Moriarty und der Schächter von London (eBook)
280 Seiten
Dryas Verlag
978-3-948483-88-3 (ISBN)
Oliver Hoffmann, geboren 1965 in Mannheim, studierte Germanistik und Politische Wissenschaft. Seit seinem Studium arbeitet er an und mit Texten. Hoffmann lebt mit seiner Frau, zwei Ragdolls und entschieden zu vielen Büchern in Mannheim.
Oliver Hoffmann, geboren 1965 in Mannheim, studierte Germanistik und Politische Wissenschaft. Seit seinem Studium arbeitet er an und mit Texten. Hoffmann lebt mit seiner Frau, zwei Ragdolls und entschieden zu vielen Büchern in Mannheim.
Old Smoke.
So hat meine Mutter das Kronjuwel des Empires immer genannt, weil man in vielen Stadtteilen Londons auch tagsüber die Hand nicht vor Augen sieht, so verrußt ist die Luft vom Auswurf der vielen improvisierten Herde und Öfen, in denen Dung, Dreck und Abfall verbrannt wird. Ständig ist es feucht, und wenn der Himmel über der Stadt nicht von Regenwolken verdunkelt ist, aus denen ständiger Niesel fällt, dann legen sich von der Themse her Nebelschwaden über die alten, grauen Häuser Londons. Es riecht nach kokelndem Unrat, nach ungewaschenen Leibern, nach sauer eingelegtem Kohl, nach Krankheit und Armut.
Sicher, in den gehobenen Stadtvierteln, in denen der Mann, von dem ich Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, auf den folgenden Seiten dieses bescheidenen Pamphlets zu berichten gedenke, ein- und ausgeht, bekam man davon nicht zu viel mit, aber in den Gedärmen der Stadt, in ihren Eingeweiden, im fauligen, stinkenden Gekröse der Themsemetropole, wo ich und meinesgleichen unser Dasein fristen, da spürt man dieses übelriechende Halbdunkel bei Tag am eigenen Leibe, und bei Nacht weicht es einer im wahrsten Wortsinne lebensbedrohlichen Finsternis.
Da, wo ich herkomme, in den Vierteln, wo ich mich bewege, in Whitechapel und Brixton, Tower Hamlets, Limehouse und Shoreditch, da wohnt nicht nur das Laster, da sitzen auch die Klingen locker. Nacht für Nacht wechselt Hehlerware den Besitzer, werden böse Taten besprochen, gibt es Streit und Händel – und ja, jede Nacht gibt es Tote in den Vierteln, die ich mein Zuhause nenne. Jede Nacht fordert dort ihren Blutzoll. Das ist so, es handelt sich um eine unumstößliche Tatsache des Lebens, und jeder weiß es, und doch kann ich mich einfach nicht daran gewöhnen. Ich habe im Laufe meines noch jungen Lebens viel gesehen, und die unappetitlichen Details möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen, liebe Leser, gerne ersparen, doch nach wie vor trifft mich der Anblick von Toten tief, und selbst der Gedanke an den Tod schmerzt mich jedes Mal aufs Neue in der Seele.
Aber ich greife vor. Ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht richtig vorgestellt!
Nun ja, auch wenn ich wohl nie so genau erfahren werde, welche feinen Damen und welche Gentlemen sich die Ehre geben, meine Zeilen zu lesen, dürfen Sie zumindest meinen Namen gern wissen. Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Gebot der Höflichkeit, oder wie das heißt.
Ich bin Molly Miller, und geboren bin ich im Jahre des Herrn – so sagt man doch, nicht wahr? – 1878 in jener großen Stadt an der Themse, die ich auch heute noch mein Zuhause nenne und mit der mich eine glühende Hassliebe verbindet. London.
Dort stand mein Elternhaus, das ich mit Fug und Recht als zerrüttet bezeichnen darf. Nicht, dass es im Wortsinne meinen Eltern gehört hätte – wir wohnten zur Miete, wie alle in unserem Viertel, in unserem Fall zu viert in einem Zimmer, was gerade für eine irische Familie geradezu luxuriös geräumig war. Mit schöner Regelmäßigkeit durften am Monatsende Wetten abgeschlossen werden, ob dieses Mal genug Geld da sein würde, um die gierige Handfläche des Mieteintreibers zu schmieren, der jeden letzten Donnerstag im Monat pünktlich wie die Uhr vor unserer Tür erschien, um für den Besitzer der Mietskaserne abzukassieren.
Mein Vater Bartholomew Miller war Fleischhauer auf dem Smithfield Market, meine Mutter Tanya, eine geborene O’Brien, war Näherin. Beide gläubige Katholiken, auf ihre Weise. Ich habe eine Schwester namens Mary. Meine Eltern haben uns auf die Schule geschickt und uns eingebläut, wir müssten es mal weiter bringen als sie. Na ja. Jedenfalls hab ich da lesen gelernt, meine große Leidenschaft, nein, meine kleine Flucht. Schon mit sieben, acht habe ich alles gelesen, was mir in die Finger kam. Alte Zeitungen, die ich auf der Straße fand, Groschenhefte und bald eben auch schon Dickens. Ich hab früh kapiert, was Bücher in Wirklichkeit sind: Notausgänge für ’n kluges Kind, das ansonsten nicht raus kann aus seiner engen, dreckigen, fiesen Welt.
Tja, mein Vater hätte meiner Mutter bestimmt noch viele kleine irisch-katholische Bälger gemacht, hätte er sie nicht eines Tages volltrunken die Treppe hinuntergeprügelt. Er ist dann zur Arbeit gegangen und hat es mir überlassen, Hilfe für sie zu suchen. Da war ich sechs Jahre alt.
Zwei Tage danach ist sie im Armenspital in der Kingsland Road ihren inneren Verletzungen erlegen.
Ein paar Monate später ist Mary ins Kloster gegangen und hat die Gelübde abgelegt, weil unser Vater ihr aus Ermangelung einer Ehefrau an die Wäsche wollte. Ich habe es noch fast sieben Jahre unter demselben Dach mit ihm ausgehalten, habe versucht, so wenig wie möglich zu Hause zu sein, wenn er es war, heimzukommen und einzuschlafen, wenn er volltrunken ins Bett gefallen war, und mich davonzustehlen, ehe er aus seinem Stupor wieder aufwachte.
Als ich dreizehn war, hat er das erste Mal versucht, mir Gewalt anzutun. Es ist bei dem einen Mal geblieben.
Danach bin ich von zu Hause weggelaufen und habe mich auf den Straßen Londons durchgeschlagen. Ich will Sie, werte Leserinnen und Leser, nicht mit den Details meines unappetitlichen Lebens langweilen, will Ihnen Mundraub und Arbeitshaus, das Leben auf der Straße und die großen und kleinen Grobheiten des sogenannten starken Geschlechts, die man offenbar auszuhalten hat, wenn man als Mädchen allein zurechtkommen muss, ersparen. Schließlich dienen diese Zeilen dazu, von meiner Begegnung mit einem überaus außergewöhnlichen Mann zu erzählen und von dem Wirbelwind von Ereignissen, den ich an seiner Seite erlebt habe. Deshalb mag es genügen, wenn ich sage, es gab viele Höhen und Tiefen, aber die Tiefen haben überwogen.
Andererseits sind die tiefsten Tiefen schon eine ganze Weile her.
Die Geschichte, die ich Ihnen zu erzählen beabsichtige, beginnt ziemlich genau drei Jahre, nachdem ich meinem Elternhaus endgültig den Rücken gekehrt hatte. In jener Zeit lebte ich ganz gut von kleineren und größeren Einbruchdiebstählen in den reicheren Vierteln der Stadt wie Mayfair, Westminster und Kensington. Mein Quartier war ein Verschlag im Hof eines Wirtshauses in Whitechapel, in dem einstmals wohl ein Wagen oder eine Kutsche untergestellt gewesen war, der dem Koch aber heute als Vorratslager diente. Für ein paar kleine Münzen im Monat ließ er mich hier nächtigen, und die Stricher und Huren, die Kartenhaie und Hehler der Gegend versorgten mich gegen erschwingliche Beteiligungen mit Tipps, wo es sich einzusteigen lohnte. Ab und an stieg ich für Letztere auch gezielt in Herrenhäuser und Villen ein und besorgte bestimmte Beutestücke – Geld bar auf die Hand und keine Fragen.
Um Zuneigungsbezeugungen der unerwünschten Art, von Kniffen in den Hintern über geraubte Küsse und Tatschereien bis hin zu dem, wovor wohl jedes Mädchen und jede Frau in London am meisten Angst hatte, zu entgehen, nannte ich mich seit einigen Monaten Tom, trug enganliegende Männerkleidung und umwickelte jeden Morgen meine ohnedies nicht üppige Oberweite mit mehreren Schichten Leinenverbänden. Das presste meine Brüste – die im Vergleich zu dem, was die Freudenmädchen aus den Hurenhäusern der Umgebung in ihren weit ausgeschnittenen Korsagen zur Schau trugen, geradezu nicht der Rede wert waren – eng an meinen Körper. Überdies war ich immer schon gut darin gewesen, Gangart, Bewegung und Sprechweise anderer zu imitieren, und so hatte ich mir die Persönlichkeit eines ziemlich kleinen, schlanken, aber wendigen Straßenjungen zugelegt.
In der Nacht Anfang Mai 1894, die mein Leben für immer verändern sollte (auch wenn ich das zu Beginn jenes Abends noch in keinster Weise ahnte), huschte ich wendig und lautlos über die Dächer der Dunraven Street im Londoner Distrikt Mayfair, einem Viertel im Londoner West End am östlichen Rand des Hyde Parks. Hier, zwischen Oxford Street, Regent Street, Piccadilly und Park Lane, lebten wohlhabende, gebildete und kultivierte Londoner unter sich. Kurzum, Mayfair war eines der teuersten Pflaster der Hauptstadt. Der Nachtwind zauste meine roten Locken, doch ich ließ mich nicht beirren. Dunraven Street 1, das Eckhaus zur Park Lane, das laut den Auskünften des Hehlers, in dessen Auftrag ich unterwegs war, irgendein Schnösel mit mehr Bildung und Geld, als ihm guttat, bewohnte, war mein Ziel.
Wie immer trug ich bei der Arbeit enganliegende, lederne Männerkleidung. Meine schlanken, muskulösen Beine trugen mich raschen Schrittes über die Bohlen der Flachdächer. Manchmal, wenn unten eine Fußstreife vorbeikam, verbarg ich mich im Schatten eines der zahllosen Kamine. Schließlich setzte ich mit einem kühnen Sprung über eine Lücke zwischen zwei Wohnhäusern und prallte hart auf dem Dach des Gebäudes auf, das mein Ziel war. Sofort rollte ich mich ab, blieb flach auf dem Bauch liegen und robbte in Richtung des kugelförmigen Oberlichts. Es war erfreulicherweise offen. Mächtig und Ehrfurcht gebietend ragte das Messingrohr eines Teleskops daraus...
Erscheint lt. Verlag | 19.9.2022 |
---|---|
Reihe/Serie | Moriarty ermittelt |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | Krimi • London • Professor Moriarty • Serienmörder • Sherlock Holmes • Viktorianischer Krimi • Viktorianisches Zeitalter |
ISBN-10 | 3-948483-88-4 / 3948483884 |
ISBN-13 | 978-3-948483-88-3 / 9783948483883 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,3 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich