Doppelleben (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30432-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Doppelleben -  Alain Claude Sulzer
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Ein grandioser Roman über die letzten Jahre der zwillingsgleich lebenden Brüder Goncourt und das Doppelleben ihrer Haushälterin, inmitten von Glanz und Elend im Paris zu Zeiten Napoleons III. Der Roman nimmt uns mit zu Jules und Edmond de Goncourt, die alles teilten: das Haus, die Gedanken, die Arbeit, die Geliebte. Zu zweit gingen sie zum Treffen mit Flaubert, Zola und anderen Künstlern ins Palais der Cousine des Kaisers, in Ausstellungen und zu Restaurantbesuchen mit Freunden und Bekannten. Und danach lästerten sie ab über alle, die sie getroffen hatten, im geheimen Tagebuch, das sie gemeinsam führten. Berühmt-berüchtigt waren sie für ihren Blick, dem angeblich nichts entging, und ihre spitze Feder, die alles notierte. Bis Jules unheilbar erkrankte ... Und der Roman nimmt uns mit in die Gegenwelt: zu Rose, ihrer Haushälterin, die zum Hausstand gehört wie ein Möbelstück. Die unbemerkt von den Brüdern existenzielle Dramen durchlebt, sich hoffnungslos in den Falschen verliebt und von ihm schamlos ausgenutzt wird, die ein Kind austrägt, ohne dass die Brüder es bemerken, es gebiert, liebt und später auch verliert; die Trinkerin wird und ihre Dienstherrn hintergeht und bestiehlt, ohne dass diese es merken. Bis sie stirbt und den Brüdern ein Licht aufgeht ... Ein packendes Epochengemälde in Lebensläufen, die gegensätzlicher kaum sein können.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel. 

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel. 

Inhaltsverzeichnis

2 Zwei ungleiche Gewichte, Oktober 1869 


Das Hundegebell war fürchterlich. Noch schlimmer aber waren die Kinder, fünf Nachbarskinder, die spielten und schrien und herumrannten, aber jetzt waren nur die Hunde zu hören. Dreiundachtzigtausend Francs hatten sie ausgegeben, um dieses Haus und damit ihre wohlverdiente Ruhe zu erwerben. Den Kauf hatten sie mit dem Erlös aus der Veräußerung ihrer Ländereien in Breuvanne und Fresnoy in der Haute Marne in der Nähe von Vittel getätigt. Doch von Ruhe konnte keine Rede sein. Die Kinder ihrer Nachbarn Courasse zur Linken taten alles, um den Frieden erst gar nicht aufkommen zu lassen. Und wenn nicht sie, dann störte das Pferd der Louveaus zur Rechten, das in eine Art großen Schrank gesperrt war, gegen dessen Wände es tagein, tagaus das Gewicht seines Körpers rammte. Es wurde nur selten ausgeführt, denn einen Kutscher besaßen die Eigentümer nicht. Also war es tagelang auf engstem Raum gefangen, harrte ungeduldig aus und versuchte sich zu befreien.

 

Jules stand mit nacktem Oberkörper am offenen Fenster der Mansarde des Hauses am Boulevard de Montmorency, das auf den Garten ging, und starrte geradeaus. Dreiundachtzigtausend Francs für keine Ruhe. Ein Witz, über den er nicht lachen konnte.

Auch heute Morgen atmete er die frische Luft ein und bewegte die seitlich ausgestreckten Arme auf und ab, vor und zurück. Es war seine Gymnastikstunde. Die Hunde bellten. Das Pferd war ruhig. Die Hanteln lagen auf dem Boden seines Zimmers neben dem Bett, in dem er unruhig – von Alpträumen geplagt – geschlafen hatte. Kindheitsträume und unanständige Fantasien suchten ihn heim wie eh und je. Und da war noch etwas, was ihn beunruhigte.

Das war ihr Heim, das Haus der Brüder Goncourt, die überzeugt waren, ihr Name würde sie überleben. Jules’ Zimmer war schlicht. Er schlief ganz oben. Er hatte es so gewollt. Der Fußboden bestand aus einfachen Tannenriemen.

Seit zehn Jahren erst gehörte das einst ländliche Auteuil zu Paris, nun wurde überall gebaut, von allen Seiten schlug einem der Lärm der Handwerker und Transporteure entgegen. Auch Vogelgezwitscher war zu hören, und die Hunde und das Geschrei der Kinder und das Pferd und die Katzen. Jules drehte sich um, bückte sich, griff nach den Hanteln und hob sie langsam, mit Leichtigkeit hoch. Er hatte Übung. Es schien ihm jedoch, als sei die Hantel in seiner Linken schwerer als die in seiner Rechten, obwohl beide denselben Umfang hatten, sie schienen identisch, waren es aber nicht, er hätte schwören können, die eine sei leicht, die andere schwer.

Dann wieder glaubte er, es sei genau umgekehrt. Welche Hantel war schwerer, die linke oder die rechte? Er schwankte. Er stemmte die Hanteln über die Schulter, über den Kopf hinaus. Die Nachbarshunde, die er nie zu Gesicht bekam, bellten. Mit diesem Gewicht könnte man leicht einen großen Köter erschlagen.

Die Muskeln spannten unter der blassen Haut seiner fein geäderten schmalen Oberarme, das Geräusch der Bauarbeiter war verstummt, er hörte das Lärmen der Vögel. Das waren Spatzen. Er besaß nicht die Fähigkeit, das Gezwitscher der einzelnen Vogelarten einzuordnen – er empfand es als eine mal gesellige, mal streitlustige Unterhaltung, der er nie lange folgen mochte –, aber immerhin erkannte er morgens, vor allem aber abends den freudigen Gesang der Amseln, die sich immer am selben Ort niederließen, auf dem einen Baumwipfel oder anderen Giebel, den sie sich eines Tages erkoren hatten, und er fragte sich manchmal, ob sie morgens nicht in einer anderen Tonart pfiffen als in der Dämmerung, doch von Musik verstand er so wenig wie sein Bruder. Das aufgeregte Gezwitscher der Spatzen wurde durch das sichelnde Sirren der Mauersegler abgelöst, die durch die Luft pfeilten.

Eine gesunde Physis sollte dem Geist ermöglichen, über seine begrenzten Fähigkeiten hinauszuwachsen. Deshalb die Hanteln. Doch war Vorsicht geboten, denn es gab keine Garantie für geistige Gesundheit, eher musste man stets mit dem Schlimmsten rechnen, mit Krankheit und Tod.

Wer sich schöpferisch verausgabte, setzte sich der Gefahr der Überbeanspruchung aus, ließ sich von innen auffressen und zerfiel allmählich, bis vom Intellekt nichts übrig blieb als angestrengter Unsinn. Intellekt verlangte Unterscheidungs- und Einschätzungsvermögen, Distinktion und Abstraktion. Intellekt hieß, eine Meise von einer Schwalbe, das Lamento eines Kastraten vom Gesang eines Tenors, einen Mann von einer Frau, das Meer von der Wüste, ein Sandkorn von einem Samenkorn, die Blume vom Dorn, Schnee von Hagel und Hagel von Schnee und das Gute vom Schlechten unterscheiden zu können.

So wie sexuelle Ausschweifung oft übel endete, forderte auch geistige Plackerei ihren Tribut, niemand wusste das besser als Jules und Edmond. Die Flamme des Fiebers zehrte an einem, und man verbrannte. Überfeinerung konnte Schönheit und Reife, aber auch langes Siechtum oder frühen Tod bedeuten, auch geistige Umnachtung, Verlorenheit in tiefster Finsternis, überall schoben Nachtmahre aufmerksam Wache.

Allmählich erlahmten Jules’ Arme, und er schnappte nach Luft.

Jedes schöpferische Talent war gefährdet, das Genie lebte stets auf Messers Schneide. Während außen das Feuer loderte, schmolz innen das Eis. Ein verantwortungsvoller Arzt riet dem Patienten, seinem Körper Bewegung und Luft zu verschaffen. Auch wenn noch keine endgültige Einigkeit über die Frage des medizinischen Nutzens regelmäßiger Gymnastik bestand, schien es zumindest so, als sei kein dauerhafter Schaden zu erwarten. Manche waren der Überzeugung, dass noch viel mehr Zeit auf die körperliche Ertüchtigung verwendet werden sollte. Waren nicht die Griechen das beste Beispiel für einen gesunden Geist in einem starken Körper? Doch wie viele Stunden des Tages? Gewiss würde stets mehr Zeit dem Geist als dem Körper vorbehalten bleiben. Etwas anderes war nicht wünschenswert.

Nicht wenige hielten jedoch solche Betätigungen für schädlichen Unfug. Einen Rücken krümmt man, um in die Schuhe zu schlüpfen, eine Hand bewegt man, um eine Gabel oder ein Glas zum Mund zu führen und um sich die Augen zu reiben, und einen Arm biegt man, um einen Hut aufzusetzen oder um eine Frau zu umarmen. Bewegungen führte man in einer bestimmten praktischen Absicht aus, wenngleich zumeist ohne Bewusstsein dafür, dass man es tat; man tat es mechanisch, ohne Absicht. Jules aber fand, und hatte es auch seinem Bruder gegenüber geäußert, dass der einzig richtige Maßstab das Übermaß sei. Der Exzess, die Maßlosigkeit. Das tödliche Fieber. Balzac hatte es zehn Jahre zu früh geholt, andere wie Victor Hugo holte es zehn Jahre zu spät.

 

Jules spürte, wie das Stemmen der Hanteln ihn von den lästigen Gedanken befreite. Je stärker der körperliche Schmerz, desto leichter wurde der Geist. Der Geist löste sich aus dem Körper, wenn er ihn zum Äußersten zwang. Vor – zurück – auf – ab. Der Geist verflüchtigte sich unter der Last der Hantel. Die Bewegung der angespannten Arme befreite die Ideen mehr als die Fortbewegung in der Kutsche, die zwar dem schweifenden Auge entgegenkam, die Arbeit der Gedanken aber nicht unterbrach, weil sie dem Körper nichts abverlangte. Hin und wieder musste man die Ketten sprengen. Die Eigenbewegung im Zimmer vor dem offenen Fenster löste die Bande, lockerte die Stricke. Im Rücken die Büchervitrinen, die Kultur des Abendlands, des Morgenlands, des Fernen Ostens, Japans, Chinas, ihrer Leidenschaften, die in den Augenblicken des Hantelhebens und Innehaltens wie ein versenkbares Bühnenbildmodell mit dem Horizont eins wurden. Ach, Hokusai!

Je schwerer die Hantel, desto schwereloser der Geist. Eine feste Mauer wurde gegen ihn errichtet. Der Geist wurde leicht wie eine Montgolfiere und ziellos wie eine taumelnde Hummel.

Am hilfreichsten war es, wie ein Handwerker zu schwitzen. Jules schwitzte jedoch nicht leicht. Obwohl er ein Unterhemd trug, blieb die Haut unter dem Hemd trocken wie Pergament. Schwitzen kannte er nur vom Land, von den heißen Sommern, dunstigen Nächten und weit zurückliegenden Wanderungen seiner Jugend in den Süden.

Kniebeugen förderten die Durchblutung, so dass sich die Schleusen der Inspiration öffnen und der Geist sich erheben konnte. Dehnungen brachen die erstarrten Räume auf, öffneten verschlossene Truhen und verflüssigten die stockende Tinte. Noch fehlten die großen Männer, die die Wirkung der Turnkunst in angemessene Worte zu fassen und bei Gymnopaedien vorzutragen verstanden, wie einst die Griechen es taten. Die Zeit war reif für den athletischen Reim und das sportliche Drama.

Das Turnen wurde inzwischen, wie er gelesen hatte, auch an französischen Schulen unterrichtet. Nach schwedischer oder preußischer Manier, je nachdem, welcher Nation und Methode man den Vorzug gab.

Edmond verstand Jules’ Hingabe an die Körperkultur ganz und gar nicht. Er lehnte die Überzeugungen seines Bruders entschieden ab. Sie zu verbreiten und danach zu leben war Unfug. Doch Jules war gegen das Maßhalten, nicht nur in Fragen des Ausdrucks, der Form und des Stils. Er war kein Handwerker, er war Schriftsteller. Maßhalten war etwas für Feiglinge. Beschränkung war Einschränkung und erzeugte nur Durchschnitt. Er musste den Bogen überspannen, auch die Erziehung seines Körpers.

Edmond hingegen würde selbst unter Androhung der härtesten Strafe keine Hantel in die Hand nehmen und sie auch in Zukunft tunlichst ignorieren, wenn er, während Jules seine Morgengymnastik betrieb, dessen Zimmer unter dem Dach betrat, was allerdings selten vorkam, da Edmonds...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2022
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Alain Claude Sulzer • aus den Fugen • Edmond Goncourt • Emile Zola • Epochengemälde • Epochenroman • Französischer Literaturpreis • Germinie Lacerteux • Goncourt • Gustave Flaubert • Haushälterin • Historienroman • Historischer Roman • Jules Goncourt • Klassiker • Napoleon • Naturalismus • Paris • Prix Goncourt • Schmöker • Schweiz • spiegel bestseller • Sulzer neuer Roman • Syphilis • Tagebuch • Unhaltbare Zustände • Zur falschen Zeit • Zweites Kaiserreich
ISBN-10 3-462-30432-1 / 3462304321
ISBN-13 978-3-462-30432-9 / 9783462304329
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