Terra di Sicilia. Die Rückkehr des Patriarchen (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
544 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-26095-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Terra di Sicilia. Die Rückkehr des Patriarchen -  Mario Giordano
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Das große deutsch-italienische Familienepos von Bestsellerautor Mario Giordano - sinnlich, farbenfroh, imposant.
Ende des 19. Jahrhunderts wächst Barnaba Carbonaro in einem archaischen Sizilien auf, den Kopf voller Träume von Reichtum und einer Familiendynastie. Und tatsächlich steigt er mit Gewitztheit und Mut vom bettelarmen Analphabeten zum Dandy auf und schließlich zum geachteten Zitrushändler auf dem Münchner Großmarkt. Ein Leben wie eine Odyssee, voller Triumphe und bodenloser Niederlagen, getrieben von einer unstillbaren Sehnsucht. Barnaba zeugt vierundzwanzig Kinder, verdient ein Vermögen und verliert alles. Am Ende seiner langen Reise blickt der Patriarch auf den hungrigen Jungen zurück, der auszog, den Göttern das große Glück abzutrotzen. Und er versteht, dass ihm zwischen Abschieden und Neuanfängen, zwischen süßen Mandarinen und bayerischem Schnee etwas viel Größeres gelungen ist.

Ein großes deutsch-italienisches Familienepos: sinnlich, farbenfroh, imposant.

Mario Giordano, geboren 1963 in München, ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine Romane sind in über 15 Sprachen übersetzt worden, mit seinen »Tante Poldi«-Krimis stand er in Deutschland und den USA regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Zudem verfasste er u.a. die Romanvorlage und das Drehbuch zu »Das Experiment« sowie Bilder- und Jugendbücher. Seine beiden Romane über die Familie Carbonaro basieren auf der Geschichte seiner eigenen Familie. Mario Giordano lebt in Berlin.

TAORMINA 1890


»Wie ist dein Name?«

»Barnaba, Herr. Aber alle nennen mich Nino. Ich bin auch ein Baron.«

»Soso. Hast du heute schon was gegessen, Barnaba?«

»Nein, Herr.«

»Hier, probier mal, mein kleiner Baron.«

Der Fotograf reicht ihm ein mit ricotta gefülltes Cremeröllchen und sieht zu, wie Barnaba mit aufgerissenen Augen den ersten cannolo seines Lebens verschlingt. Natürlich hat er cannoli schon gesehen, im Fenster der Pasticceria Russo am Corso Umberto, aber sein Vater hat ihm noch nie einen gekauft. Barnaba will die Köstlichkeit so lange wie möglich genießen, aber er hat Hunger, schrecklichen Hunger, er kann einfach nicht anders.

Der cannolo überrennt seine Sinne. Die Kruste des Röllchens zersplittert beim ersten Biss, und sein Mund füllt sich mit einer Wolke aus schneeweißem Quark. Aromen verpuffen wie Feuerwerksböller an San Pancrazio. Da knistert Karamell, pocht Vanille an seinem Gaumen, und er beißt auf, ach, bittersüße Orangenschale, kandierte Kirschen und geröstete Pistazien. Und überall zugleich wie die Hand seiner Mutter ist da die ricotta, mild-süß, säuerlich und ein kleines bisschen salzig.

Eruptionen der Seligkeit. Steinchen in ein stilles Meer geworfen, die Wellen schlagen, tiefer sinken und ganz unten am Grund schließlich etwas Uraltes aufwirbeln, aus dem seine Träume und Wünsche bestehen.

»Schmeckt er dir?«

Barnaba nickt ergriffen.

»Wunderbar«, sagt der Baron auf Deutsch. Und auf Sizilianisch weiter: »Wenn ich es sage, musst du ganz stillstehen. Kannst du das?«

»Ja, Herr.«

Mariano Bagarella und Vincenzo Cuddetta haben ihm bereits alles erklärt. Dass er nur stillsitzen und seinen Pimmel herzeigen müsse. Kleinigkeit.

Ein Hustanfall schüttelt den Baron. Er röchelt in sein Taschentuch. Barnaba weiß nicht, was Tuberkulose ist, er weiß nur, dass der Baron sich jeden Tag von Mariano Bagarellas Vater und zwei Maultieren Krüge voll frischem Meerwasser aus Giardini hinaufschaffen lässt. Jedenfalls muss der Baron sehr reich sein, wenn er sich jeden Tag Meerwasser bringen lassen kann. Die anderen Fremden, die mit Gespannen über die neue Straße anreisen, besuchen ihn in seinem Studio und lassen sich seine Fotografien zeigen. Also muss sein Reichtum damit zusammenhängen.

Barnaba überlegt, wie es sich wohl anfühlen mag, reich zu sein, und ob man davon Husten bekommt. Aber selbst mit Husten könnte man dann immerhin jeden Tag cannoli essen.

»Genau«, ächzt der Baron auf Deutsch, wirft einen Blick in sein Taschentuch und steckt es wieder ein. »Das ist ein schöner, verträumter Ausdruck. Genauso machst du es nachher. Ganz entspannt, aber beweg dich keinen Millimeter, hörst du?«

Barnaba hat keine Ahnung, was ein Millimeter ist, aber als er sich die letzten Krümel und Reste der Creme von den Fingern leckt, ist er bereit, alles zu versprechen.

»Ja, Herr.«

»Wenn du gut bist, kriegst du eine halbe Lira. Wirst du das schaffen, Barnaba?«

»Eine Lira.«

»Wie bitte?«

»Ich krieg es hin für eine Lira.« Er blinzelt nicht mal. Der Baron starrt ihn an und lacht dann.

»Wunderbar! Du wirst es noch weit bringen, Junge. Zieh dich aus, wir machen erst eine Probe.«

Der deutsche Fotograf, den sie im Ort u baruni nennen, sieht zu, wie Barnaba seine geflickte Hose und das Hemd abstreift. Als er Barnaba von allen Seiten mustert, lacht er nicht mehr.

»Wann hat dein Vater dich zuletzt geschlagen?«

»Heute Morgen, Herr.«

»Er soll damit aufhören, sonst kann ich dich nicht gebrauchen, sag ihm das.«

»Ja, Herr.«

»Komm mit.«

Barnaba hat noch nie ein Bad gesehen. Sein Vater wäscht sich fast nie, seine Mutter benutzt manchmal eine alte Zinkschüssel hinter dem Haus. Aber im Haus des Barons gibt es sogar ein kleines Zimmer mit gekachelten Wänden und einem Spiegel, mit einem gusseisernen Ofen und einer emaillierten Zinkwanne. Der Baron drückt Barnaba ein Stück Seife in die Hand, das nach Orangenblüten duftet, und deutet auf die Wanne.

»Weißt du, wie man sich wäscht?«

»Ja, Herr.«

»Gut. Aber richtig, hörst du, auch hinter den Ohren und untenrum, und vergiss die Finger nicht. Ein Baron darf nicht mit Seife sparen.«

Er lächelt ihn an und lässt Barnaba allein. Aus dem Garten dringen das Husten des Barons und Vogelgezwitscher herein. Ein schöner Tag.

Barnaba posiert vor dem Spiegel und inspiziert das Bad. Es gibt sogar ein hölzernes Wasserklosett, das erste, das Barnaba in seinem Leben sieht. Er öffnet vorsichtig den Deckel, drückt die Handpumpe und verfolgt begeistert, wie das Wasser durch den Abort strudelt.

Barnaba strullt ins Klosett und beeilt sich mit dem Waschen. Die Seife schäumt viel mehr als der graue Klotz, den seine Mutter für die Wäsche verwendet. Braunes, schaumiges Wasser gurgelt in den Ausguss und hinterlässt einen Rand. Barnaba sieht sich um, nach irgendwas, das sich eventuell zu klauen lohne, aber dann fällt ihm ein, dass er ja nackt ist.

Als er wieder in den Garten tritt, sitzt der Baron im Schatten einer Palme und häutet sorgfältig einen Pfirsich. Ab und zu hält er inne, um zu husten. Er trägt einen Strohhut, eine helle Leinenhose und ein offenes weißes Leinenhemd, die Ärmel hochgekrempelt. Er wippt versonnen mit den Füßen, die in hellen Slippern und Seidenstrümpfen stecken, was Barnaba noch nie gesehen hat.

Obwohl er aus dem Norden kommt, wie die Leute sagen, auch wenn Barnaba keinen Schimmer hat, was das eigentlich bedeutet, schwitzt der Baron kaum. Die Hitze scheint an seiner eleganten Erscheinung abzuperlen. Noch Jahre später wird sich Barnaba vor allem an die Eleganz dieses großen Mannes mit dem gezwirbelten Nazarenerbart erinnern, den die Tuberkulose und die Prüderie des wilhelminischen Deutschlands in Taormina angespült hatten. Wenn einer aus dem Ort klamm ist, beschäftigt der Baron ihn für eine Weile als Gärtner oder für irgendwelche handwerklichen Arbeiten, damit es nicht nach Almosen aussieht. Der Baron hat verstanden, wie wichtig bella figura in Sizilien ist. Daher schicken ihm die Leute ihre Töchter und Söhne zum Fotografieren und auch gelegentlich abends ihre halbwüchsigen Söhne, wenn der Baron wieder einmal ausländische Gäste in seinem Haus an der Piazza San Domenico hat.

Barnaba hat den Baron bislang nur aus der Entfernung gesehen, unterwegs mit seinem großen Fotoapparat und dem zusammengefalteten Zelt, in dem er die Platten anschließend entwickelt. Er kennt Namen und Verwandtschaftsbeziehungen, hat immer Zeit für kleine Plaudereien, stellt Fragen, hört zu. Obwohl er ein Herr aus dem Norden ist, spricht er den Dialekt der Leute.

Der Baron reibt Barnaba zuerst am ganzen Körper mit einer Creme aus Glyzerin, Milch und Olivenöl ein, um die blauen Flecken und Narben abzudecken, die Barnabas kleinen Körper zeichnen. Dann führt er ihn zu einer Steinbank zwischen Oleanderbüschen.

»Setz dich da hin und schlag die Beine untereinander. Nein, anders herum, ja, so. Genau. Bleib so.«

Er drückt Barnaba einen Blumenkranz auf den Kopf und eine Panflöte in die Hand und zeigt ihm, wie er sie halten soll. Wie er den Kopf drehen soll. Wie er sich hinsetzen soll, sodass man seinen Pimmel sehen kann. Es ist doch schwerer, als Barnaba gedacht hat, aber für einen cannolo und eine Lira hätte er sogar den ganzen Tag regungslos auf einem Bein gestanden. Eine Lira! Selbst wenn er den Vater und Mariano Bagarella und Vincenzo Cuddetta bescheißt und ihnen nur jeweils zehn Centesimi abliefert, kann er für die restlichen siebzig zwei Brote, Öl und Tomaten kaufen. Oder sparen. Er überschlägt kurz, wie oft er stillsitzen muss, um genug Geld für eine Zugfahrkarte nach Messina zurückzulegen, um für immer abzuhauen. Dann überschlägt er, wie lange er stillsitzen muss, um auch seine Mutter mitzunehmen. Dann überschlägt er, wie lange er stillsitzen muss, um …

»Eh!«

»Ja, Herr?«

»Warum verdrehst du die Augen? Still hab ich gesagt!«

»Verzeiht, Herr. Ich habe gerechnet.«

»Verdammt, du sollst nicht rechnen, Kerl, du sollst stillsitzen. Nein, wir lassen das. Du kannst gehen. Ich kann dich nicht gebrauchen.«

Ein Anflug von Panik erfasst Barnaba. »Ich werde stillsitzen, Herr! Ganz still. Ich kann das gut. Bitte!«

Der deutsche Fotograf sieht ihn prüfend an. Dann korrigiert er erneut Barnabas Pose, zupft, was Barnaba seltsam findet, an seinem Pimmel herum wie ein Doktor.

»Der ist schön, du hast Glück«, sagt der Fotograf. »Und ab jetzt keine Bewegung mehr.«

Der Fotograf zückt eine Stoppuhr und lässt Barnaba nicht aus den Augen. Und Barnaba tut das, was er immer tut, wenn sein Vater ihn verdrischt: stillhalten und rechnen. Er addiert die Neunerreihe, bildet die Quersumme der ungeraden Zahlen, sucht Zahlen, die sich durch drei teilen lassen. Alles diesmal ohne jeden Mucks. Die Zahlen beruhigen ihn, tragen ihn fort an einen schönen Ort. Jede Zahl von Null bis Neun hat ihre Farbe. Die Eins ist ganz aus cremigem Weiß gewebt. Die Zwei leuchtet wie eine Zitrone, die Drei wie eine Erdbeere. Die Fünf – das ist der Himmel an einem Sommernachmittag. Die Neun ist so violett wie eine vollreife Maulbeere. Und so bilden die Ergebnisse seiner Rechnungen immer schöne bunte Muster, an denen er sich erfreut, wenn sein Vater ihn schlägt oder wenn der Hunger zu stark wird. Nun jedoch haftet den Zahlen etwas Neues an, hüllt sie ein...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2022
Reihe/Serie Die Carbonaro-Saga
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Bücher Roman • eBooks • Familiensaga • Fruchthändler • gebundenes Buch • Hardcover • Immigration • München • Neuerscheinung • Neuerscheinung Roman • Obsthändler • Roman • Romane • Sizilien
ISBN-10 3-641-26095-7 / 3641260957
ISBN-13 978-3-641-26095-8 / 9783641260958
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