Der letzte Liebende (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
304 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-30337-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der letzte Liebende - Annette Mingels
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Annette Mingels' großer Roman übers Älterwerden und das Schwinden aller Sicherheiten
Carl Kruger ist einsam. Fast sechzig Jahre war der emeritierte Chemieprofessor mit Helen verheiratet. Obwohl die Ehe schon lange zerrüttet war, trifft Helens Tod ihn bis ins Mark. Darum willigt er ein, als seine Tochter Lisa ihn zu einer Reise in die alte Heimat überredet. Doch der Besuch in Ostdeutschland und Polen verläuft anders, als der Wahlamerikaner erwartet. Konfrontiert mit einer Welt im Umbruch, stellt sich Carl die Frage: ist er, der »alte weiße Mann«, überhaupt angekommen in diesem Jahrhundert?

Annette Mingels' so kluger wie berührender Roman erzählt vom Schwinden aller Sicherheiten am Ende eines langen Lebens und von sehr heutigen Konflikten zwischen den Generationen. Psychologisch genau, mit virtuoser Leichtigkeit und meisterhaft im Ton.

Annette Mingels, geboren 1971, studierte Germanistik und schloss mit einer Promotion ab. 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem fünf weitere und ein Erzählband folgten. Für »Was alles war« erhielt sie 2017 den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Dieses entsetzliche Glück«. Nach Jahren in der Schweiz, in Montclair (USA), Hamburg und San Francisco lebt Annette Mingels seit 2021 mit ihrer Familie bei Berlin.

Dezember


Seit einiger Zeit hatte Carl Kruger am Morgen das Gefühl, aufgeben zu müssen, obwohl das eigentlich nicht seine Art war. Vom Bett aus sah er zu, wie es draußen langsam hell wurde, die Straßengeräusche drangen zu ihm herauf, und ihm fiel nichts ein, wofür es sich aufzustehen lohnte.

Manchmal ertappte er sich dabei, dass er seine Frau beneidete. Seit sie vor etwas mehr als einem halben Jahr die Diagnose erhalten hatte, besaß jeder ihrer Tage eine Struktur. Man hatte nicht operiert – diese Möglichkeit war von Anfang an ausgeschlossen worden –, aber in den ersten Wochen hatte sie Bestrahlungen erhalten und danach vier Runden Chemotherapie, die sie zunächst gut und dann gar nicht mehr vertragen hatte. An den Tagen, an denen Helen ins Krankenhaus musste, hatte Lisa sie morgens abgeholt und zum Mountainside Medical Center gefahren. Sie hatte dort mit ihrer Mutter gewartet, während die Lösung aus dem durchsichtigen Beutel in den Infusionsschlauch und schließlich in Helens Arm geträufelt war. Er stellte sich vor, wie Lisa auf einem Klappstuhl neben der Liege saß. Wie sie plauderten, vertraut und immer dann derselben Auffassung, wenn es um ihn ging. Nach Meinung seiner Tochter war er ein hoffnungsloser Fall. Er war der Grund für das jahrzehntelange Unglück ihrer Mutter, das sich wie Gift in die feinsten Verästelungen der Familie ausgebreitet hatte – er war vielleicht sogar der Grund für das hier: ihre Krankheit, auf jeden Fall jedoch für das Scheitern von Lisas eigener Ehe. Und spätestens seit der Geschichte mit Renee stimmte Helen ihrer Tochter in allen Punkten zu.

In der Küche nahm er den Wasserkocher, füllte ihn zur Hälfte, hängte einen Teebeutel in die Tasse mit den Rosen, dann stellte er sich ans Fenster und wartete darauf, dass das Wasser kochte. Vom Küchenfenster aus sah er auf die Front des MC Hotel. Er war ein einziges Mal, kurz nach der Eröffnung vor drei Jahren, hineingegangen. Damals waren sie gerade erst aus ihrem Haus in der Myrtle Lane in diesen Wohnblock gezogen, wo sie eine Maisonettewohnung gekauft hatten. Der Eingang zum Hotel lag an der Ecke Bloomfield Avenue und Church Street, ein siebenstöckiger halbrunder Turm, von dem aus sich rund dreißig Meter lang die Sandsteinfassade des Hotels hinzog. Er hatte sich die Lobby, die Bar und das Restaurant angesehen und sich vorgenommen, bald einmal mit Helen hier essen zu gehen. Dann war er bei der nächsten – seiner ersten – Eigentümerversammlung Renee begegnet und hatte sein Vorhaben vergessen.

Das Wasser kochte, er goss es in die Tasse, stellte sie auf ein Tablett und legte einen Keks daneben, den er auf dem Weg nach oben selbst aß. Die Tür zu Helens Zimmer war geschlossen, und er hielt kurz inne, um zu hören, ob Lisa bei ihr war. In letzter Zeit schien seine Tochter ihm auszuweichen – war sie am Anfang von Helens Erkrankung immer zuerst ins Wohnzimmer gekommen, um ihn zu begrüßen, hatte sie irgendwann nur noch von der Tür aus einen Gruß gerufen und war dann rasch die Treppe hoch in die obere Etage gelaufen. Inzwischen nutzte sie meistens die Möglichkeit, mit dem Aufzug direkt in die obere Etage zu fahren, um ihn so nicht einmal ignorieren zu müssen.

Die hellen Vorhänge waren zugezogen und tauchten das Zimmer in fahles Licht. Helen hatte die Augen geschlossen. Das Tablett war zu groß für den Nachttisch. Mit einer Hand schob Carl die Bücher und Zeitschriften zur Seite und stellte die Tasse auf das Holz, dann blickte er sich nach etwas um, das er unterlegen könnte. Weil er nichts fand, nahm er die Tasse nochmals auf und wischte ihre Unterseite an seinem Ärmel ab, bevor er sie wieder abstellte. Als er aufblickte, sah Helen ihn mit weit geöffneten Augen an.

»Danke«, sagte sie. »Du hast mich geweckt.«

»Aha«, sagte er. Dann fügte er hinzu: »Tut mir leid.«

Helen seufzte. »Schon okay.« Sie sah auf die Tasse. »Kein Keks heute?«

»Du isst ihn doch nie«, sagte Carl. »Aber ich kann dir gern einen holen.«

»Nein, nein.« Helen machte eine unbestimmte Handbewegung: ein Wedeln vor ihrem Gesicht, als wollte sie alles – und ganz besonders ihn – verscheuchen. »Ich will eh keinen.«

Er sah sich nach einem Stuhl um, dann ließ er es bleiben.

»Wie geht’s dir?«

»Wie soll’s mir gehen?«

»Ist dir übel? Hast du Schmerzen?«

»Nein, nein«, sagte Helen wieder, in einem so leichten Ton, dass es fast ironisch klang. »Alles wunderbar.«

»Brauchst du noch etwas?«

Sie sah ihn von unten herauf an, und für einen Moment meinte Carl Hass in ihrem Blick zu erkennen. Aber vielleicht war es auch nur Ungeduld: die Ungeduld der Kranken mit dem Gesunden. Sie wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf.

»Dann bin ich unten. Ruf einfach, wenn du etwas brauchst.«

Seine Stimme hatte einen unnatürlich fröhlichen Klang, er hörte es selbst und spürte die Hitze, die ihm den Hals heraufkroch. Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er zur Tür und zog sie sorgfältig hinter sich ins Schloss.

Vor Kurzem hatte er im New Yorker ein Interview mit dem Schauspieler Matthew McConaughey gelesen. McConaughey hatte gesagt, er glaube, dass die Zeit für eine neue Männlichkeit gekommen sei. Dass beides möglich sei. Verletzlichkeit und großes Ego, Verantwortung und Freiheit. Engel sein, hatte der allen Ernstes gesagt, und Teufel. Lächerlich, hatte Carl gedacht. Aber es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Auf der Straße schoben sich die Autos langsam voran, während rechts und links auf dem Bürgersteig Passanten mit Taschen und Tüten schlenderten. Direkt nach Thanksgiving war die Weihnachtsbeleuchtung angebracht worden, Tannengirlanden, mit Lichterketten umwickelt, rot und weiß gestreifte Plastikstangen, goldene Kugeln. Der Antiquitätenladen, der im Souterrain der Unitarierkirche lag und auch von dieser betrieben wurde, hatte einen großen rostigen Elch auf dem Gehweg platziert, bei dem nicht ganz klar war, ob er Dekoration war oder zum Verkauf stand. Gestern war Carl vor ihm stehen geblieben und hatte das rostige Tier genau betrachtet, das Geweih, die leeren Augen – ausgestanzte Löcher im Metall –, die auf eine große, ebenfalls verrostete Platte geschraubten Beine. Im Schaufenster hatte er eine Kette liegen sehen, himmelblaue Topase, Helens Lieblingsstein. Er hatte überlegt, in den Laden zu gehen – er hatte sich das Innere des Ladens schon vorgestellt: das leicht Muffige der Kleider und Teppiche, die alten Möbel und Kronleuchter, die stockfleckigen Bücher und Gemälde. Dann hatte er die Treppe vom Gehweg zum Eingang angeschaut – fünf steile Stufen – und hatte sich dagegen entschieden. Vor etlichen Jahren hatten Helen und er in dem Laden zwei gepolsterte Hocker gekauft, mit einem festen Webstoff bespannt, der im Laufe der Jahre von sattem Ocker zu blassem Hellgelb verblichen war. Bei ihrem Umzug von der Myrtle Lane in die Bloomfield Avenue hatten sie sie aussortiert und vors Haus gestellt. Es hatte fast eine Woche gebraucht, bis jemand sich ihrer erbarmte, und während dieser Woche hatte Carl der Anblick der beiden Hocker jeden Tag ein bisschen mehr betrübt.

Er ging die Bloomfield Avenue hinunter in Richtung Süden. Passanten kamen ihm entgegen, etliche Tische in den Cafés waren besetzt. Er erinnerte sich daran, wie leer hier alles im Lockdown gewesen war. Fast zwei Jahre war das jetzt her. Er hatte vom Küchenfenster im dritten Stock hinabgesehen; die Leere unter ihm hatte etwas von einem Feiertag an sich und etwas vom Ende der Welt. Wenige Wochen zuvor hatte Renee ihn verlassen, und so fand er sich damals plötzlich in einer Zwangsgemeinschaft mit Helen wieder, die diese nicht wollte und nicht gewährte. Erst im letzten Frühjahr, als sich die allgemeine Lage etwas entspannt hatte, nahm Carl seine vormittägliche Runde durch die Stadt wieder auf.

Sein erster Weg führte ihn immer in die Drogerie, auch wenn er keine Medikamente holen musste. Er lief zwischen den Gängen entlang, von der Abteilung mit Süßigkeiten zu den Regalen voller Vitaminpräparate, Kopfschmerztabletten und Schlafmittel, dann ging er zu den Zeitschriften und von da aus zur Spielzeugabteilung. Auf einem Drehgestell standen VW-Käfer, Chevrolets, LKWs und Feuerwehrautos in Bonbonfarben, die Stoßstangen altmodisch silbern, die Fenster aus durchsichtigem Plastik. Wenn Carl früher Collin mit in die Drogerie genommen hatte, hatte er ihn bei den Autos abgesetzt und in der Zwischenzeit seine Besorgungen erledigt. Collin hatte die Autos vor sich aufgereiht und sie sehr vorsichtig eins nach dem anderen zurückgezogen, um sie ein oder zwei Meter fahren zu lassen. Carl konnte sich nicht erinnern, dass Lisa das je gemacht hatte – er ahnte, dass er es ihr wohl auch nicht erlaubt hätte. Er war nie so nachsichtig mit seiner Tochter gewesen wie mit seinem Enkel. Vielleicht war das der Grund dafür, dass Collin ein besseres Verhältnis zu ihm hatte als Lisa.

Bei ihrem letzten Spaziergang hatte er Carl gestanden, dass er gern so wäre wie er.

»Wie denn?«, hatte Carl gefragt. »Alt, klapprig und kurz vorm Exitus?«

Collin hatte gelacht und Nein gesagt. Das nicht. Aber erfolgreich in dem, was er tat. Und vor allem: das tuend, was er tun wollte.

»Du warst Kult«, sagte er. »Also, deine Vorlesungen waren Kult.«

»Na ja«, sagte Carl. Er wusste, dass Collin recht hatte, auch wenn er es nicht so ausgedrückt hätte. Fast immer waren bei seinen Vorlesungen die größten Säle bis auf den letzten Platz besetzt gewesen, und zahlreiche Studenten mussten auf der Treppe zwischen den Stuhlreihen sitzen. Er hatte das Unterrichten...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Adoption • Alice Munro • alter weißer Mann • Älter werden • Altsein • Bestsellerautorin • Daniela Krien • DDR • Deutsche Teilung • Die Überlebenden • eBooks • Einsamkeit im Alter • Elizabeth Strout • familienroman der stiftung ravensburger verlag • Flucht • Generationenkonflikt • Generationskonflikt • Geschlechterrollen • Heimat • Heinz Strunk • Herkunft • Judith Hermann • Julia Franck • Kristine Bilkau • Mauerfall • #metoo • metoo • Neue Lebensformen • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • New York • Ostdeutschland • Peter Stamm
ISBN-10 3-641-30337-0 / 3641303370
ISBN-13 978-3-641-30337-2 / 9783641303372
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