Wofür ich mein Leben gebe (eBook)

Kolumnen 1946-1977

Luis Ruby (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
320 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-28156-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wofür ich mein Leben gebe -  Clarice Lispector
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Die Entdeckung des »Kosmos Clarice Lispector« geht weiter: So persönlich war die Ikone der modernen Literatur noch nie zu erleben
Clarice Lispector, eine der literarischen Ikonen des 20. Jahrhunderts, schrieb zeit ihres Lebens für Zeitungen, so u.a. zwischen 1969 und 1973 für das »Jornal do Brasil«, das führende Presseorgan des Landes, in dem sie eine wöchentliche Kolumne führte. Berühmt für ihre expressiven, das Innerste ihrer Figuren nach außen kehrenden Romane und Kurzgeschichten, erzählte Lispector hier von ihrem eigenen Alltag, verwandelte persönliche Erlebnisse und Erinnerungen in tiefgründige, berührende, häufig humorvolle kurze Episoden. Die verlorene Liebe eines Taxifahrers, die bittere Wahrheit hinter der Schönheit einer alten Freundin, ihre eigene Familie und ihr Aufwachsen: In allem entdeckt Lispector die Widersprüche und Eigenheiten des Leben. Auch über ihr Schreiben reflektiert sie in den Kolumnen immer wieder, teilt ihre Leseerfahrungen und schlägt eine Brücke zur brasilianischen Musik ihrer Zeit. Lispectors ureigener Blick auf die Welt, so ernst wie spielerisch, so heiter wie kontemplativ, offenbart echte Perlen der Erkenntnis und bringt uns die Schriftstellerin so nahe wie nie zuvor. Luis Ruby, gerühmter Übersetzer von Lispectors Romanen und Erzählungen ins Deutsche, hat für diesen Band die unterhaltsamsten und aufschlussreichsten Kolumnen ausgewählt und kommentiert. 'Sie konnte beißend sein, rätselhaft, witzig - aber nie banal. Gerade mit ihren Kolumnen wurde die Schriftstellerin Clarice Lispector zu einer brasilianischen Ikone.' Süddeutsche Zeitung, Simon Sales Prado - »Eine wirklich außergewöhnliche Schriftstellerin.« Jonathan Franzen - »Endlich wird eine der geheimnisvollsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts in all ihren schillernden Facetten wiederentdeckt.« Orhan Pamuk

Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.

6. Januar 1968


San Tiago


Nein, geistige Klarheit ist nicht mit Kälte gleichzusetzen. San Tiago Dantas19 zum Beispiel, dem wurde Kälte vorgeworfen. Aber da widersprach Schmidt20 sich selbst.

Kennengelernt habe ich San Tiago in Paris. Bald bildete sich eine Clique. Und eines Abends beschlossen wir aus irgendeinem Grund, die Pariser Clubs unsicher zu machen. Was wir dann bis zum Morgengrauen taten. Sangen die Geigen allzu fein und rückten uns allzu nahe, zogen wir weiter. Aber es kommt nun mal vor, dass man in langen Nächten trinkt. Und ich kann das nicht gut. Wenn ich trinke, werde ich entweder müde, oder ich fange an zu weinen. Aber wenn ich dann weitertrinke, werde ich brillant und sage alles mögliche Zeug. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. In der besagten Nacht geschah beides. Sollte San Tiago ebenfalls zu Tränen neigen, so ließ er es sich nicht anmerken. Tatsächlich war seine Klarheit ein hohes Maß an Selbstbeherrschung, nicht Kälte.

Ach, wie viele Todesfälle standen dieser Clique bevor. Bluma, Schmidt, Wainer, San Tiago. Keiner wusste Bescheid. Oder wussten wir doch etwas? So viel, dass wir es nicht ertrugen, wenn feine Geigen sangen.

Die Inhaberin einer Diskothek saß persönlich an der Kasse, in einem schulterfreien Kleid, die Schultern rund und kräftig. Wir sprachen viel über Schultern. Die meinen wurden ganz schwach. Was habe ich denn getrunken? Was man mir eben brachte, ziemlich durcheinander.

Bis der Morgen kam, fast schon das langsame Tageslicht. Niemand war müde, aber es war Zeit. Wir machten uns auf den Weg. Und San Tiago entdeckte an den Straßenecken von Paris die ersten Blumenverkäuferinnen. Ich habe nicht gezählt, wie viele Rosen er mir kaufte. Ich weiß nur, ich ging durch die Straßen und konnte sie nicht alle tragen, und im Gehen fielen mir die Rosen auf den Boden. Wenn ich je schön gewesen bin, dann an jenem Morgen in Paris, als Rosen aus meinen vollen Armen fielen. Ein Mann, der eine Frau schmückt, ist nicht von kalter Klarheit.

Das Zimmer im Hotel füllte sich mit einem frischen, frischen Duft. Ich starb mehr, als ich einschlief.

Mittags wurde ich schließlich wach, so verkatert, dass ich kaum die Augen aufbekam. Ich weckte meinen damaligen Mann und bat ihn, nach dem Hoteldiener zu klingeln und den stärksten Kaffee zu bestellen, der zu kriegen wäre.

Kurz darauf kam der Hoteljunge herein. Aber nicht nur mit Kaffee. Mit Armen voller Blumen: San Tiago hatte schon wieder welche geschickt. Und während ich meinen Kaffee trank, klingelte das Telefon: San Tiago, der wissen wollte, wie es mir gehe. Mir ging es schrecklich. Er fragte, ob wir nicht alle zusammen zu Mittag essen könnten. Ab hier setzt meine Erinnerung aus. Mir ist, als hätten wir gleich darauf den Zug nach Bern nehmen müssen, und daher konnten wir nicht.

Wann habe ich San Tiago wiedergesehen? Es war in Rio. Wir gingen zum Abendessen zu ihm und Edmeia. Aber da erkannte er mich kaum wieder. Ich hatte nicht getrunken, weinte nicht, war nicht brillant. Stattdessen sagte ich nur wenig. Er fragte, ob ich traurig sei. Ich antwortete, ich sei wirklich so.

Während des Abendessens kam die Rede auf ein Gemälde in einem italienischen Museum. San Tiago fragte, ob es mir gefallen habe. Ich sagte, ich könne mich nicht erinnern. Er gab ungekünstelt zurück: Ach ja, du gehörst ja zu den Menschen, die sich nur an das erinnern, was vor ihrem zehnten Lebensjahr passiert ist.

Die Zeit verging. Wenn er nach Washington reiste, rief er mich sofort an, und ich freute mich.21Dann kam er zum Abendessen zu uns, und wir unterhielten uns bis nach drei Uhr morgens. Und ich lernte. Was ich gelernt habe, ist schon vergessen, aber ich bin sicher, dass es auf irgendeine Weise in mir weiterlebt.

Einmal speisten wir in einem Hotel in Washington zu Abend. Und er redete lange über Politik mit mir. Mir kamen gewisse Zweifel: Mit Frauen redet man doch nicht über Politik. Verlor ich allmählich an Weiblichkeit? Ich fragte ihn offen danach. Im Gegenteil, erwiderte er, ich müsste da eher aufpassen. Da war mir für den Rest des Abendessens wohler.

Viel später dann seine Erkrankung. Eines Tages bekam ich eine gedruckte Einladung zu einem Bankett und einer politischen Rede San Tiagos. Wer wäre auf die Idee gekommen, mich zu so etwas einzuladen, wenn nicht er? Ich ging also hin. Nach dem Bankett erhob sich San Tiago, so weiß wie ein Blatt Papier. Immer wieder versagte ihm die Stimme. Dann nahm er einen Schluck Wasser. Und setzte neu an wie ein Held seiner selbst, jeder Held ist ein Held seiner selbst. Wer siegt, der siegt über sich.

Danach ging ich hin, um ihn zu umarmen, hielt mühsam meine Tränen zurück. Ich umarmte den Tod. Einen Tod voller Klarheit. Er hat seinen Tod angenommen, da bin ich sicher.

Ich vergaß zu erwähnen, dass San Tiago mehrere Nichten hatte, die er sehr mochte. Eine davon hatte er besonders gern. Und als sie nach Washington kam, brachte sie mir einen Empfehlungsbrief von ihm. Mehr noch: Ich sollte ein Gespräch mit ihr führen, hieß es darin. Es wurden mehrere. Sie kam zum Abendessen, wann immer sie wollte.

Später erreichte mich hier in Rio die Einladung zu ihrer Hochzeit. Der Bräutigam und die Braut schüchtern und schön anzusehen. Ich setzte mich in eine der Kirchenbänke. Warf einen Blick auf San Tiago, der gegenübersaß. Er saß da und starb vor sich hin. Dann wurde die Ehe geschlossen.

Als alle aufstanden und die Brautleute beglückwünschten, traf ich auf San Tiago, der fast nicht mehr sprach. Er fragte, ob ich gerade an etwas schreiben würde. Ich antwortete, ich hätte gerade ein Buch abgeschlossen, der Titel sei Die Passion nach G. H. Und er sagte, der Titel gefalle ihm sehr.

Das Buch hätte ihm auch gefallen, da bin ich sicher. Aber er starb vor der Veröffentlichung. Ich ging nicht zur Beerdigung: Nicht alle sterben.

13. Januar 1968


Menschliche Wärme


Nein, da strahlte kein Rot. Es war fast Abend, aber noch hell. Wenn da wenigstens sichtbares Rot gewesen wäre, so wie es innen rot war. Stattdessen eine Lichthitze ohne Farbe, dazu noch statisch. Nein, die Frau schaffte es nicht, zu schwitzen. Sie war trocken und sauber. Und draußen flogen nur Vögel mit verstrohten Flügeln. Doch die Hitze war sichtbar, und wenn sie die Augen schloss, um die Hitze nicht sehen zu müssen, kam an deren Stelle die langsame Halluzination: Sie sah dicke Elefanten näher trotten, sanfte, schwere Elefanten mit trockener Haut, aber inwendig nass von einer Zartheit, die unerträglich heiß war; sie vermochten sich selbst kaum zu tragen, und das machte sie langsam und schwer.

Noch war es zu früh, um die Lampen anzuzünden, so würde es wenigstens schneller Abend. Der Abend, der nicht kam, nicht kam, nicht kam, der unmöglich war. Und ihre Liebe, die jetzt unmöglich war – trocken wie das Fieber dessen, der nicht schwitzt, eine Liebe ohne Opium oder Morphin. Und »Ich liebe dich« war ein Splitter, der sich mit keiner Pinzette entfernen ließ. Ein Splitter, der in der dicksten Stelle der Fußsohle steckte.

Ach, und das Fehlen von Durst. Hitze und Durst haben, das wäre erträglich. Aber ach, das Fehlen von Durst. Es gab nichts als Fehlen und Abwesenheiten. Und noch nicht einmal Lust. Nur Splitter ohne hervorstehende Spitze, an der man sie packen und herausreißen könnte. Nur die Zähne waren feucht. In einem gefräßigen, ausgedörrten Mund die feuchten, aber harten Zähne – und vor allem zielte die Gefräßigkeit auf nichts. Und das Nichts war heiß an diesem Spätnachmittag, der ewig währte.

Ihre Augen, offen und diamanten. Auf den Dächern die Spatzen, ganz trocken. »Leute, ich liebe euch« war ein unmöglicher Satz. Die Menschheit war für sie wie ein ewiger Tod, dem jedoch die Erleichterung verwehrt blieb, endlich zu sterben. Nichts, nichts starb an diesem dürren Abend, nichts verweste. Und um sechs Uhr abends war es Mittag. Mittag mit dem aufmerksamen Lärm einer Maschine, einer Wasserpumpe, einer Pumpe, die seit Langem ohne Wasser arbeitete, inzwischen verrostetes Eisen war. Seit zwei Tagen gab es kein Wasser in der Stadt. Nichts war jemals so wach gewesen wie ihr Körper ohne Schweiß und ihre Diamantenaugen, die statisch bebten. Und Gott? Nein. Nicht einmal Beklommenheit. Die Brust leer, ohne sich zu verengen. Und kein Schrei.

Unterdessen war Sommer. Ein Sommer, so weitläufig wie ein leerer Schulhof in den Ferien. Schmerz? Keiner. Kein Zeichen von Tränen und kein Schweiß. Salz auch keins. Nur eine schwere Süße: wie die der langsamen Haut der Elefanten, dieses ausgedörrte Leder. Das Schmutzige, klar und heiß. An ihren Mann denken? Nein, Splitter in der Fußsohle. Kinder? Fünfzehn Kinder hingen da, ohne zu baumeln, es ging ja kein Wind. Ach, wenn die Hände nur endlich feucht würden. Selbst wenn es Wasser gegeben hätte, sie hätte aus Hass nicht geduscht. Aus Hass kam kein Wasser. Nichts floss. Schwierigkeit ist etwas Statisches. Sie ist ein diamantenes Schmuckstück. Die Zikade mit der trockenen Kehle hörte nicht auf zu brummen. Und Gott, verflüssigte der sich endlich zu Regen? Nein. Ich will das auch nicht. Aus trockenem, ruhigem Hass will ich genau das, diese aus Hitze geschaffene Stille, die durch die grobe Zikade spürbar wird. Spürbar? Nichts spürt man. Bis auf dieses harte Fehlen von Opium zur Linderung. Ich will, dass die Unerträglichkeit sich fortsetzt, denn ich will die Ewigkeit. Ich will dieses Warten, so pausenlos wie der rötliche Gesang der Zikade, denn all das ist der statische Tod, ist die Ewigkeit, ist Brunst ohne Begehren, Hunde ohne Gebell. In...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2023
Übersetzer Luis Ruby
Sprache deutsch
Original-Titel Todos as crônicas
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Annie Ernaux • Avantgarde • Brasilien • eBooks • Emanzipation • Feminismus • helen cixous • Lucia Berlin • Miranda July • Neuer Feminismus • Neuerscheinung • Roman • Romane • Virginia Woolf • Weiblicher Literaturkanon • Weibliche Selbstbestimmtheit
ISBN-10 3-641-28156-3 / 3641281563
ISBN-13 978-3-641-28156-4 / 9783641281564
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