Und sie bewegt sich doch! (eBook)
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01644-6 (ISBN)
Horst Evers, geboren 1967 in der Nähe von Diepholz in Niedersachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin und jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post. Er erhielt unter anderem den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Kleinkunstpreis. Jeden Sonntag ist er auf radioeins zu hören, im WDR regelmäßig mit seiner Sendung «Horst Evers und Freunde». Seine Geschichtenbände und Romane - wie «Der König von Berlin», «Wäre ich du, wu?rde ich mich lieben» oder «Wer alles weiß, hat keine Ahnung» - sind Bestseller. Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin.
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Paperback (Nr. 34/2023) — Platz 18
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- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Paperback (Nr. 27/2023) — Platz 13
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Paperback (Nr. 26/2023) — Platz 15
Mit Geschichten von Horst Evers, Cordula Stratmann, Martin Sonneborn, Lea Streisand, Dietmar Wischmeyer, Helene Bockhorst, Frank Goosen, Matthias Egersdörfer, Kirsten Fuchs, Johann König, Christine Prayon, Stefan Schwarz und vielen mehr.
Planmäßig ist hier nur die Überraschung: Erlebnisse
Horst Evers Der Vorfall
Es gibt eine Zeit vor dem Bandscheibenvorfall und eine Zeit nach dem Bandscheibenvorfall.
Sagt meine Physiotherapeutin. Bis zum Vorfall verbraucht man zumeist sorglos einen an sich üppigen Bandscheibenkredit. Nach dem Vorfall jedoch muss man diesen zurückzahlen. Mit Zinsen. Für den Rest des Lebens. Die Zinsen sind in diesem Falle die täglichen Rückenübungen. Dazu sonstige große Umsicht und gewissenhaftes Körperbewusstsein bei allen Dreh- und Hebebewegungen. Natürlich werde nicht sofort bei jedem kleinen Verstoß wieder unbedingt ein neuer Vorfall ausgelöst. Jedoch habe man nun so etwas wie einen Bandscheiben-Schufa-Eintrag, der eine neuerliche Kreditaufnahme bei der Rückenmuskulatur sehr schwierig mache, wenn nicht gar ausschließe.
Seit meine Physiotherapeutin sich selbstständig gemacht hat und dazu viele lange Gespräche mit ihrem Bankberater führen musste, haben ihre Metaphern gelitten. Finde ich zumindest.
Dennoch hat sie mir irgendwann erlaubt, wieder mit der Bahn auf Tournee zu gehen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass mein Koffer weniger als zehn Kilo wiegt und ich ihn mir immer von anderen Reisenden in den Zug rein- und wieder rausheben lasse.
Seitdem hat sich mein Blick auf fremde Menschen verändert. Im Wesentlichen unterteile ich sie nun in zwei Gruppen: «könnte meinen Koffer tragen» und «könnte meinen Koffer nicht tragen». Wobei es bei der Gruppe «könnte meinen Koffer tragen» natürlich noch weitere Differenzierungen gibt. Beispielsweise in puncto: Wie groß ist das Risiko, dass der- oder diejenige, welche man bittet, mich womöglich in ein Gespräch verwickelt? Es könnte eines von unvorhersehbarer Länge sein. Welches ich dann schlecht ablehnen kann, da der- oder diejenige schließlich meinen Koffer getragen hat. Wahrscheinlich fahren wir ja im selben Zug. Das kann also eine lange gemeinsame Zeit werden. Denn als jemand, der die Bahn sehr mag und viel fährt, weiß ich eben auch: Die Bahn ist sehr viel besser als ihr Ruf. Ganz häufig bekommt man von ihr noch sehr viel mehr Fahrzeit dazu, als einem eigentlich zusteht.
«Bandscheibe!», jubiliert der Mann, den ich am Berliner Hauptbahnhof nach langem Abwägen endlich angesprochen hatte. «Das ist keine schöne Sache!»
Beherzt greift er sich meinen Koffer. Schon an der Art, wie er dies tut, erkenne ich, dass meine Wahl keine weise war. Er würde mein Gepäck wohl erst wieder loslassen, wenn er alles gesagt hätte, was ihm zum Thema Bandscheibe sowie auch zu allen anderen mehr oder weniger verwandten Belangen durch den Kopf ging. Dabei spricht er jeden einzelnen Satz wie einen Triumph: «Aber machen Sie sich mal keine Gedanken! So einen Vorfall! Den haben ja heutzutage oft auch schon Junge! Gesunde! Ganz fitte Menschen!» Womit er mich offensichtlich trösten will. Also mit der Aufzählung von Beschreibungen, die seines Erachtens auf mich wohl nicht mehr zutreffen. «Auch ganz normale Menschen haben das! Ich habe einen Kollegen!», begeistert er sich weiter selbst. «Der ist bestimmt zehn Jahre jünger als Sie! Macht jeden Tag Sport! Und hatte schon drei Bandscheibenvorfälle! Ist einfach so! Da steckt man nicht drin!»
Der Rhythmus seiner Sprache fasziniert mich. Ein Leben in Ausrufezeichen. Warum eigentlich nicht? Die gefühlte Lebensqualität erhöht es wahrscheinlich schon. Werden doch so vermutlich selbst die profansten Dinge und Neuigkeiten zum Ereignis:
«Oh! Frühstück! Wie schön! Ich habe Hunger! Das trifft sich gut! Vielleicht ein Ei! Ja! Ein Ei! Das esse ich doch häufig gern! Das schmeckt mir! Mmmh! Lecker! Das muss ich später meinem Kollegen erzählen! Auf Arbeit! Ich habe einen Kollegen! Der wird staunen! Wenn ich! Ihm von meinem Ei! Erzähle!»
Fühlt sich toll an. Je mehr ich über diese Art des Redens nachdenke, desto besser gefällt sie mir. Womöglich probiere ich das demnächst auch mal aus.
Meinen Koffer jedoch trägt und verstaut der Mann wirklich souverän. Er findet für ihn sogar einen ebenerdigen Gepäckplatz im Waggon. Wodurch ich ihn später ohne fremde Hilfe wieder greifen kann. Das passt mir. Allerdings stellt sich auch heraus, dass wir tatsächlich Plätze am selben Tisch reserviert haben. Genau gegenüber. Er freut sich.
«Oh! Wie schön! Wir sitzen zusammen! So ein Glück! Warten Sie! Dann kann ich Ihnen gleich mal Fotos zeigen! Von meinem Kollegen! Der sieht Ihnen sogar ein bisschen ähnlich!»
Schaue mir, warum auch immer, die Fotos seines Kollegen an. Denke spontan: wie, «ähnlich»? Also wenn das «ähnlich» ist, möchte ich aber anders aussehen. Was denkt der sich eigentlich? Das ist nun wirklich nicht das «ähnlich», das ich mir für mein Gesicht vorgestellt habe. Sage aber nichts, sondern lächle nur kommunikativ.
Dem Mann reicht das als Gespräch. Er redet munter weiter: «Sieht man jetzt natürlich nicht! Also die Bandscheibenvorfälle! Auf den Fotos! Da sieht man sie nicht! Obwohl! Wenn man genau guckt! Nee! Ich glaub nicht!»
Während er sein Handy offen vor uns hinlegt und auf den Fotos nach Indizien für die Bandscheibenvorfälle sucht, schaue ich zur Seite. Die junge Frau neben mir guckt eine Serie. Offensichtlich «Better Call Saul». Trotzdem scheint mir die Handlung fremd. Oh Gott, das ist die letzte Staffel. Die habe ich noch nicht gesehen. Die haben wir uns aufgehoben, um sie mit der ganzen Familie zusammen vor Weihnachten zu schauen. Wie soll ich es denn schaffen, bis Frankfurt nie zur Seite auf ihren Bildschirm zu blicken? Das geht doch gar nicht. Zumal der Mann vor uns jeden Blick nach vorne, zu ihm, als Gesprächsangebot wertet. Wie jetzt auch.
«Ja! Man sieht sie nicht! Die Bandscheibenvorfälle! Auf den Fotos! Schade! Aber ich mache mal ein Foto von Ihnen! Und schick das meinem Kollegen! Der wird auch staunen! Wie ähnlich Sie sich sehen!»
Bin zu perplex, um zu protestieren. Er tippt noch eine längere Nachricht, ehe er das Foto abschickt. Dann legt er das Handy zurück, offen auf den Tisch, und verabschiedet sich zur Toilette. Ich nutze die Pause, um die junge Frau neben mir anzusprechen. Etwas unwillig stoppt sie die Serie und nimmt einen Kopfhörer raus, um mich besser verstehen zu können. Dann ist sie aber sehr nett. Ich erkläre ihr meine «Better Call Saul»-Problematik. Sie hat Verständnis, aber keine Lust, was anderes zu gucken. Schlägt stattdessen vor: «Wollen Sie sich nicht lieber weiter auf die vielen Fotos konzentrieren, die Ihr Freund von Ihnen gemacht hat?»
Ich bin verwirrt. Dann kapiere ich. «Oh, das ist nicht mein Freund. Und das auf den Fotos bin auch nicht ich, sondern ein Kollege von ihm.»
«Echt? Boah, Sie sehen dem aber total ähnlich, was?»
Sie schaut noch mal genauer auf das letzte Foto des Kollegen, das noch auf dem Handydisplay leuchtet. «Sagen Sie, kann das sein, dass der kürzlich einen oder mehrere Bandscheibenvorfälle hatte?»
«Ach. Woran sehen Sie das denn?»
«Ich bin Physiotherapeutin.»
«Ist das eine Begründung?»
«Nein, ein Beruf.»
Lächelnd steckt sie den Kopfhörer wieder ins Ohr und lässt ihre Folge weiterlaufen. Bevor ich beleidigt sein kann, antwortet der Kollege. Auf dem Sperrbildschirm erscheint seine Antwort:
«Hallo Jörg, dolle Geschichte mit dem Bandscheibenmann! Obwohl ich echt nicht finde, dass wir uns irgendwie ähnlich sehen. Aber egal. Ich schicke dir gleich mal eine Reihe von richtig guten Übungen nach so einem Vorfall. Kannste ihm ja vielleicht alle mal zeigen und mit ihm durchsprechen. Habt ihr was zu tun auf der langen Zugfahrt!»
Mir bricht der kalte Schweiß aus. Schaue entsetzt zur Seite und sehe, wie eine der Hauptpersonen aus der Serie stirbt. Gerate in Panik. Als der Mann zurückkommt, springe ich auf. Höre mich zu meiner eigenen Überraschung sagen: «Sooo, gleich Wolfsburg. Da muss ich dann ja raus!»
Er ist mindestens so verblüfft wie ich über meinen Satz: «Wolfsburg! Hatten Sie nicht Frankfurt gesagt! Ursprünglich!»
«Hatte ich? Ach, Wolfsburg, Frankfurt … Wo ist da der Unterschied? Zeigen Sie mir einen Menschen auf der Welt, der diese beiden Städte nicht ständig verwechselt!»
«Na, ich zum Beispiel!»
«Echt? Das freut mich. Die junge Frau hier ist übrigens Physiotherapeutin. Nur falls Sie mit ihr über die Bandscheibenvorfälle Ihres Kollegen sprechen wollen.»
Mit diesen Worten laufe ich zu meinem Rollkoffer, und schon mache ich mich damit vom Acker. Ich muss einfach nur vier, fünf Waggons zwischen uns bringen, mir dort einen freien Platz und dann in Frankfurt jemand anderes suchen, der meinen Koffer aus dem Zug hebt. Das sollte ja wohl nicht so schwierig sein.
Als der Zug in Wolfsburg einrollt, bin ich noch auf dem Weg, aber ich beschließe, an einer Tür zu warten. Um dort, wenn die geöffnet ist, kurz draußen, ohne Maske, ein paar tiefe Züge frischer Luft zu nehmen. Doch dann geschieht es.
Während die Tür sich öffnet, erblicke ich auf dem Bahnsteig eine sehr feine, aber doch auch schon etwas gebrechliche ältere Dame. Sie strahlt mich an. Ruft:
«Oh, thank god! Would you please help me with my luggage?»
Freudig und erwartungsvoll zeigt sie auf ihren erstaunlich großen Koffer. Bin starr vor Schreck. Kriege nichts anderes raus als: «No!»
Sie wirkt ungläubig. Ruft:...
Erscheint lt. Verlag | 13.6.2023 |
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Co-Autor | Helene Bockhorst, Matthias Egersdörfer, Kirsten Fuchs, Oliver Maria Schmitt, Lea Streisand, Jörg Thadeusz, Renate Bergmann, Paula Irmschler, Johann König, Christine Prayon, Fil, Barbara Ruscher, Stefan Schwarz, LISA CATENA, Katrin Seddig, Bernd Eilert, Steffen Kopetzky, Dennis Gastmann, Hans Zippert, Juan Moreno |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Comic / Humor / Manga ► Humor / Satire |
Schlagworte | Bahn • Bahnhof • Begegnungen • Bekanntschaften • Bordrestaurant • Bordtoilette • Christine Prayon • Deutsche Bahn • Fahrkarte • Fahrplan • Flirt • Gepäck • Geschenkbuch • Geschenk für Freund • Geschenk für Vater • Gleis • ICE • Kurzgeschichten • lustiges Buch • Lustiges Buch für Erwachsene • planmäßige Abfahrt und Ankunft • Regionalbahn • Regionalexpress • Schaffner • Smalltalk • umsteigen • Umsteigezeit • Verspätung • Witziges Buch • Zugpersonal |
ISBN-10 | 3-644-01644-5 / 3644016445 |
ISBN-13 | 978-3-644-01644-6 / 9783644016446 |
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