Theater in Deutschland 1967-1995 (eBook)
800 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491619-4 (ISBN)
Günther Rühle, einer der angesehensten deutschen Theaterkritiker und Theaterschriftsteller, wurde 1924 in Gießen geboren. Er war von 1960-1985 Redakteur im Feuilleton der ?Frankfurter Allgemeinen Zeitung?, seit 1974 auch dessen Leiter. 1985-1990 übernahm er die Intendanz des Frankfurter Schauspiels, war danach Feuilletonchef des ?Tagesspiegel? in Berlin. Er editierte u. a. die Werke von Marieluise Fleißer und von Alfred Kerr, entdeckte dessen ?Berliner Briefe?. Seine großen Dokumentationen ?Theater für die Republik. 1917-1933? und ?Zeit und Theater 1913-1945?, dann seine zusammenfassende Darstellung ?Theater in Deutschland. 1887-1945? wurden grundlegend für Erforschung und Nacherleben des Theaters jener Zeit. Günther Rühle war Ehrenpräsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und Präsident der Alfred Kerr-Stiftung. Er wurde ausgezeichnet mit dem Theodor-Wolff-Preis (1963), dem Johann-Heinrich-Merck-Preis (2007), dem Hermann-Sinsheimer-Preis (2009), dem Binding-Kulturpreis (2010) und der Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille (2013). Am 10. Dezember 2021 starb Günther Rühle in Bad Soden am Taunus. Literaturpreise: Theodor-Wolff-Preis 1963 Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay 2007 Hermann-Sinsheimer-Preis 2009 Binding-Kulturpreis 2010 Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille 2013
Günther Rühle, einer der angesehensten deutschen Theaterkritiker und Theaterschriftsteller, wurde 1924 in Gießen geboren. Er war von 1960–1985 Redakteur im Feuilleton der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, seit 1974 auch dessen Leiter. 1985–1990 übernahm er die Intendanz des Frankfurter Schauspiels, war danach Feuilletonchef des ›Tagesspiegel‹ in Berlin. Er editierte u. a. die Werke von Marieluise Fleißer und von Alfred Kerr, entdeckte dessen ›Berliner Briefe‹. Seine großen Dokumentationen ›Theater für die Republik. 1917–1933‹ und ›Zeit und Theater 1913–1945‹, dann seine zusammenfassende Darstellung ›Theater in Deutschland. 1887–1945‹ wurden grundlegend für Erforschung und Nacherleben des Theaters jener Zeit. Günther Rühle war Ehrenpräsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und Präsident der Alfred Kerr-Stiftung. Er wurde ausgezeichnet mit dem Theodor-Wolff-Preis (1963), dem Johann-Heinrich-Merck-Preis (2007), dem Hermann-Sinsheimer-Preis (2009), dem Binding-Kulturpreis (2010) und der Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille (2013). Am 10. Dezember 2021 starb Günther Rühle in Bad Soden am Taunus. Literaturpreise: Theodor-Wolff-Preis 1963 Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay 2007 Hermann-Sinsheimer-Preis 2009 Binding-Kulturpreis 2010 Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille 2013
[...] eine beispiellos monumentale Geschichte des deutschen Theaters vom wilhelminischen Kaiserreich bis zur Jahrtausendwende.
Ein wertvolles Buch.
ein großes Stück Theaterliteratur
Es ist unvollendet geblieben – aber in vielerlei Hinsicht doch sehr vollendet geworden.
So schnell wird es eine vergleichbar gewaltige Unternehmung sicher nicht geben.
Peymann rockt Stuttgart, Stein etabliert die Schaubühne, Zadek schockiert Hamburg, Heiner Müller raucht Zigarre - alles im letzten Band von Rühles legendärer Theatergeschichte.
[D]iese so lustvoll geschriebene Theatergeschichte ist nun vollständig in der Welt. Man begreift an ihr, warum Theater heute so aussieht, wie wir es erleben.
Theaterkritik ist die Kunst deutender Vergegenwärtigung eines [...] Bühnengeschehens. [...] Niemand hat dies so deutlich gezeigt und so fruchtbar zu machen gewusst wie Günther Rühle.
Muss man alles wissen.
Ost-Berlin: Ärger wegen ›Faust‹
Im Herbst 1968 rüttelten auch in der DDR junge Kräfte an den festgezurrten Maximen der Partei. Ohne offene Rebellion versuchten sie, was ihnen gefiel und sie sich trauten, auch zu machen. Benno Bessons Erfolge hatten die Lust erweckt. Wolfgang Heinz hatte jetzt Adolf Dresen aus Greifswald im Haus, den er heranzog, je größer seine Distanz zu dem erfolgreichen Besson wurde. Heinz und Dresen mochten einander. Beide waren handfeste Kommunisten, die von Ulbrichts Partei nicht viel hielten, und sie waren starke Kräfte für ein nicht langweiliges Theater.
1967 war die DDR auf der Höhe ihres Selbstbewusstseins; da wünschte man für die Hauptstadt im »Staatstheater der DDR« wieder einen ›Faust‹. ›Faust I und II‹ war ein großes Projekt. Denn seit Walter Ulbricht das Ziel der sozialistischen Politik immer wieder auf Fausts Vision: »auf freiem Grund mit freiem Volke stehn« bezog und behauptete, »die Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik« schrieben derzeit »mit ihrer Arbeit, mit ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus den III. Teil des Faust«, war Goethes Stück ein Teil der Staatsideologie. Hier, bei uns ist Faust zu Hause, schrieb das ›Neue Deutschland‹. Die Inszenierungen von Fritz Bennewitz, Wolfgang Langhoff und Karl Kayser in Weimar, Berlin und Leipzig hatten Faust als tätigen Menschen, als Landgewinner am Ende des Lebens vorgeführt. Die Interpretation war kurz und eng, aber politisch nützlich.
Wolfgang Heinz, der Intendant des Deutschen Theaters,[1] nahm den Wunsch als Auftrag. Als Co-Regisseur wählte er sich den schon zweimal erprobten Adolf Dresen. Dresen und Maik Hamburger, die schon den ›Hamlet‹ in Greifswald zum Parteiärgernis gemacht hatten,[2] erdachten ein Konzept, Heinz genehmigte und übergab dem eigenwilligen Adolf Dresen die Proben und damit die Regie. Dresen war ein tiefgreifender Menschenregisseur geworden. Er hatte auch eine Liebe zum Volkstheater und mochte: Clowns. Er besetzte die Hauptrollen mit Schauspielern, die lieber Komödie als Klassik spielten. Den Mephisto, Dieter Franke, hatte Dresen erst jüngst in seiner O’Casey-Inszenierung entdeckt. Fred Düren, der Faust, und Bärbel Bolle, das Gretchen, kamen aus Bessons hohem Komödientheater. Andreas Reinhardt machte die Bühnenbilder. Fast alle waren BE- und Brecht-geprägt. Und Brechts und Egon Monks freche, einst verworfene ›Urfaust‹-Inszenierung wirkte im Hintergrund. Dresen litt nicht an »Einschüchterung durch Klassizität«.
Es wurde der lustigste Faust, den es bis dahin gab. Lacher schon im ›Vorspiel auf dem Theater‹: Probebühnendurcheinander, Dresen als Dichter mit Reclam-Heft, Jeans und Rollkragenpullover, Heinz als Theaterdirektor, Straßenanzug, seine Sätze ironisch spitzend, die Lustige Person im Bademantel, das ›Neue Deutschland‹ in der Tasche. Da purzelten die Verse. Für den ›Prolog im Himmel‹ fuhr ein bärtiger Herrgott aus dem Schnürboden herab, umgeben von geigenden Goldengeln und schwergerüsteten Erzengeln; aus der Bodenluke stieg rauchumgeben herauf ein kleiner, dicker, bäurischer, sächselnder Mephisto, »mit Horn, Huf und Schwanz«. Nichts von Feierlichkeit, Pathos und Posen. Hier wurde nicht »Dichtung« und Bedeutung gespielt. Auch nichts von Mittelalter. Zeit: Goethezeit, Sturm und Drang, Französische Revolution am Anfang, Reaktion am Ende. Dürens Faust war ein armer, scheuer, schmaler, verwilderter, fast asozialer Intellektueller, nervös, hastend, er redete schnell seinen Monolog herunter, litt an sich selbst, war voller Angst, als er das Experiment mit der Magie wagte: ein Verzweifelter, der gegen alles war. Der, im 2. Teil, nach dem »schönen Augenblick« suchen sollte. Der Osterspaziergang: leere weiße Bühne, eine Lerche sang, festlich gekleidete Bürger der Goethezeit ergingen sich, inszeniert als Schattenspiel: entfremdete Bürgerwelt, Faust davor als Zuschauer. Im Studierzimmer erschien – als Marionette – ein kleiner Pudel, den Faust in die Ecke verbannte; da blähte das Vieh sich auf fast zu Elefantengröße, platzte, und heraus trat Mephisto, Feder am Hut, geschönt, aber plump, ein Volksteufel – weit weg von der verführerischen Intelligenz, die Gründgens dem Teufel einmal erspielt hatte. Als Luftnummer flogen Faust und Mephisto auf dem Feuermantel ab; in Auerbachs Keller trafen sie – nicht wie sonst auf einen wilden Studentenhaufen – auf ältere Herren, wohlangezogen, Hut auf, ein kleiner Gesangverein, der plötzlich seine Biestigkeit herausließ, Fremdenhass. Die Hexenküche war »eine Parodie auf Fausts Studierstube«. Bei Fausts Verjüngung flogen ihm die Kleider vom Leibe und ein junger Mann im Werther-Frack stand da, der sogleich Helenen in dem jungen Mädchen sah, dem er hinterherlief. Bärbel Bolle war eine stramme Grete, naiv, praktisch, selbstbewusst, ein Naturkind. Die Gretchenszenen spielten auf der Großen Drehbühne, Stück für Stück war ausgestellt. Die Walpurgisnacht: ein Pandämonium taumelnder Körper; eingelegt der selten gespielte ›Walpurgisnachtstraum‹; Gerhard Bienert als Oberon, Jürgen Holtz als Titania, sie lasen – eine Lachnummer für sich – Goethes literarische Anspielungen, aber aktualisiert. Eine davon war so:
Puck und Ariel:
Herr Heiner Müller läßt bestelln
daß er heut kränklich wäre,
er hatte gestern abends erst
mit einem Stück Premiere.
Oberon und Titania:
Ein Stück von Müller, wo denn das?
Wann gehn wir mal hin denn?
Antwort:
Zu spät, es ist schon abgesetzt,
und zwar aus technischen Gründen.
Die schon durch Selbstzensur gekürzten Verse gingen aufs Deutsche Theater und auf Peter Hacks, sie zielten aber auf die restriktive Kulturpolitik. Die Verse waren eher harmlos, doch mancher im Zuschauerraum wird den Atem angehalten haben. War das möglich? (Es gab sie darum auch nur einmal: bei dieser Premiere.) Gretchen als Kindsmörderin im Gefängnis: auf leerer Bühne in einem ganz engen Kasten. Faust musste den Deckel abnehmen, um sie zu sehen. Das Lachen mischte sich mit dem Schrecken. Das Spiel musste unterbrochen werden. Faust blutete, hatte sich am Deckel verletzt. Dann ging es doch weiter. Am Ende wurde nach Gretchens Schrei »Heinrich! Heinrich!« die Kiste mit der Verurteilten weggezogen über die Hinterbühne ins Nichts. Kurze Stille, dann brausender Beifall. Die Politprominenz in der ersten Reihe hatte während der Unterbrechung schnell den Saal verlassen. Es wurde ein denkwürdiger Abend – mit Folgen. Wo war hier »das Faustische«? Die Reaktion kam am nächsten Morgen.
Regisseur Dresen wurde ins Theater geholt. Zwei Abgesandte des Ministeriums teilten mit: Der Minister für Kultur, Klaus Gysi, »bedauere, daß nach den richtungsweisenden Vorstellungen in Weimar und Leipzig nun diese Vorstellung in Berlin zu sehen sei«. Der ›Walpurgisnachtstraum‹ sei sofort zu streichen, etwa 60 schon aufgelistete Änderungen auszuführen. Die Ost-Berliner Kritiker – man spürte beim Lesen ihre Bedrängnis – waren ratlos zwischen Ja und Nein, verwiesen auf den kommenden II. Teil. Lange Diskussionen in der Ost-Berliner Presse folgten. Friedrich Dieckmann hat in ›Theater der Zeit‹ (2/1969) in einer sich sehr ausführlich einlassenden Betrachtung, die vorsichtshalber als Leserbrief erscheinen musste, den Grund für die heftigen Erregungen treffend benannt: »Es ist kaum eine ›Faust‹-Inszenierung, aber es ist vielleicht die faustischste aller ›Faust‹-Inszenierungen, radikal, kritisch, neuerungsfreudig, sich lieber dem Teufel verschreibend als den Kathederschlendrian weiter mitmachend.«[3]
Der »Fall Faust« kam vor den Staatsrat. Der Vorsitzende des Ministerrats, Abusch, fragte: »Wo blieb in dem von Anfang bis Ende zweifelnden Faust Goethes sich losringender geistiger Gipfelstürmer, der Kämpfer gegen die mittelalterliche Scholastik, (…) die große Renaissancegestalt?« Der ›Verband der Theaterschaffenden‹ berief ein Colloquium ein. Die Tradition wurde eingeklagt. Die Reaktion im Theater war zornig, aber gefügig. Dresen: »Wir erfüllten die Forderungen des Ministers (…). Wir vermieden das Verbot. (…) Wir wollten nicht die internationale Blamage der DDR. Soweit waren wir noch DDR-Bürger. Unsere Opposition enthielt immer ein Stück Identität. Es ging uns da nicht viel anders als früher Brecht mit dem ›Verhör des Lukullus‹«.
Die Proben zu diesem ›Faust‹ hatten begonnen, als in Frankfurt der ›Viet Nam Diskurs‹ uraufgeführt wurde und in Prag der Prager Frühling und die Dubček-Reformen begannen. Die Proben wurden beflügelt durch die Ereignisse in Prag. Adolf Dresen suchte selbst die Berührung, im Juni war er in Prag. Er hat, im Nachdenken über die Vorgänge, später gesagt, sie seien »ganz naiv, ohne an Konsequenzen zu denken«, an die Arbeit gegangen. Er könne »heute weder sagen, daß ich das Ergebnis gewollt, noch, daß ich es nicht gewollt habe«. Er definierte damit künstlerische Arbeit, die sich der geistigen Situation der Zeit nicht entziehen kann. Am 21. August war das sozialistische Experiment in Prag zu Ende. Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts. Die Premiere des ›Faust‹ war am 30. September 1968. Das erklärt die heftige Reaktion der Partei. Dresens...
Erscheint lt. Verlag | 26.10.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | 1968 • Berliner Ensemble • DDR • Frank Castorf • Peter Zadek • postdramatisch • Rainer Werner Fassbinder • Schaubühne • Schauspiel • Studentenbewegung • Thomas Bernhard • Volksbühne • Wende |
ISBN-10 | 3-10-491619-5 / 3104916195 |
ISBN-13 | 978-3-10-491619-4 / 9783104916194 |
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