Paradiesische Zustände (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31134-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Paradiesische Zustände -  Henri Maximilian Jakobs
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Wie viele Hamster lassen sich mit einem handelsüblichen Staubsauger einsaugen? Gibt es ein wichtigeres Lebensmittel als Pommes? Was, wenn der eigene Körper ein Zuhause ist, in dem man eigentlich keine Sekunde zu viel verbringen möchte? Von einer Berliner Clubtoilette, in der er sturzbetrunken versucht, seinen Namen in die Rinne zu pinkeln, blickt Johann zurück und erzählt uns seine Geschichte. Eine Geschichte, die bei einem tiefen Unbehagen beginnt, das er, damals »sie«, mit sich herumträgt wie den Schneeanzug, die unzähligen Schichten Kleidung, unter denen er seinen Körper verschwinden lässt. Die Fassungslosigkeit und Ablehnung, mit denen er sich selbst und die Welt wahrnimmt, entspricht so ziemlich dem Unverständnis, mit dem ihm seine Mitmenschen begegnen. Und die »Zukunft«, die vor ihm liegt, bedeutet erstmal nichts anderes als die Herausforderung, diese irgendwie hinter sich zu bringen. Der Versuch, das anzugehen, führt ihn über eine Schauspielschule in der bayrischen Provinz und eine skurrile Hipster-Wurstbude in Berlin-Neukölln zu einer wichtigen Erkenntnis. Und schließlich in die Mühlen der Bürokratie - bevor er sich, nach einer Angleichung und unzähligen heiklen Gesprächen, zum ersten Mal seit vielen Jahren bewusst vor einen Spiegel stellen kann. Henri Maximilian Jakobs gelingt das große Kunstwerk, eine Geschichte, die an Leidensdruck und Tiefschlägen nicht unbedingt arm ist, federleicht, versponnen und mit einem überbordenden Humor zu erzählen.

Henri Maximilian Jakobs, geboren und aufgewachsen in München, lebt als Musiker, Schauspieler und Autor in Berlin. Er ist ausgebildeter Bassist und Musikjournalist, veröffentlicht Platten und tourt unter eigenem Namen und mit verschiedenen Bands. Derzeit ist er in der gefeierten Inszenierung »Das Leben des Vernon Subutex« unter der Regie von Thomas Ostermeier an der Schaubühne Berlin zu sehen. Als Synchronsprecher ist er unter anderem in der Netflixproduktion »Ridley Jones« in der Rolle des Dante zu hören. Johanns Geschichte ist auch ein bisschen seine, auch er liebt Pommes. Zudem hätte er gerne einen freundlichen Hund.

Henri Maximilian Jakobs, geboren und aufgewachsen in München, lebt als Musiker, Schauspieler und Autor in Berlin. Er ist ausgebildeter Bassist und Musikjournalist, veröffentlicht Platten und tourt unter eigenem Namen und mit verschiedenen Bands. Derzeit ist er in der gefeierten Inszenierung »Das Leben des Vernon Subutex« unter der Regie von Thomas Ostermeier an der Schaubühne Berlin zu sehen. Als Synchronsprecher ist er unter anderem in der Netflixproduktion »Ridley Jones« in der Rolle des Dante zu hören. Johanns Geschichte ist auch ein bisschen seine, auch er liebt Pommes. Zudem hätte er gerne einen freundlichen Hund.

Der Tag des Abflugs ist da. Wir lungern am Flughafen herum und ich decke mich mit Essen ein. Louises Snacks bestehen in erster Linie aus zwei Packungen Tavor, die sie wegen ihrer Flugangst in der Jackentasche gebunkert hat. Die Eiche rustikal wirkt angesägt.

»Wann nehme ich die Tablette? Soll ich sie nehmen? Was ist, wenn das Flugzeug abstürzt? Wenn ich die Tablette jetzt nehme, schlafe ich vielleicht während des Securitychecks ein und im Flugzeug wirkt sie nicht mehr.«

Louise ist schon vor dem Absturz ein Wrack. Ich erkenne sie kaum wieder.

»Dann nimmst du noch eine. Außerdem lässt die Wirkung nicht so schnell nach. Es wird alles o.k. sein. Wirklich. Das Flugzeug wird nicht abstürzen.«

»Und wenn doch? Warum sollte es denn nicht abstürzen. Du erbst meine Bücher.«

»Ich sitze doch mit dir im Flugzeug. Wieso sollten wir denn abstürzen?«

»Du glaubst also auch, dass wir abstürzen werden.«

»Nein, tue ich nicht. Und das habe ich auch nicht gesagt. In knapp fünf Stunden hängen wir am Strand rum und trinken Sekt. Das Schlimmste, was uns passieren kann, sind zu viele andere Touristen. Aber bestimmt kein Flugzeugabsturz.«

Das Einzige, was Louise von meiner Ansprache wahrnimmt, ist das Wort Flugzeugabsturz. Nach dem Securitycheck nimmt sie drei Tavor auf einmal und verschläft den kompletten Flug nach Gran Canaria sowie die scheinbar endlose Busfahrt zum Hotel. Bei unserer Ankunft stellen wir fest, dass das Hotel deutscher ist als Bratwürstchen und der völkische Flügel der AfD. Ein kleines Sparschwein am Empfang weist darauf hin, dass Trinkgeld gut fürs Karma ist. Alle Schilder sind auf Deutsch. Die Abendunterhaltung ist auf Deutsch. Es gibt einen deutschen Arzt im Haus, eine deutsche Apotheke und bestimmt wird irgendwo die Leiche von Franz Josef Strauß aufbewahrt. Die Speisekarten sind auf Deutsch. Es finden spanische Themenwochen statt. Auf Deutsch. All das erklärt uns der Mann am Empfang sehr begeistert. Dieses Hotel ist Deutschlandkonzentrat. So deutsch, dass der Atlantik jodeln würde, wenn man es darin auflöste. Wir fahren mit dem Aufzug zu unserem Zimmer, der Suite Bismarck. Suite Bismarck?

»Alter … wo sind wir hier gelandet?«

Louise ist wieder in ihrer ursprünglichen Eiche-rustikal-Form. Wir stehen in unserem Zimmer, der Suite, und betrachten den Kunstdruck des Alpenpanoramas, der über dem Bett hängt.

»Ist das da ein nackter Engel, der auf einem Bären reitet? In den Alpen?«

»Er sieht ein bisschen aus wie Chuck Norris.«

»Was macht Chuck Norris in den Alpen? Auf einem Bären?«

»Die Erde unterjochen? Extrem männlich sein? Urlaub?«

»Als Engel?«

»Keine Ahnung.«

Sie öffnet den Nachtschrank und holt eine Bibel heraus. Also doch Kolonialismus.

»Preiset den Herrn.«

Ich gehe durch das Zimmer, die Suite Bismarck. Suite … für wen? Eine Ameisenfamilie? Zwei erwachsene Menschen könnten sich immer noch umarmen, wenn sie an den gegenüberliegenden Wänden des Zimmers stehen. Suite Bismarck …

Die Balkontür klemmt, ich zerre sie auf. Die Luft ist weich und riecht nach einer Mischung aus Chlor und entferntem Meer. Und Fett. Unser Balkon ist genau neben dem Dunstabzug der Küche platziert.

»Hast du Lust, wie eine Pommes zu riechen? Dann komm raus und setz dich neben mich.«

»Ich liebe Pommes.«

Louise kommt auf den Balkon. Sie hat sich ihr Urlaubsoutfit angezogen. Einen Strohhut, der die Größe eines Kontinents hat, Shorts und ein T-Shirt, auf dem steht: »Ich wär’ gern eine Ananas«.

»Ich wär’ gern eine Ananas? Was soll das heißen? Und warum?«

»Ich weiß es nicht, aber das Gelb ist schön. Und Ananas-Positivity ist auch nicht schlecht. Es gibt viel schlimmere Dinge, die man sein wollen könnte. Unternehmensberater zum Beispiel. Oder ein Apfel. Stell dir das mal vor!«

Sie setzt sich neben mich und rückt ihren Strohhut zurecht. Den Kontinent auf ihrem Kopf.

»Das ist ein sehr großer Strohhut. Ich habe Hunger. Ich will Pommes.«

»Dann müssen wir Pommes essen! Lass uns an den Strand gehen. Da gibt es bestimmt Pommes. Und Sand. Das ist beides super.«

»Und Typen in zu kleinen Badehosen. Herrlich.«

»Die auch, los, komm.«

Wir gehen raus, an den Hotelkomplexen vorbei. Komplex beschreibt die Architektur am besten. Sie sehen aus wie der verzweifelte Schrei eines Architekten nach Kinderspielzeug. In Grau. Und gelegentlich Gelb. Gestapelt und deplatziert inmitten von Natur, die sich nichts sehnlicher wünscht als Ruhe vor all dem Geplärre der Menschen. Ihrem Dreck, ihrer Lautstärke, ihrem Ich-Ich-Ich.

Vor den Hotels stehen Typen, die Flyer für Abendveranstaltungen verteilen. Disco Night, Samba Forever, Latin Fever, der Namensgenerator hat mit 80er-Klischees um sich gespuckt. Die Flyer werden ausnahmslos an Frauen verteilt. Männer gibt es anscheinend zur Genüge. Als wir an den Flyerverteilern vorbeigehen, werden wir ignoriert. Ein kurzer Blick, ein Abwenden und Weitersuchen. Auch Louise fällt es auf.

»Wir sind offenbar nicht die Zielgruppe.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Grund zur Freude ist oder nicht.«

»Ich will aber aus Prinzip gefragt werden, um Nein sagen zu können. Du weißt schon. Wie sich zu wünschen, dass die Exbeziehung schreibt und man nicht antwortet. Damit man sagen kann, dass man nicht geantwortet hat.«

»Natürlich. Sollen wir noch mal an ihnen vorbeigehen?«

»Absolut.«

Wir drehen um und schlendern wieder an den Flyerverteilern vorbei. Nichts. Wir sind Hologramme, in einem zu hellen Raum. Sie sehen uns nicht.

»Pff. Idioten. Wir gehen an den Strand, komm. Und feiern später im Hotel. Da gibt es Bowle. Das ist eh besser.«

Louise ist sauer. Ich bin eher froh. Wie kann man sich nach der Gunst von flyerverteilenden Prolls sehnen?

Wir passieren Buden und Verkaufsstände, an denen man alles kaufen kann, was man nicht braucht. Wirklich alles. Ich wundere mich, dass keine Ponys und Flüge zum Mond angeboten werden. Menschen tummeln sich. Kinder quieken. Familien machen gut sichtbar auf Familie. Einige übergewichtige Vögel mampfen Pommes, die auf dem Boden herumliegen. Dann stolzieren sie zusammen weiter und hacken in ihr stumpfes Gefieder. Ein wenig aufhübschen, wenn man schon gemeinsam essen geht.

Die Bäume sind ein auslaufender Wasserfarbenpinselstrich, der den Strand in Grün rahmt. Der Wind trägt Fetzen aus Alltag und Vergnügen mit sich herum. Das Meer streckt sich und hat kein Ende. Sein Anfang ist sanft und vorsichtig. Die Luft ist behutsam und salzig. Wir ziehen unsere Schuhe aus und betreten den Sand. Fiebrig heiß schmiegt er sich an unsere Füße. Wir gehen schnell, damit wir nicht verbrennen.

Ich trage eine Hose, die bis kurz über die Knie geht, ein T-Shirt, eine Jacke und ein Cap. Darunter einen Badeanzug, den ich verachte. Ein unförmiges Etwas, das sich nicht entscheiden kann, ob es Bademode aus diesem Jahrhundert oder eine Art Basislagerzelt ist. Meine Beine ragen wie weiße Fäden aus der Hose. Als wäre ich mit ihrer Hilfe am Boden befestigt, um nicht weggeweht zu werden. So wenig hatte ich nicht an, seit ich sieben war. Warum wollen sich alle immer ausziehen, sobald sie die Möglichkeit dazu haben?

Als wir einen Platz im Schatten gefunden haben, breiten wir unsere Handtücher aus und setzen uns. Louise trägt eine Wand aus Sunblocker auf ihren Körper auf. Ein Stück Talkum und ein Wollknäuel im Schneeanzug auf Reisen.

»Willst du Sonnencreme? Oder Mückenspray? Ich habe beides.«

»Nein, ich habe mich im Hotel eingeschmiert, alles gut.«

Ich bleibe sitzen, verschränke die Arme vor mir, verschlossener Bahnübergang für alles Gefühlte, das vorbeiwill, und blicke aufs Meer. Wie schön es ist. Links von uns toben fünf junge Männer. Sie jagen hinter einem Ball her, als wäre er das ewige Leben. Sie sind laut, lästig und: Ich beneide sie. Weil sie Spaß und Leichtigkeit haben. Im Gegensatz zu mir. Ich bin immer schwer und grau und sitze unförmig im Schneeanzug am Meer. Seit ich denken kann. Sie sind glücklich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie sind einfach. Schlafen, stehen auf, manchmal getrübt durch das Leben, aber nicht aufgrund ihrer selbst. Sie sprinten ins Wasser, ziehen sich gegenseitig mit, tauchen unter. Stoßen wieder durch den Wasserspiegel nach oben. Rufen einander. Verbunden durch Präsenz. Wer weiß, was sein wird. Wen interessiert es schon. Ihre Zärtlichkeit ist das Raufen. Umarmungen, sportlich, männlich. Sie sind das Meer. Niemals ruhig, immer auf und ab.

Kurz habe ich Baggerseeflashbacks, fühle mich ekelhaft und fett. Erinnere die ersten Lieben. Von anderen. Ich unbeteiligt im Schneeanzug am Ufer. Hauptsache, keine Haut. Warum muss ich so ein fetter Koloss sein. Rechts von uns sammeln sich Teenager, spannen die Muskeln an und verstärken gemeinsam die Wirkung der Hormone, die sich bei ihnen gerade erst breitgemacht haben. Sie sind noch Kinder, die sich ins Erwachsensein hangeln. Ohne den ganzen beschwerlichen Unfug wie Bürokratie und Ernst. Ihre Körper sind vorausgelaufen, ihr Denken tapst hinterher. Sie sind so leicht, so unbeschwert, dass sie quasi ins Leben fliegen, während sie sich jagen und mit ungebändigtem Verlangen um sich werfen. Alles scheinbar zum Greifen nah, aber ganz egal wie sehr ich mich strecke, es gibt kein Durchkommen zum Toben der anderen. Weder zu den Männern...

Erscheint lt. Verlag 7.6.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Geschlechtsumwandlung • Identitätsfindung • Identitätswechsel • Lebensweg • Selbstfindung • Sexualität • Sexuelle Orientierung • Transition • Transsexualität
ISBN-10 3-462-31134-4 / 3462311344
ISBN-13 978-3-462-31134-1 / 9783462311341
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