er kräftig am Seil zieht. Oda hebt den Kopf, sieht das Scheinwerferlicht auf sich zugleiten und taucht ab. Ihr Puls überschlägt sich, als ein heller Streifen über ihr durchs Wasser streicht. Vorbei, schon vorbei! Sie zieht die Schultern ein, wartet auf Motorenlärm, eine Gewehrsalve. Dreht sich im Kreis, sieht Jürgen, das Licht steht direkt über ihm. Sie sehen einander an, halten die Hände des anderen, warten.

Das Licht wartet auch. Atmen muss sie. Gleich. Jetzt! Wasser strudelt durch den Schnorchel, sie schluckt es runter, würgt, fängt an zu zappeln. Jürgens Hand greift ihren Oberarm, er drückt fest zu, hängt sich an sie dran. Zu spät, das Wasser muss raus, Oda bricht durch die Oberfläche und spuckt. Saugt Luft ein, eine Faust zwängt sich durch ihre Kehle, sie macht schreckliche Laute.

Jürgen taucht neben ihr auf. »Alles gut, hörst du mich? Alles ist gut.«

Oda sieht sich um. Es ist dunkel und still, neben ihnen schwimmt eine Straße aus Mondlicht. Weiter weg ist ein buckliger schwarzer Streifen. Land?

Ihr Puls kommt nicht zur Ruhe. »Sind die wirklich weg?«

»Aber ja, da ist nichts mehr.«

»Der Hügel dort hinten, ist das Land?«

»Kann sein.«

Sie schlägt nach einer Welle, die ihr ins Gesicht schwappt. Schnappt nach Luft. »Was, wenn die uns entdeckt haben! Wir könnten hinschwimmen, uns verstecken, bestimmt haben die uns gesehen, ich will doch nicht …«

»Hör auf damit, beruhige dich, sofort!«

»Jürgen …« Sie merkt, dass ihr Atem rast, das ist schlecht, er hat recht, sie muss sich beruhigen! »Ich hab nur Angst.«

»Die habe ich auch.« Jürgen legt eine Hand an ihre Wange. »Alles wird gut. Ja? Atme!«

Sie versucht es. Etwas Großes, Weiches streift ihr Bein. Nur nicht denken, was es sein könnte, an gar nichts denken!

Jürgen kommt näher, legt seine Stirn an ihre. »Noch ein bisschen, dann stellen wir den Scooter an. Die haben uns nicht gesehen, sonst wären sie schon da.«

Oda gibt ihm einen Kuss, nun doch, sie muss. Die See gluckert, wiegt sie sanft. Sie sollte keine Angst haben, wirklich nicht, alles wird gut.

Jürgen löst sich von ihr. »Weiter, ja?«

Sie nickt. In sich das Gefühl, als wäre das hier ein Film. Spielt sie mit, sieht sie zu? Unwirklich ist alles plötzlich, fremd und nah zusammen.

Jürgen schnalzt mit der Zunge, pflügt nach vorn, sie hinterher. Etwas ist auf einmal schwierig, ihr rechter Arm will nicht recht. Zum Ausgleich rudert sie kräftiger mit den Beinen, nach ein paar Metern knallt es in ihrer Wade, ein Peitschenhieb. Sie zieht das Bein an, der Muskel schnürt sich zusammen, sie schreit.

Das Seil reißt an ihrem Bauch, sie möchte es abstreifen, es geht nicht. Sie breitet die Arme aus, dreht den Kopf. Wo ist oben, wo unten? Luft und Wasser hören nicht auf, sich zu drehen.

Jürgen packt sie im Nacken, sie erstarrt. Ruhig bleiben, er ist da. Er ist da! Oda hebt eine Hand, verknotet die Finger miteinander, das vereinbarte Zeichen für einen Muskelkrampf. Jürgen tastet ihre Beine ab, reibt und knetet. Der Himmel über ihr kreist weiter. Im letzten Moment dreht sie sich um und erbricht gegen den Wind, kriegt alles ins Gesicht. Das Wasser wäscht es fort.

»Scheiße, du bist ja seekrank!«

Alles in ihr ist leer, wie ausgespült. Sie will etwas sagen, da springt der Motor an.

Noch einmal streichelt Jürgen ihre Wange, bedeutet ihr, sich flach auf den Rücken zu legen. Endlich.

Die Maschine schiebt sie vorwärts, Oda muss nichts tun als stillhalten und atmen. Das geht...

Erscheint lt. Verlag 3.8.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte DDR • Deutsche Geschichte • Drama • Emotionen • Familiengeschichte • Familienroman • Flucht • Geschenkbücher • Große Gefühle • Heimkehr • Kindheit • Königsberg • Liebe • Mutterliebe • Mutterschaft • Nachkriegszeit • Ostdeutschland • Panorama • Rügen • Schicksalsroman • Stasi • Vergangenheit • Verlust • Zeitgeschichte • Zwangsadoption
ISBN-10 3-8437-3026-1 / 3843730261
ISBN-13 978-3-8437-3026-6 / 9783843730266
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