Die Leben des Jacob (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023
208 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27784-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Leben des Jacob - Christophe Boltanski
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Über die Kraft sich immer wieder neu zu erfinden – der neue Roman von Christophe Boltanski.
Ein Jahr lang, zwischen 1973 und 1974, lässt sich ein gewisser Jacob B’chiri täglich und in wechselnder Verkleidung in einem Fotoautomaten ablichten. Wozu dienten die geheimnisvollen Aufnahmen?

Christophe Boltanski begibt sich fasziniert auf Jacobs Spur, die von Paris über Rom und Marseille führt, zu den Friedhöfen von Djerba und an die Ränder der israelischen Negev-Wüste. Dabei fördert er eine unglaubliche Biographie zu Tage, in der sich Kriegs- und Exilerfahrung mit künstlerischen Ambitionen vermischen.

Leichthändig und klug setzt er das Leben eines Fremden zu einer Erzählung über Identität, Glauben und die großen Tragödien des 20. Jahrhunderts zusammen.

Christophe Boltanski, 1962 in Paris geboren, arbeitete lange als Journalist und Kriegsreporter bei Libération und Nouvel Observateur und war Chefredakteur der Zeitschrift XXI. Er ist der Sohn des Soziologen Luc Boltanski und ein Neffe des bildenden Künstlers Christian Boltanski. Sein erster Roman Das Versteck (Hanser, 2017) war ein Überraschungserfolg in Frankreich und wurde mit dem Prix Fémina ausgezeichnet.

Eine zu gleichen Teilen fesselnde Spurensuche und philosophische Reflexion über Identität und Zugehörigkeit.

Du gehst auf den Vorhang zu und schaust zwangsläufig darunter hindurch, um dich zu vergewissern, dass dort niemand ist. Der dicke, schwere Faltenstoff erinnert dich sicher an ein Theater. Markiert sein Auf- und Zugehen nicht deinen Auftritt? Mit den Fingerspitzen schiebst du ihn zur Seite und verschwindest dahinter, wie durch Zauberei. Beim Hindurchgehen streift dein Kopf die raue Oberfläche, ihr staubiges schwarzgraues Moiré. Mit einer jähen Bewegung zerrst du ihn wieder zu, so, wie du eine Tür zuknallst. Du betrittst die Bühne lieber unter Ausschluss der Öffentlichkeit und hattest es sicher eilig, aus dem Gedränge herauszukommen. Entlang der Vorhangstange ziehst du eine punktierte Linie, eine zitternde Grenze zwischen dir und den anderen. Das ist deine Art, einen Schritt beiseitezutreten, dich zu vereinzeln. Und auch, deinen Platz zu finden.

Du verlässt deine graue Metro und alles, was damit zusammenhängt, den immer gleichen Alltag voller Routine und Langeweile. Ein einfacher, halbhoher Behang genügt, dich von der Welt abzusondern. Schon bist du inmitten der Menge abgeschieden. Deine Mitmenschen haben kein Gesicht mehr. Sie sind reduziert auf Schritte, auf ein Kommen und Gehen von Schuhen auf dem Asphalt. Sicher magst du dieses Gefühl des Dazwischenseins, gleichzeitig drinnen wie draußen zu sein, dich zu verbergen — und das vor aller Augen.

Die Kabine des Fotoautomaten steht, zwischen Fahrkartenschalter und den Rolltreppen, in der Ecke eines Ganges vor einer gefliesten Wand. Über ihr prangt ein Leuchtschild, man sieht nur sie und doch bemerkt sie niemand. Ihr Standort hat keine große Bedeutung. Sie könnte überall stehen. In einem Wartesaal, einer Postfiliale, einem Kaufhaus. Dein Versteck hat eine Vorliebe für Schatten, zugige Ecken, Unterführungen, zugleich bevölkerte und anonyme Orte, wo Menschen sich begegnen, ohne sich anzusehen. Damit gehört es zum städtischen Mobiliar, genau wie Zeitungskioske oder Litfaßsäulen. Es macht dich froh, überall, wo du hingehst, dieselbe Quaderform, denselben geriffelten Stahlboden, denselben gusseisernen Drehsitz, dasselbe aseptische Ambiente eines Operationssaals anzutreffen.

Du leerst deine Taschen und vergewisserst dich, dass du Kleingeld hast. Du suchst vier 1-Franc-Münzen heraus, denn wir befinden uns am Anfang der 1970er Jahre. In dieser Phase der Umwälzungen scheinst du klare, kantige Dinge zu mögen. Gut geölte Maschinen. Streng getaktete Operationen.

Das grelle Licht der Scheinwerfer lässt dich blinzeln. Schon bist du nicht mehr derselbe. Dein metallenes Gehäuse vermittelt dir einen Anflug von Stabilität. Wie ein Buddha auf seinem Sockel, gleichgültig gegenüber dem dumpfen Trubel der Passanten und dem aus den Tiefen dringenden Quietschen, schenkst du den unter deinen Füßen vibrierenden Zügen keine Aufmerksamkeit. Wo du bist, kann nichts und niemand dich erreichen. Reglos, fast hieratisch, versuchst du, dich zu konzentrieren, wie ein Sportler vor einem wichtigen Wettkampf. Du hast eine Verabredung mit dir selbst.

Trotz der Enge, dem Schmutz, dem Schweißgeruch, den obszönen Graffiti fühlst du dich in diesem für alle offenen Kubus zu Hause. Jedes Mal, wenn du dorthin zurückkehrst, empfindest du eine Art Taumel. Du atmest ein und weitest dich. Das hier ist deine Maschine, um dich zu kopieren. Du kommst allein und gehst in vier Exemplaren. Du ziehst dich von den anderen ab, um dich dir besser hinzuzufügen.

Ist der Schemel zu niedrig? Mit der flachen Hand stellst du ihn höher, während du einen unsichtbaren Punkt irgendwo am Horizont fixierst. Jetzt versuchst du, den Mantel auszuziehen, eine heikle Übung, wenn der Platz nicht einmal reicht, um die Arme auszustrecken. Am Ende einer Reihe eher plumper akrobatischer Verrenkungen kannst du dich endlich setzen und deinem Äußeren wieder einen Anschein von Ordnung verleihen. Du inspizierst deine Gestalt in dem dir gegenüber fixierten Glaskarree und entblößt eine makellose Zahnreihe. Eine Tastatur aus funkelndem Elfenbein, ohne Erhöhung, ohne Dämpfer. Maximal gestreckte Jochbeinmuskeln, gepresste Kiefer, bis zu den Ohren geöffneter Mund. All deine Muskeln leisten ihren Beitrag, um dieses undurchdringliche marmorne Lächeln zu formen, fast bis zur Grabesstarre.

Die Kontraktion deiner Mundwinkel bewirkt, dass die beiden Büsche über deinen Augenhöhlen sich verbinden. Du wirkst angespannt, vor allem ernster als gewöhnlich. Du posierst in Dreiviertelansicht, mit leicht geneigtem Kopf. Deine Erscheinung ist gepflegt. Du trägst ein helles, perfekt gebügeltes Hemd mit englischem Kragen, das sich von deiner matten Haut abhebt, eine klassisch geschnittene Jacke von grauer oder brauner Farbe und eine dazu passende Clubkrawatte. Unmöglich, Genaueres zu sagen. Das Foto, das deinen Besuch bezeugt, ist schwarz-weiß.

Deine kräftige Mähne hast du gebändigt. Nichts steht ab oder kräuselt sich. Oben auf dem Schädel ist dein Haar dichter; nach hinten geklatscht, an den Schläfen gestutzt, verleiht es dir das Aussehen eines Klassenprimus. Sicher kommst du gerade vom Friseur. Deine Haut ist glatt, am Morgen, höchstens am Abend zuvor rasiert. Wie die Spur einer Schnittwunde verschattet ein kreisförmiger Fleck deine Lippe. Die Anspannung deiner Züge offenbart einen leicht vorstehenden Kiefer. Dein großer Mund, die hervortretenden Wangenknochen, die hohe Stirn, das spitze Kinn, das ausdrucksstarke, ein wenig clowneske Gesicht zeigen eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Roberto Benigni. Du bist vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt.

Deine Brille mit großen ovalen Gläsern und dickem Gestell hast du abgenommen. Wie es üblich ist, zeigst du dein Gesicht frei, die Haut unbedeckt, den Blick offen. Du setzt dich schutzlos aus, so entblößt wie möglich, als hinge die Wahrheit deines Wesens davon ab, dabei manifestiert sich genau das Gegenteil. Unsere Appretur macht uns menschlicher, die Mittellosigkeit gleicht uns an.

Wahrscheinlich startest du die erste Etappe einer langen Prozedur, die zur Ausstellung irgendeines Dokuments führt. Das würde deine etwas steife Haltung erklären. Deine Box, die kaum größer ist als ein Sarg, erfüllt die Aufgabe einer öffentlichen Einrichtung. Sie hilft dabei, die Menschen zu kartographieren, sie aktenmäßig zu erfassen, zu laminieren, zu stempeln und in einen Umschlag zu stecken. Fast ist es, als beträtest du das Vorzimmer eines Rathauses oder einer Präfektur. Vor deinem automatischen Schalter zeigst du dich gewiss beeindruckt und verhältst dich mit größter Vorsicht, wie jedes Mal, wenn du einem kalten Ungeheuer entgegentrittst.

Also wirfst du dich in die Brust, hältst die Luft an, spannst die Ringmuskeln, um die Pupillen weit geöffnet zu halten, wenn der Blitz aufflammt. Tastend steckst du die Münzen in den eingefassten Geldeinwurf. Dein ganzer Körper wird starr. Der Apparat produziert vier dumpfe Laute, wie eine Luftblase, die aus der Wasseroberfläche dringt, oder die Schüsse einer Pistole mit Schalldämpfer in einem Film von Michel Audiard. Ein blendender Strahl dringt aus seinem Inneren und erhellt dein Gesicht. Und dann, nichts mehr. Kein Schimmer mehr, kein Geräusch. Noch immer geblendet, verlierst du dein gewandtes Auftreten und sackst zusammen, wie jene alten Komiker, die eine Art Starrsucht überkommt, kaum ist ihre abgenudelte Nummer zu Ende. Du erwachst aus deiner Lethargie und ziehst eilig den Mantel wieder an. Eine letzte Anweisung fordert dich auf, so schnell wie möglich das Feld zu räumen: »Bitte bleiben Sie nicht in der Kabine, damit der Nächste sie benutzen kann«, ist ganz unten auf dem Schild als Epilog zu lesen.

Niemand kommt und trachtet nach deinem Platz. Der Apparat zieht nie viele Menschen an. Du fragst dich manchmal, ob du nicht sein einziger Kunde bist. Die Leute um dich herum wollen so schnell wie möglich an die frische Luft oder in die entgegengesetzte Richtung, was genau dort, wo du dich befindest, einen Stau verursacht. Du wirst zwischen zwei Fahrgastströmen unterschiedlicher Stärke und Dichte hin und her gestoßen. Die ersten drängen im Rhythmus der Züge in Wellen hinaus, während die anderen in kleinerer Zahl, aber kontinuierlich hineinströmen. Ungeduld überkommt dich. Den Blick auf die Uhr geheftet, zählst du die Minuten. Es kommt nicht in Frage, ohne deine Visage auf Zelluloid wieder zu gehen. Du wirst sie nicht als Musterbild an die Wand geklebt oder wie ein benutztes Metroticket auf dem Boden zurücklassen. Du spitzt die Ohren und stellst dir deinen Avatar gefangen in einem gewaltigen Uhrwerk vor, mitgerissen von Zahnrädern, Kurbelstangen und Riemen, wie er Achten zwischen zwei Zylindern beschreibt, als wäre er Charlie Chaplin in Moderne Zeiten. Du wartest auf ein Klicken, das Geräusch einer Feder, das deine Erlösung ankündigt. Und...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2023
Übersetzer Tobias Scheffel
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel LES VIES DE JACOB
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Boltanski • Djerba • Exil • Familie • Flohmarkt • Flucht • Fotoalbum • Fotoautomat • Glaube • Israel • Judentum • Krieg • Marseille • Paris • Photomaton • Vertreibung
ISBN-10 3-446-27784-6 / 3446277846
ISBN-13 978-3-446-27784-7 / 9783446277847
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99