Polnischer Abgang (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
240 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8067-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Polnischer Abgang -  Mariusz Hoffmann
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein tragikomischer Familien-Roadtrip auf den Spuren der verschollenen Großmutter Salesche, ein Dorf in Polen 1990: Jarek und seine Eltern packen ihre Sachen. Sie wollen nach Deutschland aussiedeln, so wie Oma Agnieszka, die acht Jahre zuvor die Flucht angetreten hatte. Doch wovor war sie wirklich geflohen? Niemand will es dem 14-Jährigen sagen. Als Jarek ins Schlepperauto steigt, das sie von Schlesien über die Grenze bringen soll, weiß er nur eins genau: Er wird nicht zurückkehren. Im sich wiedervereinigenden Deutschland, sagt man ihm, warte ein besseres Leben. Doch statt zu Agnieszka nach Hannover zu fahren, geht es für die Sobotas schnurstracks in die Aussiedlerlandestelle Hamm, um dort ihre Anträge zu stellen. Und auch nachdem sie die Aufnahmebestätigung in Deutschland erhalten, rückt das Wiedersehen mit der Großmutter in immer weitere Ferne. Jarek beginnt, dem Schweigen seiner Eltern zu misstrauen, bis sich am ersten Weihnachtsabend im »gelobten Land« die Teile des Familienpuzzles plötzlich folgenreich ineinanderfügen. »Eine warmherzige, humorvolle Geschichte, die in einem Roadtrip von Oberschlesien bis nach Deutschland führt und die - frei von Kitsch und in einer poetischen Sprache - mit liebenswerten Figuren vom Suchen und Ankommen erzählt.«?Pierre Jarawan 

Mariusz Hoffmann wurde 1986 in Polen geboren. Er studierte Philosophie in Hamburg und Literarisches Schreiben in Hildesheim, wo er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift BELLA triste war. Beim 25. Open Mike wurde er in der Kategorie Prosa ausgezeichnet. 2019 war er Teilnehmer der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung, 2020 Stipendiat im Künstlerhaus Lukas, Ahrenshoop. 2021 folgte ein Residenzstipendium des Goethe-Instituts in Broumov, Tschechien. 2022 erhielt er das Arbeitsstipendium für deutschsprachige Literatur des Berliner Senats und 2023 das Alfred-Döblin-Stipendium.

Mariusz Hoffmann wurde 1986 in Polen geboren. Er studierte Philosophie in Hamburg und Literarisches Schreiben in Hildesheim, wo er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift BELLA triste war. Beim 25. Open Mike wurde er in der Kategorie Prosa ausgezeichnet. 2019 war er Teilnehmer der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung, 2020 Stipendiat im Künstlerhaus Lukas, Ahrenshoop. 2021 folgte ein Residenzstipendium des Goethe-Instituts in Broumov, Tschechien.

KAPITEL 1


In den letzten Tagen hatten ungewöhnlich viele Autos in Salesche gehalten. Ganze drei. Zugegeben, das klingt nach wenig, es ist aber weiß Gott nicht so, als hätte es bei uns keinen Verkehr gegeben. Es rollten sogar eine Menge Autos durch unser Dorf, nur hielt kaum eins an.

Andrzej und ich saßen unter einem Ahornbaum an der Landstraße. Hinter uns die vier Wohnblocks der kleinen Landarbeitersiedlung und vor jedem Haus ein Stück Wiese und dazwischen Schotterwege, auf denen die Wagen von außerhalb parken würden. Weinbrandfarbenes Morgenlicht strahlte, während eine breit gezogene Parade aus Mähdreschern über die Luzernenfelder dröhnte. Wir verbrachten den Vormittag damit, dem Bataillon aus grünen, gelben und roten Maschinen zuzusehen, wie es in wenigen Stunden unsere Umgebung niedermähte. Normalerweise hätten wir in den kommenden Tagen den PGR-Landarbeitern geholfen, das Heu einzuholen, um es mit Kartoffelresten zu durchmischen und an die Schweine und Kühe zu verfüttern.

Als Erstes tauchte ein weißer Punkt am Horizont auf. Er schwebte über die Landstraße, wurde größer, dann langsamer und bog schließlich ein auf den Platz vor den Blocks. Hier war der weiße Punkt zu einem VW Jetta geworden. Schwarze Buchstaben auf weißem Blech – ein deutsches Auto. Und als ob das nicht schon erstaunlich genug wäre, wurde die Fahrertür geöffnet, und ein Kerl postierte sich neben den Wagen. Nagelneue Turnschuhe, eng sitzende Jeanshose und eine Jeansjacke, die nicht mal halb um seinen Bauch reichte, an der zur Ablenkung aber Fransen von den Unterarmen hingen. Stolz wie ein Pfau stemmte der Kerl die Fäuste in die Hüften.

Stachu Ogonek war zurückgekehrt.

»Unglaublich«, sagte Andrzej.

Dann wurde die Beifahrertür aufgestoßen. Irenka mit dunkelblau schimmernder Dauerwelle stieg aus. Uns hielt nichts mehr, wir sprinteten über die Landstraße und den Hügel hinunter. Irenka schlang beide Arme um uns, knutschte unsere Wangen ab und drückte dabei die Rüschen ihres Oberteils in unsere Gesichter. »Oh, wie schön, euch wiederzusehen!«

Stachu bewegte zur Begrüßung nur kurz das Kinn auf und ab.

Als Nächstes kamen die Ogonek-Schwestern auf den Platz gelaufen. Daria Ogonek trug ein langes Kleid, in dem sie aussah wie eine Heiligenfigur. Ola Ogonek erschien dagegen mit über den Knien abgeschnittenen Leggings und einem LZS-Sokół-Salesche-Trikot, das die alte Rückennummer ihres Bruders trug. Olas lange, dunkelblonde Haare kräuselten sich an den Schläfen, und sie versuchte, sie mit den Kopfhörern ihres Walkmans platt zu drücken. Was sie nur noch hübscher machte.

Andrzej hatte für keine der Ogonek-Schwestern etwas übrig. Er stand am Heck des Autos, schaute nachdenklich drein und schnüffelte den Abgasen nach. »Ganz klar, höhere Oktanzahl.«

Auf der Rückbank des Jetta hätten es sich drei Leute gemütlich machen können, aber dass wir einstiegen, hätte weder der alte noch der neue Stachu zugelassen. Also hielten wir die Hände schirmartig vor die Stirn und glotzten durchs Seitenfenster. Andrzej erklärte mir aufgeregt, was es womit auf sich hatte. Da gab es das Radio mit Kassettendeck, die Tachoanzeige bis 220 km/h, den zweiten Seitenspiegel … Um ehrlich zu sein, interessierten mich Autos nicht sonderlich. Welches Fabrikat oder wie schnell so eine Kiste fuhr und ob du darin Kassetten oder nur den Fahrtwind hören konntest, war mir egal. Es hätte auch ein Fuhrwerk vor uns stehen können. Viel wichtiger war mir, wo das Gefährt herkam.

»Unglaublich«, fasste Andrzej kopfschüttelnd zusammen. »In Deutschland kann sich sogar ein Debiler so ein Auto leisten.«

Und dann stakste auch noch Ogonek senior – Stachus, Olas und Darias Vater – gemächlich auf uns zu. Mit Daumen und Zeigefinger strich er sich die dickste Oberlippenbürste von Salesche glatt. Der alte Ogon, wie wir ihn heimlich nannten, hatte kantige Arme und einen breiten Brustkorb, den Teint eines durchgesessenen Ledersofas und ansonsten nur zwei, drei Gesichtsausdrücke zu bieten, die unter den dicken, schwarzen Schnurrbartborsten allerdings schwer voneinander zu unterscheiden waren. Er hortete ein üppiges Weinfass im Keller und unzählige leere Flaschen in seiner Werkstatt. Vor allem aber besaß er die Autorität, kleine Dorfköter wie Andrzej und mich mühelos zu verscheuchen.

Nach der Mittagszeit war Stachus Jetta schon wieder verschwunden, dafür lenkte Herr Paweł seinen Wagen auf die Wiese vor unseren Block. Alle paar Wochen klapperte Herr Paweł die Dörfer der Region ab. Sobald das typische Gedudel aus seinem Lautsprecher ertönte, strömten die Bewohner heran und formten eine Schlange bis zur Müllkippe. Auf seiner Motorhaube breitete er ein Tischtuch aus und drapierte darauf auswärtiges Waschmittel, Kaffeebüchsen und Unmengen an Schokolade, Weingummis, sauren Drops und diesen bunten Kaugummikugeln, die in lange, goldene Streifen eingeschweißt waren. Wie jedes Mal kaufte ich die Kugeln. Dann half ich Andrzej, einen großen Karton Waschpulver ins oberste Stockwerk zu schleppen.

Zurück an der frischen Luft, verschwanden wir auf der Rückseite der Häuser und duckten uns unter den Balkonen entlang. Am PGR-Gelände, das direkt an die Siedlung anschloss, bogen wir ab. Wir zogen das dicke Brett aus den Sträuchern, keilten es zwischen Fabrikmauer und Lehmboden und konnten so aufs Vordach der stillgelegten Schnapsfabrik klettern und von dort über eine Leiter auf das richtige Dach. In Kommune-Zeiten hatte Opa Edmund in der Schnapsfabrik gebrannt. Wegen des alten Gauners hatte meine Familie immer etwas Spiritus im Haus gehabt. Mittlerweile aber war alles Nützliche aus der Fabrikhalle entfernt worden. Außer Klebstoffschnüfflern verirrte sich niemand mehr dorthin.

Auf dem Fabrikdach hatten wir einen Topf mit Aroniabeeren deponiert. Einige Tage zuvor hatten wir sie zerstampft und mit Zucker eingedeckt, um daraus köstlichen Sirup zu gewinnen. Jetzt rührten wir Selbstgebrannten in den Sirup, wie ich es mir von Opa Edmund abgeschaut hatte.

»B-R-D?« Andrzej ließ ein Backsteinbröckchen auf der Handfläche hüpfen. »Oder D-D-R? Wie heißt das Reich jetzt eigentlich?«

»Deutschland«, sagte ich.

Er schaute mich an.

»Einfach Deutschland, denke ich.«

»Und dann wohnst du in Hannover?«

Meine Eltern hatten die klare Absicht, Polen für immer den Rücken zu kehren. Offiziell behaupteten wir aber nur, meine seit Jahren in Deutschland lebende Oma Agnieszka zu besuchen. Meine Eltern hatten mir eingebläut, unser wahres Ziel keinesfalls preiszugeben. Aber Andrzej war mein bester Freund, und neben all den Dingen, die er besser konnte als ich, konnte er vor allem eins: die Klappe halten, wenn’s darauf ankam.

»So steht es in Omas Einladung«, sagte ich. »Aber wir fahren direkt ins Lager Friedland.«

»Die will wohl was wiedergutmachen«, sagte Andrzej.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Na, sie hat ihren Sohn verraten. Deinen Vater. So was verjährt nicht.«

»Sie hat –«, sagte ich, aber Andrzej war schneller.

»Die meisten holt irgendwann das schlechte Gewissen ein. Schuldgefühle, uralte christliche Tradition. Du weißt schon.«

»Ich glaube ihr. Nach wie vor«, sagte ich. »Oma hat ihre Arbeit immer sehr ernst genommen.«

»Hast du den Brief mit ihrer Einladung denn selbst gelesen?«

»Wieso?«

»Vielleicht hat deine Oma ja eine Beichte mitgeschickt!«

»Sie hat Vater damals nicht in die Scheiße geritten, das stimmt einfach nicht.«

Andrzej schleuderte den abgebrochenen Backstein in den Teich hinter der Fabrik. Das Geschoss flog so weit, dass ich erst wieder das Aufkommen auf der Wasseroberfläche sehen konnte. Er senkte den Blick, seine Augenringe traten noch stärker hervor.

»Kennst du das Märchen von der Schlange?«, fragte er.

Mir war kein Märchen mit Schlange geläufig. Nur das von Adam und Eva, aber es wäre zu dumm, danach zu fragen, dachte ich, denn das kannte nun wirklich jedes Kind auswendig.

Während ich überlegte, verflog Andrzejs düsterer Blick, er trank aus dem Topf, grinste wieder und boxte gegen meinen Oberarm. »Sieh dich doch mal um. Den Siff hier musst du nie wieder ertragen. Freu dich gefälligst, Sobota!«

Andrzej war der Einzige, der mich mit...

Erscheint lt. Verlag 30.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aussiedler • Aussiedlergeschichte • Coming of Age • Deutschland-Polen • Ein Roman über das Ankommen • Familiengeheimnis • Generationenkonflikt • Generationenroman • Humor Bücher • junger Erzähler • literarische entdeckung • Nachwendezeit • Polen • Roadnovel • Roadtrip • Wendezeit • Witz
ISBN-10 3-8270-8067-3 / 3827080673
ISBN-13 978-3-8270-8067-7 / 9783827080677
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 7,6 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99

von Martin Suter

eBook Download (2023)
Diogenes (Verlag)
22,99