Mary (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
416 Seiten
btb Verlag
978-3-641-29676-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mary - Anne Eekhout
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Im Jahre 1816 hat Mary Shelley, gerade einmal achtzehn Jahre alt, die Geschichte von Frankensteins Monster erschaffen, eine der außergewöhnlichsten, einflussreichsten und faszinierendsten Horrorgeschichten der Weltliteratur.

Es ist der Sommer, den Mary mit ihrem Geliebten Percy Shelley, ihrem neugeborenen Sohn William und ihrer Stiefschwester Claire bei Lord Byron und John Polidori am Genfer See verbringt. Draußen toben Gewitter, nachts sitzen die Freunde am Feuer, trinken mit Laudanum versetzten Wein und lesen sich Gespenstergeschichten vor. Als Lord Byron eines Abends vorschlägt, jeder solle selbst eine Gruselgeschichte schreiben, erinnert sich Mary an einen Sommer in Schottland, als sie und ihre Freundin Isabella den mysteriösen Mr. Booth kennenlernten, einen wesentlich älteren Mann voller Charme und düsteren Geheimnissen ...

Anne Eekhout, geboren 1981, hat in Amsterdam Jura studiert und war Buchhändlerin. 2014 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, der für den niederländischen Debütprei und den AKO-Literaturpreis nominiert wurde. Ihr Roman »Mary« verkaufte sich in zahlreiche Länder und wurde international von der Kritik gefeiert.

– Hexenstunde –


Dies ist die Stunde. Jede Nacht stirbt sie, ihre Tochter. Sie entdeckt es erst am Morgen, wenngleich sie sie nachts hat daliegen sehen, so ruhig, den Kopf voll Schlaf. Doch sie weiß, dass es in dieser Stunde geschehen sein muss, der Hexenstunde, denn sie wird stets wach. Meistens nur für kurz; sie schlingt das herabgeglittene Betttuch um sich, drückt die Nase in Percys warmen Rücken; er seufzt im Schlaf, sie schläft ein. Aber manchmal, manchmal zieht es sie aus dem Bett. Sie weiß nicht genau, was es ist. Sie will nicht, und sie ist müde, sie will weiterschlafen, weiter in dieser Nacht, über diese Stunde hinaus, doch sie weiß es schon, sie muss es fühlen. Jede Minute dieser Stunde muss auf ihrer Haut brennen. Denn dies ist, was sie in die Welt setzte. Und dies ist, was so rasch verschwand.

Die Veranda hält sie trocken, ihr Mantel hält sie warm, doch nicht weit entfernt von hier ist die Welt dabei, sich selbst zu zerstören. Sie sind jetzt seit zwei Wochen in Genf, und schon seit sie hier sind, führen Sturm und Gewitter nahezu jeden Tag ein ungestümes Ritual aus. Mary liebt es, wenn das Wetterleuchten anhält, sich streckt wie eine Katze und so einige Sekunden lang den Himmel erleuchtet, ihn hellviolett färbt, als wäre er eine Leinwand, ein Zeltdach über der Erde, machte die Dinge darunter unwirklich, zu einer Geschichte und verliehe ihnen zugleich mehr Bedeutung; ihre nackten Füße auf der Veranda, das Unkraut zwischen dem Gras, die Weide am Wasser, der Jura, auf der anderen Seite des Sees aufragend, das Boot, in einer Schüssel aus Licht schaukelnd.

Auf der anderen Seite, hügelan, brennt ein schwaches Licht bei Albe und John. Das beruhigt. Dass sie jede Nacht um drei Uhr wach wird, aber wenigstens Albe auch dann noch nicht schläft. Er hält die Wacht. Ohne Zweifel mit dem Blick auf das Papier, wo seine Feder chaotisch tanzt, in die Welt schreibt, was in ihm bereits lebt.

Sie dreht sich und kippelt auf den Zehen. Im Dunkeln konnte sie ihre Stiefeletten nicht finden. Der kleine William wird leicht wach – wenngleich der Donner ihm nichts macht –, und ihre Stiefschwester Claire schläft endlich. Noch dazu in ihrem eigenen Bett. Sie gleicht gar einem kleinen Kind, und Percy nimmt sie an der Hand wie ein Vater. Nein, nicht wie ein Vater. Gewiss nicht wie ein Vater.

Ein Blitz knallt durch die Luft und summt nach; auf der Wasseroberfläche, zwischen den Baumwipfeln, auf ihrer Haut. Sturm ist hier anders als in England. Wacher. Lebendiger. Wirklicher. Als könnte sie das Licht anfassen, festhalten, als hielte es sie fest. Das Tosen, das tiefe Grollen hat etwas Körperliches, als könnte es sich gleich zu den Lebenden gesellen. Zugang erlangen zu ihrer Brust, ihrem Herzen, ihrem Blut. Nie scheint ein Ende zu kommen der aufeinanderfolgenden Tage, in denen es Nacht zu sein scheint, die Sonne sich selten blicken lässt, der Garten Sumpf ist, die Natur verstummt, und manchmal sagen sie es auch zueinander: Vielleicht ist dies das Ende der Welt. Das Jüngste Gericht. Doch dann lachen sie. Denn jeder von ihnen weiß: Gott besteht nur in Träumen und Kinderreimen. Mary reibt sich die Hände. Kälte beißt in ihre Zehen. Und manchmal, denkt sie, wenn man sehr, sehr bang ist.

Doch zurück im Bett kann sie wieder nicht schlafen. Die Kälte hat sich in ihrem Leib eingenistet, und nichts – keine Decke, kein Gedanke an ein Kaminfeuer, kein warmer Rücken von Percy – kann ihr wieder warm machen.

Es kommt durch Claire. Sie ist kaum jünger als sie, und manchmal denkt Mary, dass es Claire guttun würde, wenn Mary sie mehr als ihre leibliche Schwester sehen würde. Doch es wird jeden Tag schwieriger, Claire zu akzeptieren, geschweige denn, ihr zu helfen, sie zu trösten, zu erheitern. Die Männer scheinen es weniger ärgerlich zu finden. Albe stuft es sogar unter Frauenbetragen ein, was immer das bedeuten soll. Sie steht doch auch nicht mitten in einem Gespräch auf, um sich schluchzend auf das Sofa zu werfen, während sie sagt, es sei nichts, nein, wirklich nichts? Kein Frauenbetragen. Claire-Betragen. Es schmeichelt Percy, das weiß sie wohl. Es schmeichelt ihm, wenn Claire ihm um den Hals fällt, ihn bittet, Poesie vorzulesen, bis sie einschläft, wenn sie mit weit zurückgeworfenem Kopf über seine Scherze lacht, die blasse Haut vom Kinn bis weit, weit hinunter, ihre Brüste, die nach Blicken haschen, nach Berührung, nach Aufmerksamkeit. Claire kann nicht ohne Aufmerksamkeit existieren. Sie würde wahrscheinlich sterben, wenn sie drei Tage lang ignoriert werden würde. Das hat sie von ihrer Mutter, von Mary Jane, diese Sucht nach Aufmerksamkeit. Mary denkt, dass ihr Vater keine Ahnung hatte, wie hysterisch, wie eitel, wie herrisch Mary Jane war, bis er sie heiratete und sie und ihre Tochter Claire bei ihnen einzogen. Schon seit Mary wusste, rational wusste, dass sie keine Mutter hatte, war das der Inbegriff von Kummer. Der gesamte Kummer sank in genau diese Form, wurde in diesem Spiegel betrachtet. Doch von dem Moment an, da ihr Vater wieder heiratete, war das die Schale, in der gewogen wurde: diese Mutter oder keine Mutter? Und immer liefen ihre Gedanken auf dasselbe hinaus: keine Mutter. Oder zumindest mit den Geschichten über ihre eigene tote Mutter zu leben, mit dem Bild über dem Schreibtisch ihres Vaters, von der Frau, die so vielen Menschen wichtig war: so klug und mutig, so eigensinnig in ihrem Leben und ihren Überzeugungen. Sie war nicht mehr da, Mary hatte sie nie gekannt, aber sie war überall. Und vor allem: Sie war vollkommen. Sie würde Mary nie böse sein. Sie würde deren Entscheidungen nie missbilligen. Mary würde sich nie vor ihrer Mutter schämen. Und sie würde nie Angst haben müssen, ihre Liebe zu verlieren. Ihre Mutter würde sie immer lieben, wie sie es auf ihrem Sterbebett getan hatte: Mary als ihr kleines Püppchen in den Armen, die reine, umfassende, unbefangene Liebe würde nie die Gelegenheit bekommen, nachzulassen oder mit Alltäglichkeit beschmutzt zu werden. Und so war ihre Mutter in Marys Kopf. Eigentlich die perfekte Mutter. Trotz oder dank des Umstands, dass sie nicht mehr da war.

Ein Donnerschlag, Percy dreht sich mit einem Ächzen um. Sein Knie bohrt sich in Marys Seite. Im Mondlicht, das zwischen dem Spalt der Fensterläden hereinscheint, kann sie sein Gesicht gewahren. Ihr herzergreifend schöner Elf. Sie kennt keinen Mann, der mit solch feinen Zügen und einer durchsichtigen Haut wie ein Satinschmetterling, fast wie ein Mädchen, eine solche Anziehungskraft auf sie hat. Und sie ist seine große Liebe. Das weiß sie durchaus, doch einfach ist das alles nicht. Dass seine Lebensphilosophie nicht ganz die ihre ist, vielleicht schon in der Theorie, aber denn doch nicht in der Praxis, stellt ihre Liebe ein ums andere Mal auf die Probe. Vielleicht ist es noch zu ertragen, dass er von Zeit zu Zeit eine andere Frau liebt. Vielleicht. Aber dass es ihm nichts ausmacht, er sie sogar ermuntert, das Bett mit einem anderen Mann zu teilen, peinigt ihre Seele. Zugleich sieht sie, wie er schaut, wenn sie mit Albe über dessen Gedichte spricht oder über ihren Vater. Das sind die Momente, da die Eifersucht bei ihm zuschlägt, denkt sie, in seinen Augen kalte Angst. Die Eifersucht, die er dann verspürt, hat nichts mit ihr zu tun. Percy fürchtet nicht, dass sie Albe ihm vorziehen würde. Er fürchtet, dass Albe sie ihm vorzieht. Dass der große wilde Poet Lord Byron sie interessanter findet als Percy Shelley, der noch so viel lernen muss. Hat er auch genügend Talent? Aussagekraft? Percy setzt seine Hoffnung in Albe. Ob er ihm das Licht zeigen kann? Ob Albe ihm Rat geben, sein Mentor, vielleicht sogar sein Freund werden kann? Gelegentlich, wenn Percy so unsicher ist – oh, er sagt es nicht, aber sie sieht es ihm an; die schwache Hoffnung in seinen Augen, die kindliche Ungeduld in seinen Bewegungen –, dann fürchtet sie einen Moment lang, dass sie ihn nicht liebt.

Sie küsst ihn sanft auf die Wange. Er ächzt wieder. Er dreht sich um. Das Knie in ihrer Seite verschwindet. Und der Schlummer kündigt sich, endlich, an. Sie spürt, wie sich die Arme des Schlafs gleich Flügeln ausbreiten, sie fest einwickeln, beschützend, nicht unangenehm, und ihr Bewusstsein mitnehmen.

*

Nach der Reise, die ihm nicht sehr zu gefallen schien, nun ja, Kinder sind nicht zum Reisen geschaffen, scheint sich William im Maison Chapuis zu Hause zu fühlen. Die Zimmer sind groß und hell, mit hohen Fenstern, die Ausblick auf den weitläufigen Garten, den See, den Jura dahinter bieten. Und auf den Regen natürlich. Auf den steingrauen Himmel. Er ist noch zu klein, um herumzukrabbeln. Sonst hätte sie ihm ohne Zweifel den ganzen Tag durch alle Zimmer hinterher sein müssen, ihn vom Kamin fernhaltend, von Bücherregalen, Tischecken. Aber er hat gerade erst gelernt, sich umzudrehen, vom Rücken auf den Bauch, und mehr wird es vorläufig nicht. Ihr Willmouse ist fünf Monate alt, und sie genießt jeden seiner Tage. Gleichwohl kann sie den Gedanken an sie, ihre Erste, nicht loslassen. Wenn sie gelebt hätte, wäre sie hier umhergetapst. Kurze, mollige Beinchen, nackte Füßchen tapp-tapp vom Kaminvorleger auf die glänzenden Holzdielen, über die Schwelle tapp-tapp, im Gang hoppelnd, zur Treppe, nein, das darfst du nicht, komm mal her, zurück an die Hand, gut so. Schau, da ist dein Brüderchen, streichle ihn mal.

»Alles in Ordnung?« Claire lässt sich neben Mary auf das Sofa plumpsen. William, der die Augen gerade zugemacht hatte, öffnet sie wieder. Claire kitzelt ihn unter dem Kinn. »Du starrst so vor dich hin.«

Mary nickt. Claire begreift nicht, selbst nach all diesen Jahren, dass Mary manchmal aus der Welt ist. Aber Claire ist nicht genau wie sie, nicht im Blut,...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2022
Übersetzer Hanni Ehlers
Sprache deutsch
Original-Titel Mary
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • eBooks • Frankenstein • Genfer See • historisch • Historische Romane • Horror • Jahr ohne Sommer • Laudanum • Lord Byron • Mary Shelley • Monster • Neuerscheinung • Percy Bysshe Shelley • Roman • Romane • Romantik • Schauerroman • schottische Legenden • Schottland • Schweiz • Weiblichkeit
ISBN-10 3-641-29676-5 / 3641296765
ISBN-13 978-3-641-29676-6 / 9783641296766
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