Platz der Freiheit (eBook)

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2023 | 1. Auflage
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01618-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Platz der Freiheit -  Jonathan Garfinkel
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Die junge Georgierin Tamar wird im Westen als Künstlerin bekannt. Es sind die nuller Jahre, der Osten scheint sich einer grenzenlosen Freiheit zu öffnen. Da stirbt Tamars Mentorin Rachel Grabinsky, die sie nach Kanada holte. Tamar stößt auf unerwartete Spuren, die sie zurück nach Georgien und tief in die Vergangenheit führen. Wer war Rachel, die rastlose Demokratie-Aktivistin, wirklich? Und was ist mit jenem Gary Ruckler aus ihrer Vergangenheit, von dem Geheimdienstberichte erzählen: Der Amerikaner kam 1974 als Student nach Moskau, fand Freunde, unter ihnen der charismatische Aslan, der insgeheim über Stalins Verbrechen schrieb. Und dann so spurlos verschwand wie Gary. Tamar und Rachels Sohn Joseph beginnen in Tiflis eine gefährliche Suche. Während gegen die Verzweiflung über russische Bomben Charlie Parker ertönt, stoßen die beiden auf Rätsel ihrer Herkunft, brüchige Identitäten und ein Gespinst aus Verrat, Liebe und Rache - die weltpolitischen Beben der Neunziger wirken in jedes Leben hinein. Niemand bleibt von der Geschichte unberührt. Ein atemberaubender Roman, schnell, mit Tiefe und dunklem Humor erzählt, der die Balance hält zwischen dramatischer Familiengeschichte und politischem Thriller.

Jonathan Garfinkel, geboren 1973 in Toronto, arbeitete als Kellner und Tischler. 2021 erschien sein autobiographischer Band «Gelobtes Haus» über eine Reise nach Israel. International bekannt wurde Garfinkel als Dramatiker; er arbeitete in Georgien, auch in Deutschland fanden seine Stücke, etwa «Die Demjanjuk-Prozesse», viel Beachtung. Garfinkel lebt in Berlin und erhielt unter anderem ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude. «Platz der Freiheit» ist sein erster Roman.

Jonathan Garfinkel, geboren 1973 in Toronto, arbeitete als Kellner und Tischler. 2021 erschien sein autobiographischer Band «Gelobtes Haus» über eine Reise nach Israel. International bekannt wurde Garfinkel als Dramatiker; er arbeitete in Georgien, auch in Deutschland fanden seine Stücke, etwa «Die Demjanjuk-Prozesse», viel Beachtung. Garfinkel lebt in Berlin und erhielt unter anderem ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude. «Platz der Freiheit» ist sein erster Roman.

Eins


Moskau, UdSSR
3.–5. September 1974

Alles begann mit einer Jeansjacke von Wrangler.

«Hallo, ich bin Aslan. Schön, dich kennenzulernen, tipptopper, supermoderner Amerikaner. Darf ich mich in deinem Zimmer umschauen?»

Aslan trat ein, bevor ich reagieren konnte.

«Äh … hallo, Aslan. Ich bin Gary.»

Aslan taxierte den Raum, wie ein Sommelier einen erlesenen Wein kostet. Er nahm meinen Bleistift in die Hand, ein Notizbuch, eine Sonnenbrille. Anschließend bemaß er die Qualität der Einrichtung. Diese entsprach der Ära der Polyestervorhänge; ein Resopaltisch und ein durchgelegenes Einzelbett, mutmaßliches Verhängnis meines Rückens, waren die einzigen Möbel.

«Edel», sagte Aslan. Schwer zu sagen, ob er es ernst meinte oder mich veralbern wollte. Er steuerte schnurstracks auf meine zwei Koffer zu und entleerte sie auf den Fußboden.

«Wir sind beinahe Nachbarn. Ich lebe im sowjetischen Teil des Wohnheims. Dein Bereich ist sehr international und luxuriös. Ein kuscheliges, bourgeoises Zuheim», sagte Aslan, während er sich durch meine Klamotten wühlte. Anschließend richtete er sich auf und zeigte auf meine Jeansjacke. «Du trägst Wrangler, sehe ich, bester Denim, den die Menschheit kennt.»

«Ich habe die Jacke von meiner Mutter bekommen, bevor ich aus Amerika abgeflogen bin.»

«Man nennt mich auch ‹Midnight Wrangler›.»

«Aha?»

«Ich liebe deine Mutter, und ich liebe Wrangler, aber Jeans mit Nieten habe ich noch nie getragen. Darf ich mal?»

Ohne eine Antwort abzuwarten, zerrte Aslan die Jacke von meinen Schultern. Wie sich zeigte, war sie zwei Nummern zu groß für ihn und wirkte angesichts seiner drahtigen Gestalt, seines schwarzen Bleistiftbartes und des Led-Zeppelin-Houses-of-the-Holy-T-Shirts ziemlich grotesk.

«Das nennt man Perfektion», verkündete er.

«Steht dir», sagte ich.

«Darf ich sie behalten, mein gütiger amerikanischer Freund? Ich bezahle gutes Geld, keine Sorge. Ich weiß, alles hat seinen Preis.»

Ich wollte sie eigentlich nicht weggeben – immerhin war sie ein Abschiedsgeschenk meiner Mutter –, glaubte aber, die Bitte nicht abschlagen zu dürfen. Ich hatte den eigenartigen, vielleicht auch abergläubischen Gedanken, Aslan könnte mir helfen, ein besserer Schriftsteller zu werden, wenn ich einwilligte. Wie er gesagt hatte: Alles hat seinen Preis.

Aslan drückte mir ein Bündel Rubel in die Hand. «Bitte, ich würde gern die komplette Ware begutachten – neben dem Studium operiere ich auf dem Schwarzmarkt.»

Zu Hause hatte man gemahnt, ich würde auffallen. Man hatte gemahnt, sie würden mir Sachen abluchsen wollen. In meinen Augen absurde Gedanken, zumal ich auf mein Erscheinungsbild wenig Wert legte. Und doch unterzog dieser schräge, wenn auch sympathische Typ mein Leben an meinem ersten Nachmittag in Moskau einer monetären Taxierung. Während ich über seine Bitte nachdachte, sortierte er meine Klamotten: Ein Stapel hieß «ja», der andere «nein». Aslan bezifferte den jeweiligen Preis und unterstrich ihn, indem er den Zeigefinger reckte.

2 Jeans, Marke Wrangler = 150 Rubel!

1 grüner Wollpullover, Woolworth = 180 Rubel!

6 weiße Unterhosen, Marke Jockey = 180 Rubel!

4 weiße Unterhemden, Marke Jockey = 80 Rubel!

12 Bic-Kugelschreiber, blaue Mine = 120 Rubel!

5 Notizbücher, Marke Hilroy = 40 Rubel!

«Die Sachen würde ich dir gern abkaufen», sagte er.

«Das sind all meine Klamotten.»

«Schön. Du bist eine harte Schale.» Er schnappte sich eine Jeans und zwei Unterhosen. «Wie viel?»

«Die Sachen sind nicht zu verkaufen.»

«Zweihundert Rubel.»

«Und was soll ich mit zweihundert Rubel?»

«Zeug kaufen. Viel Zeugs.»

«Könnten wir später darüber reden? Nachdem ich meine Sachen ausgepackt habe?»

Aslan schaute mürrisch drein. Da bemerkte er die Kiste auf dem Fußboden, deren Deckel leicht verrutscht war.

«Heilige Scheiße. Du hast Original-Schallplatten.»

Zwecks Linderung möglichen Heimwehs hatte ich meine Jazz-LP-Sammlung mitgebracht, penibel alphabetisch sortiert, dazu meinen Yamaha-YP-800-Plattenspieler und einige Lieblingsbücher. Das, so glaubte ich, sei alles, was ich bräuchte.

«Ich lebe für den Jazz», sagte ich. «Ich liebe ihn, meine ich.»

«Ich auch, mein neuer amerikanischer Freund. Charlie Parker ist mein Daddy-O Nummer eins. Ein Ornithologe der menschlichen Seele. Backst du auch Melodien?»

«Ich improvisiere ganz gern. Meine Trompete habe ich aber nicht dabei. Spielst du?»

«Ständig. Ich bin Moskaus Top-Improvisation.» Er legte mir einen Arm um die Schultern. «Du bist ein netter Kerl, Gary.» Er küsste mich auf beide Wangen. «Beim nächsten Mal hören wir Jazz-LPs in den Dormitorien illustrer US-Diplomaten. Wir trinken Wodka und horchen Musik und tun so, als wären wir sauglücklich. Dann sind wir Jünger von Charlie Parker, der Verkörperung amerikanischer Seelenpein.»

 

Ich hatte jede Menge Jazz-LPs mitgebracht (zu Aslans heller Begeisterung), war aber in Moskau, um meinem literarischen Idol nachzueifern, Michail Lermontow, Autor von Ein Held unserer Zeit. Ein Roman, der seiner Zeit voraus gewesen war, und ein Buch, das mich auf jeder Seite in den Bann schlug. Lermontow hatte an der Moskauer Universität studiert, wenn auch vor hundertfünfzig Jahren. Andererseits: Was zählen anderthalb Jahrhunderte in den ewigen Ruhmeshallen der Literatur? Dichtung existiert in einem Bereich außerhalb der Zeit. (Wie ich in meiner Bewerbung schrieb.)

Nach einem rigorosen Befragungsmarathon in New York City, der ergab, dass meine politische Haltung vertrauenswürdig und meine Liebe zur Literatur aufrichtig war, erhielt ich eines der allerersten Fulbright-Stipendien für die UdSSR. Man würde den Eisernen Vorhang lüften, damit die amerikanische Jugend das Russland Breschnews in all seiner Pracht erleben konnte.

Zuvor an diesem Tag war ich verwirrt und orientierungslos am Flughafen Scheremetjewo eingetroffen. Ein bürokratischer Irrtum hatte dazu geführt, dass ich früher abgeflogen war als die übrigen Fulbright-Stipendiaten. Ich wurde von einem Amerikaner mit zerknittertem Leinenanzug und weißen Tennissocken in Empfang genommen, der aussah, als wäre er just der Dusche entstiegen. Seine zurückgekämmten nassen blonden Haare erinnerten mich an die Frisur meiner Mutter; sie hätte ihn wahrscheinlich als «typischen Tennisclub-Goi» eingestuft. Der Amerikaner stellte sich als Jim vor und gab an, der Verbindungsmann unserer Regierung in Moskau zu sein.

«Entschuldigen Sie den informellen Empfang», sagte Jim, als er meine Koffer und Kisten auf die Rückbank seines Schiguli lud. «Ich habe vor gerade mal einer Stunde von Ihrer Ankunft erfahren. Die anderen treffen erst morgen ein.»

Auf der Fahrt in die Stadt wurden die Schwarz-Weiß-Bilder, die ich seit meiner Kindheit im Kopf hatte, plötzlich lebendig. Dank unserer Haushälterin Stasja, einer gebürtigen Leningraderin, hatte mein Russlandbild mythologische Züge. Hier jedoch, im weichen Septemberlicht, das von hohen Gebäuden zurückgeworfen wurde, überwältigte mich der Anblick all der fremden Menschen, die emsig ihrem Leben nachgingen; vertraut Geglaubtes nahm unbekannte Gestalt an. Jim redete wie ein Wasserfall und wies mich auf markante Bauten hin: der Fernsehturm Ostankino; der Berjoska-Laden für Valuta; das Kaufhaus GUM; der Kreml, diese Hochzeitstorte von Palast.

«Sie sind natürlich hier, um Literatur zu studieren, aber Sie sollten auch ein bisschen Tourist spielen, wenn’s geht», sagte Jim, auf die linke Fahrspur wechselnd. «Um die Nuancen einer Sprache zu erlernen, muss man sich unter die Leute mischen. Ich kann Ihnen nur raten, sich mit Einheimischen zu treffen. Vertiefen Sie sich in die Kultur – die ihre ganz eigene Sprache hat.» Er verstummte und wechselte erneut die Fahrspur. «Ihre Bewerbung hat mich übrigens stark beeindruckt.»

«Danke.»

«In literarischer Hinsicht gibt’s keinen idealeren Ort als Moskau, die Stadt ist gesättigt mit Literatur. Aber vergessen Sie nicht, dass Sie Amerika repräsentieren. Nehmen Sie sich in Acht. Sie werden ständig beobachtet, ständig belauscht.»

Seine letzten Worte klangen nach einem reißerischen Groschenkrimi. Meine Mutter, die mich mit Raymond Chandler und Dashiell Hammett großgezogen hatte, hätte Jim gewiss geliebt. Eine verwandte Seele.

«Dann sind Sie also eine Art Spion?», scherzte ich.

«Das ist wohl jeder, stimmt’s?»

Ich grinste. «Klar.»

«Ja, Mann, selbst Literatur ist eine Art Spionage. Man späht aus, was im Verborgenen liegt: das Denken eines anderen Menschen. Das ist Aufklärung, getarnt als Kunst.»

Ich mochte Jim.

«Leben Sie gern in Moskau?», fragte ich.

«Moskau macht süchtig.»

Dieses Bekenntnis befremdete mich. Konnte man mit einem Ort so tief verwachsen, dass man ihn nicht mehr missen mochte? Es sollte eine Weile dauern, bis ich verstand, was Jim gemeint hatte.

Er hielt vor einer architektonischen Monstrosität. Der rot-graue Betonbau mit seinen sechsunddreißig...

Erscheint lt. Verlag 18.4.2023
Übersetzer Henning Ahrens
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Austauschstudent in Russland • Debütroman • Epik • Familie • Familiengeschichte • Familienroman • Generationenroman • Georgien • Kalter Krieg • Kanada • Kanadische Literatur • kanadischer autor • Liebe • Moskau • Patchwork-Familie • Politische Gefangene • Postsowjetische Staaten • Rache • Roman • Sowjetunion • Tiflis • Toronto • Ukraine • zeitgeschichtliches Panorama
ISBN-10 3-644-01618-6 / 3644016186
ISBN-13 978-3-644-01618-7 / 9783644016187
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