Die blaue Grenze (eBook)

Roman | Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis Fulda 2024
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01709-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die blaue Grenze -  Konstantin Ferstl
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Fidelis Lorentz ist Komponist und verdient sein Brot mit Titelmelodien für Fernsehfilme. Als er einen Anruf von seiner großen Liebe J. erhält, ahnt er, dass sie sich trennen will, und steigt kurzerhand in den Zug. Sein Ziel: Pyeongyang, denn wenn man gegen die Zeit anrennen will, dann nur gen Osten. Während die verschneiten Weiten Sibiriens an ihm vorbeiziehen, reist er gedanklich in die Vergangenheit: zu seinem Urgroßvater, in dessen Fernweh Fidelis sich wiederfindet - ein Träumer aus dem Bayerischen Wald, der als Matrose zur See fuhr und später im Dorfteich ertrank. Zur Großmutter, selbst beim Beten pragmatisch, die nichts von Heiligen hielt und sich immer direkt an die höchste Instanz wandte. Zu ihrem Mann, Berufssoldat in der Wehrmacht, der den Anblick von Waffen nicht ertrug. Sie alle waren tief von der Härte des 20. Jahrhunderts geprägt, und doch rebellierten sie auf ihre Weise gegen die provinzielle Enge und die Erwartungen an sie, behaupteten ihr eigenes Leben. Nach und nach enthüllt sich auch die Gegenwart - und Fidelis' verlorene Liebe zur mysteriösen J. Angekommen in Nordkorea, einem Land wie eine Filmkulisse, das in einer verherrlichten Vergangenheit feststeckt, muss sich Fidelis endlich der Gegenwart und der Zukunft stellen. Konstantin Ferstl erzählt sprachgewaltig, dabei voller Zärtlichkeit und Witz über die Liebe, das Scheitern und das widerspenstige Leben der Menschen auf dem Land. Ein virtuoses Familienepos, eine deutsche Mythologie des 20. Jahrhunderts.

Konstantin Maria Ferstl, geboren 1983 im Altmu?hltal, ist Regisseur, Autor und Musiker. Studium der Regie in Mu?nchen, bereits sein Abschlussfilm «Trans Bavaria» kam ins Kino und wurde mehrfach ausgezeichnet. Die «Su?ddeutsche Zeitung» schrieb: «Eine genial versponnene Rebellenphantasie mit Kultfilmpotenz.» Fu?r «Finis Terrae», einen Essayfilm mit dem Philosophen Alain Badiou, reiste er einmal um die Welt. «Die blaue Grenze» ist sein Debu?troman, fu?r den er das Mu?nchner Literaturstipendium erhielt. Konstantin Ferstl lebt in Mu?nchen, Rom und in der Hallertau.

Konstantin Maria Ferstl, geboren 1983 im Altmühltal, ist Regisseur, Autor und Musiker. Studium der Regie in München, bereits sein Abschlussfilm «Trans Bavaria» kam ins Kino und wurde mehrfach ausgezeichnet. Die «Süddeutsche Zeitung» schrieb: «Eine genial versponnene Rebellenphantasie mit Kultfilmpotenz.» Für «Finis Terrae», einen Essayfilm mit dem Philosophen Alain Badiou, reiste er einmal um die Welt. «Die blaue Grenze» ist sein Debütroman, für den er das Münchner Literaturstipendium erhielt. Konstantin Ferstl lebt in München, Rom und in der Hallertau.

Lektionen in Vergeblichkeit


Der Urgroßvater war Seefahrer, ansonsten sind keine Sentimentalitäten in meiner Familie bekannt. Mit Träumereien durfte man sich nicht aufhalten. Entscheidungen traf man ungern. Die Geschichten, die man sich erzählte, hatten lustig zu sein. Tränen waren etwas für Sportler bei den Olympischen Spielen und Abschied ein Ritual, das man in geübter Beiläufigkeit vermied.

Die Großmutter war pragmatisch, sogar beim Beten. Zuständigkeitsbereiche von Heiligkeit, etwa Antonius von Padua für Verlorenes oder Sankt Blasius von Sebaste für Halsschmerzen, hielt sie für unnötiges Kompetenzwirrwarr. Sie betete nur zur höchsten Instanz, die würde notfalls schon an die Sektionsleiter delegieren, sagte sie. Das sparte Zeit, und die war ohnehin immer knapp, wie auch das Geld. Einzig für Straßenmusiker hatte sie immer eine Münze übrig. Wenn wir an einem vorbeiliefen, drückte sie mir ein Markstück in die Hand, das ich verschämt in Hüte und Instrumentenkoffer fallen lassen durfte. Wobei der traurige Akkordeonist für seine einarmige Diatonik genauso viel bekam wie die Cellistin für ihre Bach-Suite. Wer sieben Söhne großziehen muss, darf keine Unterschiede machen. Schwärmerei verbot man sich seit Generationen, bei der Partnerwahl war die Erbmasse immer größer als die Liebe. Nur ihr Vater wollte aufs Meer.

Der Urgroßvater entstammte einer Gastwirtsfamilie im Bayerischen Wald. Die Bahnhofsrestauration lag am Endpunkt des Streckennetzes der königlich-bayerischen Eisenbahn. Ein Sackbahnhof, der nur existierte, um das geschlagene Holz wegzuschaffen. Die Grobheit von Natur und Manieren hielt Reisende davon ab, dort Station zu machen: Hier lag das östliche Ende des Landes, die grüne Grenze der Monarchien von Habsburg und Wittelsbach. Das Bahnhofsgebäude, eine Fantasie des Generaldirektionsrats Friedrich Bürklein, war viel zu groß für das kleine Tal, und seine byzantinischen Kolonnaden überragten die Häuser des Dorfes bei Weitem. Steinerne Viadukte führten die einspurige Strecke in diesen bewaldeten Hinterhof des Königreichs, nicht so hochtrabend wie ihre alpinen Pendants, alles eine Nummer kleiner, ein missglücktes Zitat in unausgewogenen Proportionen. In welche Himmelsrichtung auch immer die Geschichte über diesen Ort hinweggefegt war, er war immer nur Rand gewesen, zur Peripherie verdammt für alle Zeit.

Der Wirt nannte seinen einzigen Sohn Franz, und weil in diesem Tal immer nur der Hausname etwas galt, hieß er Bahnhofsfranzl. Auch später noch, als er längst zur See fuhr, blieb ihm dieser Beiname wie ein unangenehmer Geruch. Er wuchs zwischen den verrauchten Tischen der Wirtsstube auf, mit der erlernten Härte einer Mutter, die sich vor den betrunkenen Holzknechten keine Zärtlichkeit erlauben durfte. An der Stirnseite des Gastraumes hatte Architekt Bürklein als Hommage an Byzanz ein großes Mosaik angebracht, vor dem der Knabe immer sehnsüchtig stand. Bücher konnte er nicht lesen, Landkarten schon. In ravennatischer Kunstfertigkeit prangte dort das königliche Eisenbahnnetz, das die böhmischen Wälder mit München, Prag und Wien verband. Das Meer kam nicht vor.

Das Dorf war eine Ansammlung geduckter Häuser, die sich um einen kleinen See gruppierten. Die Straße war nicht befestigt, und bei Regen verwandelte sie sich in eine Schlammpiste. Der Bahnhof stand etwas abseits, ein massiger Fremdkörper, dessen Pilaster aus Juramarmor vor dem dampfenden Wald beinah geckenhaft wirkten. Über allem thronte das Kloster, ein konvertiertes Fürstengut, das Mutterhaus der Dominikanerinnen vom heiligsten Herzen Jesu. Nach lebenslangem Dienst in der afrikanischen Mission sandte der Orden seine Schwestern hierhin zum Sterben zurück, von einem Ende der Welt zum anderen. Bisweilen begegnete man den alten Frauen auf dem Weg zum Dorfweiher. Der Saum ihres immer strahlend weiß gestärkten Habits fing allzu leicht den Schmutz der kleinen Straße ein. Die rhodesische Sonne hatte ihre Haut verbrannt und ihr etwas Echsenhaftes verliehen, und wenn der Bahnhofsfranzl in die uralten Gesichter der Frauen sah, der Zeitgenossinnen von Metternich und Marx, glaubte er, in einem Dorf der Hundertjährigen zu leben. Auf seinen Landkarten zeichnete er die Reiseroute der Schwestern über die Meere nach: Triest, der Suezkanal, die Straße von Mosambik, und ein Gefühl ergriff ihn, das man Fernweh nannte.

Ich bin nur ein einziges Mal dort gewesen. Die Enge, die den Bahnhofsfranzl fortgetrieben hatte, konnte ich nicht spüren. Das Kloster war zu einem Heimatmuseum umfunktioniert, im Refektorium standen alte Dreschflegel, zu Exponaten befördert, die kein Eintrittsgeld rechtfertigten. Hierhin ging man nicht einmal mehr zum Sterben – dafür hatte man in der nahen Kreisstadt ein aseptisches Hospiz in Fertigbauweise errichtet, das sämtliche EU-Richtlinien für Gebäudedämmung erfüllte. Der Bahnhof war immer noch viel zu groß für den Ort – statt Holz verlud man hier nun eine Handvoll Fahrradtouristen im Rentenalter, die sonnengegerbte Haut mit aktivatmender Systemkleidung bedeckt. Die Restauration war geschlossen, im Schaukasten hing ein Stück Speisekarte, das einen scheinbar ewigen Genussmonat März bewarb. Ans südliche Ende des Perrons grenzte der ehemalige Garten. Wilder Holler wuchs durch den Zaun, der Wald hatte dieses gewesene Hindernis längst überwunden. Der Boden war übersät mit verdorrten Fichtennadeln, deren bleiches Braun das Terrain markierte wie auf einer Landkarte. Der kaputte Zaun als letztes Zeugnis des Versuchs meiner Familie, diesen Flecken der Natur abzuringen. An jenem Nachmittag war nichts zu hören als der Wind in den Bäumen. Die Sommerhitze stand im Tal, und es roch nach frisch geschlagenem Holz. Als ich später in Mexiko über die ausgetretenen Steine des Kirchenbodens von San Andrés Larráinzar lief, die für eine Zeremonie feierlich mit Fichtennadeln bedeckt waren, glaubte ich, den Duft jenes stillen Tages im Dorf zu riechen, und ich dachte an die gusseiserne Vergeblichkeit des alten Gartenzauns und an den Bahnhofsfranzl aus Thanried am See.

Geografie ist Vorsehung. Seine unbekannte Sehnsucht führte ihn aus den dunklen Wäldern der Šumava ans Meer. Schon immer hatte er von Wellen und Schiffen geträumt, wo nur Bäume waren. Vielleicht wäre er in anderen Zeiten ein Sänger geworden oder Magellan. Aber das Romantischste, was ihm einfiel, war die kaiserliche Kriegsmarine. Schwimmender Stahl im Chinesischen Meer. So band er sein Sehnen nach der Weite an das, was er zu kennen glaubte – wenn auch nur von Sammelbildern aus den Zigarettenschachteln. Eines Morgens bestieg er den Zug und fuhr nach Norden.

Seine Eltern konnten nicht verstehen, was den Bahnhofsfranzl aufs Meer hinauszog. Sie waren beide noch nicht einmal bis München gekommen – die Geometrie der sie umgebenden Waldwege war ihre Welt. Schwärmereien blieben ihnen fremd – ihnen, die gelernt hatten, mit duldsamer Stoa die Tage zu verleben und nicht Glück, sondern höchstens Trost zu suchen: in dem matten Gold der Seitenaltäre, wo die Schutzheiligen der Dörfer auf Postamenten aus marmoriertem Gips standen, bekrönt von fremden Namen in Kirchenlatein. Milde Königin, gedenke. Obendrein hielt die Mutter nicht viel von militärischem Gepränge, schon gar nicht von Preußen. Der überdimensionale, zweigeteilte Rauschebart des kahlköpfigen Admirals Alfred von Tirpitz, den er mit eitler Sorgfalt über die Schärpe um seinen Pour le Mérite wallen ließ, erschien ihr lächerlich. Wie konnte man mit solchen Zotteln überhaupt arbeiten? Schlimmer noch war für sie der bleiche Kaiser. Ihre Bauernschläue schien durch den polierten Brustpanzer zu blicken, und sie sah ein furchtsames Herz. Einem solchen Kerl zu huldigen, ging ihr nicht ein – sie kniete höchstens vor der seligen Zenzl von Kaufbeuren, wenn ein schweres Gewitter bevorstand.

Die Post kam auf jenem einspurigen Gleis in das Tal und brachte die Briefe aus Montevideo und Kiautschou. Die Mutter machte sich keine Mühe, auf der Weltkarte nachzusehen, wo das lag. Wozu auch, wenn ein Ozean dazwischen war? Die Entfernungen konnte sie ohnehin nicht begreifen. Meridiane waren ihr fremd, sie durchmaß die Welt mit den Füßen, Schritte waren das Metrum ihrer Zeit. Dann kam der Krieg. Über dem Tresen hing eine Fotografie des Bahnhofsfranzl, in Kaisers Rock mit Matrosenmütze und mit einer Pfeife im Mund. Seine nachkolorierten Augen blickten über die gedrungene Wirtsstube, als suchten sie ferne Ufer hinter den klobigen Tischen, an denen abends die Holzknechte ihren Lohn vertranken; als wäre der elende Qualm aus ihren Virginia-Stumpen der Nebel der Geschütze im Skagerrak, durch den sein Schiff in den Kampf pflügte. Und während die Admiräle in ihren Rauchsalons unter düsteren Ölgemälden die großen Seeschlachten beschworen, Salamis, Actium, Lepanto, ertranken ihre Seeleute im Nordmeer, und ihre Schiffe sanken auf den Grund.

Mochten die Uniformen noch an nautische Romantik erinnern, die Schlacht vor der Küste Jütlands war nichts als ein brüllendes Inferno in Dieselwolken, nicht viel anders als die Bombardements der in die Erde gegrabenen Stellungen von Flandern und der Champagne. Dem Bahnhofsfranzl brannten die Augen, und er schrie vor Angst. Krieg war nach vierzig Jahren brüchigem Frieden eine verklärte Jugenderinnerung der Alten gewesen, allenfalls aufgefrischt mit dem Blut der Herero in Afrika. Im Generalstab saßen alte Herren mit langen Bärten und guten Tischmanieren, die Veteranen einer fernen Epoche, und rüsteten sich mit modernen todbringenden Maschinen. Sie waren besessen von antiken Gemetzeln und von Hannibal, entwarfen ihre Pläne nach der Literatur: Bei Titus Livius...

Erscheint lt. Verlag 15.8.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bayern • Deutsche Geschichte • Deutschland • Familie • Familienroman • Familiensaga • Fuldaer Literaturpreis • Hallertau • Ideologie • Kommunismus • Landleben • Liebe • Liebeskummer • Literatur • Literaturpreis Fulda 2024 • Moskau • Musik • Nachkriegszeit • Nordkorea • Nostalgie • Pjöngjang • Sibirien • Transsibirische Eisenbahn • Trennung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-644-01709-3 / 3644017093
ISBN-13 978-3-644-01709-2 / 9783644017092
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