Besser allein als in schlechter Gesellschaft (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31131-0 (ISBN)
Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb geboren, lebte ab 1964 in Italien, später in Deutschland. Sie studierte Schauspiel in Berlin und New York, spielte in Film- und Fernsehproduktionen und inszeniert seit den Neunzigerjahren an Schauspiel- und Opernhäusern. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Bundesfilmpreis, den Theaterpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, den Silbernen Bären für schauspielerische Leistungen und den Deutschen Hörbuchpreis. 2012 erschien ihr Bestseller »Titos Brille«, 2014 folgte »Doitscha - Eine jüdische Mutter packt aus«, 2017 »Das Meer und ich waren im besten Alter«, 2018 »Die jüdische Souffleuse« und 2023 »Besser allein als in schlechter Gesellschaft«. Adriana Altaras lebt in Berlin.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 18/2023) — Platz 17
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 17/2023) — Platz 15
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Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb geboren, lebte ab 1964 in Italien, später in Deutschland. Sie studierte Schauspiel in Berlin und New York, spielte in Film- und Fernsehproduktionen und inszeniert seit den Neunzigerjahren an Schauspiel- und Opernhäusern. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Bundesfilmpreis, den Theaterpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, den Silbernen Bären für schauspielerische Leistungen und den Deutschen Hörbuchpreis. 2012 erschien ihr Bestseller »Titos Brille«, 2014 folgte »Doitscha – Eine jüdische Mutter packt aus«, 2017 »Das Meer und ich waren im besten Alter«, 2018 »Die jüdische Souffleuse« und 2023 »Besser allein als in schlechter Gesellschaft«. Adriana Altaras lebt in Berlin.
Viele haben ein Wochenendhaus. Ich habe einen Zirkuswagen, auf einer Insel im Tegeler See. Tante meint, das passt, ich hätte schon als Kind in einem Wohnwagen reisen und leben wollen. Ich sei Nomadin, deshalb würde ich, anders als sie, von Immobilien nichts verstehen.
Den Zirkuswagen findet sie unter ihrer Würde. Noblesse oblige – wenn schon irgendwo absteigen, dann in einem Grandhotel.
Um den Zirkuswagen ist ein bisschen Garten, da tobe ich mich aus. Die Natur beruhigt. Im Herbst buddele ich Tulpenzwiebeln ein. Zehn Stück furchtbar teure Exemplare. Dann kaufe ich für denselben Preis hundert Stück. Und nun, da sie blühen, stehe ich vor ihnen und kann nicht sagen, welche die teuren und welche die billigen waren. Sie sehen alle aus wie Tulpen, groß und bunt. Bald buddele ich sie wieder aus, damit die Wildschweine es nicht tun. So ist der Kreislauf.
»Ich bin ein Zen-Mönch, Tante«, sage ich am Telefon, »ich lebe mit der Natur.«
Sie kichert. »Dann bin ich der Dalai Lama, wenn deine Parzelle schon Natur ist.«
Vielleicht ist sie der echte Dalai Lama? Und der andere ist eine Kopie?
Alle sterben, nur die Tante nicht. Gott hat sie einfach vergessen. Mir ist es recht. Auch wenn wir nicht gerade tagespolitische Dinge besprechen, so haben wir uns immer viel zu erzählen.
Inzwischen muss ich dabei meist brüllen. Gott sei Dank habe ich in vier Jahren Schauspielschule das Stützen gelernt, also brülle ich:
»Fehlt dir der Hund?«
In Italien hatten wir immer Tiere. Viele Hunde. Aber auch Gänse und einen Esel. Mein Onkel, den ich Cika Giorgio nannte, so wie ich Teta Jele zu meiner Tante sage, war Geometer, Landvermesser. Cika Giorgio vermaß für die Versicherungen die Schäden, die der Hagel in den Reisfeldern hinterließ. Die Poebene ist ein einziges großes Reisfeld. Die Bauern dankten ihm, wenn er die Schäden großzügig vermaß. So kamen die Gänse ins Haus, und Francesco, der Esel. Er wohnte vorübergehend in der Garage, trank im Gästeklo der Anliegerwohnung und platzte feierlich nach einem Jahr, weil er einfach nicht aufhören konnte zu fressen. Er platzte nicht mit einem großen Knall, ganz leise lag er im Vorgarten, die Gedärme im Gras. Die Gänse aufgeregt schnatternd um ihn herum, Tante sprach ihm das Kaddisch und wir vergruben ihn in der nahen Kiesgrube.
Es gab auch einen schwarzen Riesenpudel namens Mišco. Miš heißt auf Kroatisch Maus – er sah rein gar nicht aus wie eine Maus. Er war groß, stolz, sehr stattlich und ziemlich witzig. Ihn hatte Tante vom Tierarzt geschenkt bekommen, der sie heimlich verehrte. Tante und Mišco waren sich ähnlich, sie mischten sich nicht unter das gemeine Hundevolk. Auf der Piazza Virgiliana, wo die Tante Mišco zum Spazieren und mich zum Spielen ausführte, blieben sie Beobachter, dezent am Rand des Geschehens. Ich tobte mit einer Horde von Gleichaltrigen, schrie um die Wette, schürfte mir regelmäßig die Knie auf. Tante saß auf der Parkbank, lächelnd, ungerührt, Mišco zu ihren Füßen.
Tantes Wohnung liegt mitten in der Altstadt von Mantua, im Palazzo Bonacolsi, direkt unter dem mittelalterlichen Hungerturm. Im Eingang des Gebäudes ist in die Mauer eine Marmortafel eingelassen, die Inschrift lautet:
Qui giace il piccolissimo Corsetto di capriccio ebbe il nome et ebbe il vanto d’aver di bella dama in morte il pianto.
– Hier ruht der kleine Corsetto, der aus einer Laune der schönen Edeldame zu seinem Namen kam und im Tod ihre Tränen genoss.
Auch der schwarze Riesenpudel Mišco starb im hohen Alter eines natürlichen Todes, beweint von einer der schönsten Damen Mantuas, meiner Tante. Später schrumpften Tantes Tiere. Kleine Zwergpudel, mehrere Yorkshire-Terrier. In den letzten Jahren nacheinander zwei weiße wunderschöne Bologneser-Weibchen. Sie sahen aus wie Wolken oder Wattebausche auf Beinen. Tante hielt sie immer fest an der Leine, im Park oder am See, aber dann ließ sie das erste Hündchen ausgerechnet an einer Kreuzung los. Das dumme Tier rannte auf die Straße und wurde von einem Auto überfahren. Mit dem Nachfolger-Hündchen passierte genau das Gleiche. Tante ließ es an derselben Kreuzung von der Leine und wieder …
Sie war untröstlich, sehr einsam und bestand auf einem neuen Hund, neunundneunzig sei kein Alter. Sie sei, was Tierhaltung betreffe, ein Profi. Dennoch ließ sich kein Züchter finden, der einer Neunundneunzigjährigen einen Hund verkaufte, sogar das Tierheim wollte einer Greisin kein Tier überlassen. Nicht mal einen dicken alten Kater durften wir mitnehmen. Tante glitt in die Depression.
Eine befreundere Ärztin fand bei einer Visite auf dem Land Lilly, einen Straßenköter, und brachte ihn der Tante mit. Als medizinische Maßnahme: Depressionsbehandlung. Ein Mischlingswelpe. Sehr süß, sehr lebendig und sehr schwer erziehbar. Tante war augenblicklich genesen, munter und zufrieden, aber auch sichtlich überfordert. Das Gästezimmer in ihrer Ferienwohnung am Gardasee war in Kürze vollgeschissen. Der Hund war unerzogen, aber klug, und machte sein Geschäft nur dort. Im letzten Sommer hatte daher die Hundeerziehung auf meiner Agenda gestanden. Nach drei Wochen Gardasee hatte ich das Tier sauber, das Gästezimmer auch. Und reiste ab.
Keine zwei Wochen später war die Tante mit dem oder über den Hund gestürzt und zunächst im Krankenhaus und dann in der Reha gelandet, der ein Pflegeheim angeschlossen war, in dem sie nun festsaß.
»Also, Zietta, fehlt dir der Hund?«, frage ich nochmals, während ich vor meinen Bundesgartenschau-Tulpen stehe.
»Es geht Lilly übrigens blendend. Sie ist ja bei diesem einsamen Freund von mir gelandet und beiden tut die Nähe des anderen gut.«
»Siehst du! So ist das mit Hunden. Und trotzdem. Nein, sie fehlt mir nicht«, antwortet sie.
»Das ist erstaunlich, Zia. Du wolltest denjenigen erschlagen, der dir deinen Hund wegnimmt. Weißt du noch, als ich Lilly mit nach Berlin nehmen wollte? Weil ich Angst hatte, dass du stürzt? Du hast geschrien, ich würde dich entmündigen. Und nun habe ich ein schlechtes Gewissen.«
»Brauchst du nicht. Ich bin selbst schuld. Lilly hat mir so gute Gesellschaft geleistet. Ich bin gefallen, weil mir schwindelig geworden ist. Alle hundert Jahre kann einem doch mal schwindelig werden, oder?«
»Wieso fehlt sie dir nicht?«
»Ich weiß nicht. Es war mir plötzlich zu viel. Immer rausmüssen. Ich wollte sie so gerne um mich haben, ich wollte es schaffen. Eben war ich noch gerannt, die Treppen rauf und runter, mehrmals täglich, doch plötzlich war ich alt, schwach. Das hätte ich nie von mir gedacht. Die Gesellschaft von Hunden ist die allerbeste. Die Menschen sind nicht gut. Jedenfalls nicht so gut wie Tiere. Warum holst du dir keinen Hund?«
»Ich reise zu viel, Tante. Was soll das arme Tier im ICE?«
»Schade. Ein Hund würde dir guttun, der würde dir zeigen, worum es im Leben geht. Fahr doch Automobil, das Tier sitzt hinten, ab und zu hältst du an und führst es Gassi, ihr bekommt beide frische Luft und ansonsten kannst du wie eine Wahnsinnige weiterarbeiten. Na, was meinst du?«
Tante war die erste Frau, die in Zagreb einen Führerschein gemacht hatte. Sie war privilegiert und fuhr die Limousine ihres Vaters durch die Stadt, vom Kaffeehaus zur Boutique und zurück. Kaum hatte ich den Führerschein, ließ sie auch mich fahren, saß entspannt neben mir, eine Frau braucht einen Wagen, Schmuck, erlesene Kleidung und einen Hund. Ein Mann kam in ihrer Aufzählung nicht vor.
Wie viele Autos werde ich besessen haben, wenn ich sterbe? Wie viele Hunde?
Lassie und Fiamma hießen meine Hündinnen. Mit vier Jahren bekam ich Lassie und mit vierundzwanzig holte ich Fiamma zu mir. Sie waren mir Freundinnen in harten Zeiten.
Die Autos hatten keine Namen.
Mein erster Wagen in meiner Zeit als Schauspielstudentin in Berlin war ein schwerer Lada mit Türen wie Panzerschränke. Weinend bugsierte ich ihn die Kantstraße entlang, schwerfällig gehorchte er mir. Man lernt schnell in Berlin: Weinen nützt nichts, hupen gelegentlich, Gas geben und sich gegenseitig die Vorfahrt nehmen am meisten. Dem kantigen Lada folgte der abgelegte Austin Allegro meiner Tante, rund und sportlich, er mochte die Alpenhänge nicht. Am Brenner musste ich regelmäßig den ADAC verständigen. Dann der Franzose, ein Renault Rapid, für Tourneen mit meinem Solo-Theaterstück Jonteff ideal, ich konnte mit Hund und Mann drin schlafen. Als das Solo abgespielt war, gab auch der Lieferwagen seinen Geist auf. Der edle Mercedes meines Vaters, den ich nach seinem Tod erbte, schluckte dreizehn, vierzehn Liter, aber die Heizung funktionierte besser als in meiner Wohnung. Als meine Mutter drei Jahre später starb, wurde der Mercedes von ihrem Renault Clio (in der Sportwagen-Version) abgelöst, Rennfahrerhandschuhe inklusive. Mittlerweile fahre ich den Opel Agila meiner Tante, ein Raumwunder. Sie hat den Wagen gefahren, bis sie vierundneunzig war, notfalls auch ohne Brille, wenn sie sie zu Hause vergaß. Sie hat sich und ihre Hunde darin unzählige Male von Mantua zum Gardasee und zurück transportiert, inklusive Möbel und Unmengen an Essen. Ich habe kein emotionales Verhältnis zu Automobilen, sie sind Transport- und Fortbewegungsmittel, aber sie gehören – mit ihren Stärken und Schwächen – zu bestimmten Epochen meines Lebens.
Als ich als Vierjährige nach Italien zur Tante kam, war ich verloren. So hätte ich es damals nicht formuliert, aber es war so. Mein Vater war in die Schweiz geflohen, nachdem seine geliebte Kommunistische Partei ihn nach einem...
Erscheint lt. Verlag | 9.3.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Altaras • Erinnerung • Familie • Geschichte • Hörbuchpreis • Italien • Jüdische Familiengeschichte • Jüdische Geschichte • Titos Brille • Tragikomik |
ISBN-10 | 3-462-31131-X / 346231131X |
ISBN-13 | 978-3-462-31131-0 / 9783462311310 |
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