Termination Shock (eBook)
1008 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-30085-2 (ISBN)
In einer Welt der nahen Zukunft hat der Treibhauseffekt zu einer wirbelnden Troposphäre mit Superstürmen, Überschwemmungen und gnadenloser Hitze geführt. Der globale Kollaps scheint unausweichlich, der Anstieg des Meeresspiegels ist nicht mehr aufzuhalten. Doch dann stellt ein texanischer Milliardär die Mittel für ein spektakuläres Projekt bereit, das die globale Erwärmung stoppen könnte. Aber wird es funktionieren? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, der über das Schicksal der gesamten Menschheit entscheiden wird. Ein mitreißender, apokalyptischer Roman, erzählt von einem der visionärsten Autoren unserer Zeit.
Neal Stephenson gilt als eines der größten Genies der amerikanischen Gegenwartsliteratur. »Cryptonomicon«, seine Barock-Trilogie sowie »Anathem«, »Error«, »Amalthea« und das mit Nicole Galland verfasste Werk »Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.« sind ebenso wie sein letzter Roman »Corvus« internationale Bestseller. Er lebt in Seattle, Washington.
Pentapotamien
Aufgewachsen war Deep in Richmond, British Columbia. Genauer gesagt auf einer Insel an der Südflanke von Vancouver, die zwischen den zwei Armen des Fraser River eingeklemmt und dazu verurteilt war, vom ansteigenden Wasser der Salish Sea, in die beide mündeten, überflutet zu werden.
In der Grundschule hatte Deep einmal an einer »projektbasierten Lerneinheit« über Lachse teilgenommen, deren Fokus auf der Renaturierung eines nahen Baches lag, der begradigt und durch die Prozesse der Stadtrandentwicklung zum toten Gewässer gemacht worden war. Damals wie jetzt »körperlich aktiv« und »ein kinästhetischer Lerntyp«, hatte Klein Deep sich nie so recht für den Unterricht im Klassenzimmer interessiert. Im Regen mit einer Schaufel zu arbeiten und die Bewegung der Fische zu beobachten, das dagegen hatte ihn lebendig werden lassen.
Im Sommer kamen die Königslachse vom Meer herein und schwammen die Flüsse hinauf, um zu laichen. Das hatte den unbeabsichtigten, für Deeps Eltern jedoch wünschenswerten Nebeneffekt, dass sein Schuljahr sich verlängerte. Seine Familie betrieb Tankstellen. Mit einer einzigen in der Nähe von Chilliwack hatten sie in den Sechzigerjahren angefangen, doch inzwischen waren, durch ein Netz von Verwandtschafts- und Finanzbeziehungen miteinander verbunden, Reißnägel über die ganze Landkarte von British Columbia verteilt. Deep verknüpfte die Reißnägel mit topografischen Karten, auf denen der Verlauf von Flüssen zu sehen war, und beschwatzte seinen Vater, ihn auf Sommerexpeditionen mitzunehmen. Der setzte ihn mit Netz, Angel und Lunchpaket an irgendeinem Fluss ab und fuhr zu einer Tankstelle, in deren Hinterzimmer er mit einem Cousin oder Bruder abhing, während Deep am Flussufer auf und ab wanderte, herausfand, wo die Lachse waren, und sie zu fangen versuchte. An diesem Punkt in ihrem Lebenszyklus taugten sie nicht besonders zum Essen. Doch als er älter wurde und solche Tagestouren sich um Übernachtungen im Freien verlängerten, aß er die Fische trotzdem, gebraten über rauchendem Feuer, das mit feuchtem Holz anzuzünden er sich selbst beigebracht hatte. Auf der Rückfahrt von einem solchen Ausflug verlieh sein Onkel Dharmender ihm den Spitznamen, der dann hängen blieb. In den Geruch von Fisch und Rauch gehüllt, war Deep in Dharmenders Tankstelle gekommen und spontan Lox, also Räucherlachs, genannt worden. In Punjabi wurde das Wort (romanisiert) »Laka« geschrieben, aber ähnlich ausgesprochen, in Hindi »Laks«. Es war ein komischer Spitzname. Aber er brauchte einen, denn in seiner Welt gab es viele Leute mit Namen Deep Singh – in seiner Grundschule allein drei.
Laks’ Vater, ein frommer und liebevoller Mann, erholte sich nie so recht von der Erkenntnis, die ihm kam, als Laks ungefähr zwanzig Jahre alt war, nämlich dass sein Sohn nie eine höhere Bildung als die Highschool genießen würde, die er bereits abgeschlossen hatte. Laks’ Interesse an Fischen würde nicht zu einer Karriere als Wildbiologe führen. Fischer zu sein war eher wahrscheinlich. Er nahm überall an der Küste Ferienjobs auf gewerblichen Fischerbooten an: im Wesentlichen Hilfsarbeit, genau das Richtige für einen kräftigen, energiegeladenen Teenager. Anfangs wurde das als »Geldsparen fürs Studium« verbrämt. Doch Laks hätte keinen brauchbaren Studenten abgegeben. Er war ein außergewöhnlicher Sportler, aber für die Sportarten, in denen er sich besonders hervortat, hätte keine Universität ihm ein Stipendium gewährt: Snowboarden und die als »Gatka« bekannte Kampfkunst.
Vater verbarg seine Enttäuschung gut, aber nicht perfekt. Es war hart für ihn. Er war der Erste in der Familie gewesen, der einen höheren Abschluss erlangt hatte; Großvater hatte ihn zur Schule geschickt, damit er sich die nötigen Fähigkeiten aneignete, um für das Familienunternehmen die Bücher zu führen und gewisse Rechtsangelegenheiten zu regeln. Onkel Dharmender hingegen hatte eine pragmatischere Sicht darauf, wie ein junger Mann wie Laks seinen Weg in der Welt gehen könnte. Ohne allzu abwertend zu erscheinen, wies er darauf hin, dass die Arbeit auf Fischerbooten gefährlich, anstrengend und saisonabhängig war. War es womöglich nur die unterste Sprosse einer Leiter?
Falls ja, befand sich die nächste in Reichweite. Wie die meisten kommerziellen Schiffe bestanden auch Fischkutter aus Stahl oder manchmal Aluminium. Bei Reparatur- und Renovierungsarbeiten mussten Metallplatten mithilfe eines Gasschweißbrenners oder Plasmaschneiders zugeschnitten und dann zusammengeschweißt werden.
Laks lernte also das Schweißen. Onkel Dharmender ermutigte ihn, an Lehrgängen teilzunehmen und die nötigen Bescheinigungen zu erlangen. Als Laks’ Schulkameraden von der Highschool mit ihrem Studium fertig waren und erste Jobs annahmen, verdiente er bereits ordentlich Geld. Während der Saison arbeitete er immer noch auf Fischerbooten, doch im weiteren Jahresverlauf übernahm er Schweißaufträge in ganz British Columbia bis hin zu den Ölsanden von Alberta. Die Bezahlung war gut. Laks hatte keine Darlehen abzuzahlen, keine Familie zu ernähren. Zwischendurch hatte er alle Zeit, die er wollte, um in den Bergen von British Columbia Snowboarden zu gehen und seine Kampfkunst auszuüben.
Eine grundlegende Praxis des Sikhismus war der Betrieb von Langars: Küchen, in denen Menschen jeglicher oder auch gar keiner Religion eine kostenlose Mahlzeit bekommen konnten, wenn sie nur zur festgesetzten Zeit dort erschienen. Ein typischer Langar wurde nach einem festen Plan und aus einem Gurdwara heraus betrieben – ein Begriff, der normalerweise mit »Tempel« oder »Kirche« übersetzt wurde. Hin und wieder errichteten Mitglieder eines Gurdwara allerdings auch einen vorübergehenden Pop-up-Langar am Ort einer Katastrophe oder an irgendeiner anderen Stelle, wo viele Menschen aus irgendeinem Grund Gefahr liefen zu hungern.
In einem Jahr geschah es, dass in Indien viele Menschen hungerten, aber nicht nach Essen, sondern nach Sauerstoff. Eine COVID-Variante fegte über das Land hinweg. Dabei starben viele, die vielleicht überlebt hätten, wenn sie zusätzlichen Sauerstoff zur Verfügung gehabt hätten. Während verzweifelte Familien versuchten, auf jede erdenkliche Weise an Sauerstoffflaschen zu gelangen, hatte sich ein entsprechender Schwarzmarkt etabliert. Manche Gurdwaras hatten Sauerstoff-Langars eingerichtet. Das waren improvisierte, häufig unter freiem Himmel geschaffene Einrichtungen, wo Sauerstoff aus Stahlflaschen – denselben, die in der Schweißbranche Verwendung fanden – in Druckminderer und von dort durch ein System aus Schläuchen zu Masken floss, unter denen schwer atmende Patienten etwas Erleichterung erfahren konnten. Es war nicht der Pflegestandard, wie er auf Intensivstationen herrschte, wo Patienten sediert und intubiert wurden, aber es genügte, um bei Menschen, die nur ein wenig Unterstützung beim Atmen brauchten und die sonst womöglich die Krankenhäuser überschwemmt hätten, einen Unterschied zu bewirken.
Laks’ Vater schickte ihm immer wieder Artikel über diese Sauerstoff-Langars – die teils direkt von Gurdwaras im Raum Vancouver unterstützt wurden. Vater war ein sanfter Mensch, der typische kleine Bruder von jemandem wie Dharmender, der nach Großvaters viel zu frühem Tod praktisch zum Patriarchen geworden war. Das machte es manchmal schwierig zu ergründen, was er sagen wollte. Doch am Ende begriff Laks – mit etwas Nachhilfe von seiner Mutter –, dass ihm gerade die Gelegenheit geboten wurde, nicht nur notleidenden Menschen in Indien zu helfen, sondern auch seinen Vater ein Stück weit damit zu versöhnen, welche Richtung Laks im Leben eingeschlagen hatte. Die Fertigkeiten, die er als Schweißer im Umgang mit Flaschengasen erlangt hatte, konnten in einem dieser Sauerstoff-Langars von direktem Nutzen sein. Er könnte dorthin gehen und Menschen helfen und sich im Zuge dessen wieder mit seinem Glauben verbinden.
Er war nie dezidiert von ihm abgefallen, jedenfalls seiner eigenen Vorstellung nach, aber er hatte sich die Haare abgeschnitten und aufgehört, einen Turban zu tragen. Auf einem Fischerboot hatte sich der richtige Umgang mit Haar und Turban als sehr umständlich erwiesen. Später, als er Schweißer geworden war, hatte er festgestellt, dass Schweißmasken – bei allen guten Eigenschaften, die sie als industrielle Sicherheitsausrüstung haben mochten – eindeutig nicht von Leuten entworfen worden waren, die jeden Morgen einen Turban aufsetzten. Man konnte immer irgendeine Möglichkeit finden, wie es funktionierte, aber noch einfacher war es, den Turban gleich wegzulassen. Und unter jungen Sikhs war Laks keineswegs der Einzige mit westlicher Frisur und Kopfbedeckung. Er wusste jedoch, dass das die Gefühle seines Vaters verletzte. Er hatte versucht, es dadurch wiedergutzumachen, dass er seine eigene kara herstellte – den üblicherweise aus Eisen oder Stahl gefertigten Armreif, den Sikhs traditionell am rechten Handgelenk trugen. Angeblich war er ein Überbleibsel von breiteren Armbändern, mit denen Kämpfer früher ihre Handgelenke vor Schwerthieben geschützt hatten. Darauf würde man beim Anblick der schmalen, eleganten Karas, die von modernen Menschen getragen wurden, nicht kommen. Laks, der Zugang zu einer komplett eingerichteten Schlosserei hatte, entwarf seine eigene Kara, schnitt die Form mit einem Plasmaschneider aus einem zwei Komma sechs Millimeter dicken Blech und bog sie so, dass sie gerade mal um sein Handgelenk passte. Es war schweres Metall, sowohl im wörtlichen Sinn als auch in seiner Ästhetik, die ebenso durch Sword & Sorcery-Videospiele wie durch das Kunstgewerbe des Punjab inspiriert war.
Er wusste, dass seine Eltern die Geste zu...
Erscheint lt. Verlag | 15.11.2023 |
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Übersetzer | Juliane Gräbener-Müller, Tobias Schnettler |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Termination Shock |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Apokalypse • Dystopie • eBooks • extremwetter • Hardcover • Indien • Klima • Klimakrise • Klimawandel • Neuerscheinung • Pageturner • Science-fiction • The Day After Tomorrow • Zukunftsroman |
ISBN-10 | 3-641-30085-1 / 3641300851 |
ISBN-13 | 978-3-641-30085-2 / 9783641300852 |
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