BÄR (eBook)

Roman - Mit einem Nachwort von Kristine Bilkau

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
208 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-28493-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

BÄR -  Marian Engel
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Lou ist eine schüchterne, fleißige Bibliothekarin. Sie lebt eine maulwurfartige Existenz, begraben zwischen vergilbten Karten und Manuskripten in ihrem staubigen Kellerbüro. Da sie nichts und niemanden hat, zu dem sie nach Hause gehen kann, gibt sie sich dem leidenschaftslosen Sex mit dem Direktor des Instituts auf ihrem Schreibtisch hin. Den Sommer soll sie auf einer abgelegenen Flussinsel im Norden Kanadas verbringen, um den Nachlass von Oberst Jocelyn Cary zu katalogisieren. Dass sie nicht allein in der Einsamkeit der kleinen, wuchernden Insel lebt, sondern sich auch um einen halbzahmen Bären kümmern muss, hat ihr vorher niemand erzählt. Als der Sommer über der Flussinsel blüht und Lou die Stadt von sich abschüttelt, verfliegt der erste Schreck über dieses hungrige, undurchschaubare Wesen mit seinem dicken Pelz und seiner rauen Zunge, und Lou erforscht die Grenzen ihrer Lust...

Marian Engel (1933-1985) wurde in Toronto, Kanada, geboren. Sie studierte Franzöisch in Aix-en Provence und arbeitete als Übersetzerin in England. Für ihr Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Toronto Book Award. »Bär« ist ihr bekanntester Roman, den sie 1976 veröffentlichte und für den sie mit dem General Gouverneurs Award, dem wichtigsten literarischen Preis Kanadas, ausgezeichnet wurde. Marian Engel war 1973 Gründungsmitglied und erste Vorsitzende der Writer's Union of Canada.

I


Im Winter lebte sie wie ein Maulwurf, tief vergraben in ihren Papieren, und wühlte zwischen Karten und Manuskripten. Sie wohnte nicht weit von ihrem Büro und erledigte ihre Einkäufe auf dem Weg zum Institut, eilte hastig, ohne Zeit zu verlieren, durch den Schlauch des Winters von Zufluchtsort zu Zufluchtsort. Sie mochte die kalte Luft auf ihrer Haut nicht.

Ihr Zimmer im Keller des Instituts lag dicht bei den Heizungsrohren und war schützend gesäumt von Büchern, hölzernen Aktenschränken und uralten, vergilbten, gerahmten Fotografien von Menschen und Orten, die man dort nicht erwartet hätte. General Booth und die Heimatstadt von irgendjemandes Großmutter, Frankreich aus der Luft im Jahr 1915, Gruppenbilder von Sportlern und Frontsoldaten; Dinge, die Leute ihr brachten, weil sie nichts zurückwies, weil es ihr Beruf war, alles aufzubewahren.

»Schmeißen Sie nichts weg«, sagten die Leute. »Schaffen Sie alles zum Historischen Institut. Möglich, dass die es gebrauchen können. Er ist vielleicht doch bedeutender gewesen, als wir dachten, auch wenn er ein Säufer war.« Dank jener Freigebigkeit hatte sie also bekommen: eine Weihnachtskarte aus dem Schützengraben mit einem aufgeklebten Zelluloidstiefel; ein Gedicht an die Stadt Chingacousy auf Pergament und mit einer Haarlocke verziert; eine signierte Fotografie des Gründers einer Samenhandelsgesellschaft, die längst von einem Konkurrenten geschluckt worden war. Belanglose Kleinigkeiten, die ihr halfen, sich daran zu erinnern, dass es vor langer Zeit eine Außenwelt gegeben hatte, dass das Heute mehr war als nur ein Gestern mit seinem Papier, das vergilbte, und seiner Tinte, die braun wurde, und seinen Landkarten, die fast zerfielen, wenn man sie auseinanderfaltete.

Doch wenn das Wetter umschlug und die Sonne sogar durch ihre Kellerfenster sickerte, wenn in den Sonnenstrahlen der Frühlingsstaub wirbelte und die alten Blechaschenbecher anfingen, nach einem Winter voller Nikotin und Besinnlichkeit zu stinken, wurden die Risse in ihrer trägen kleinen Welt selbst für sie sichtbar, denn obwohl sie alte, schäbige Dinge liebte, Dinge, die schon einmal geliebt und erlitten worden waren, Gegenstände mit Vergangenheit, schämte sie sich doch, wenn sie sah, dass ihre Arme bleich wie Nacktschnecken und ihre Fingerspitzen von uralter Tinte gemasert waren, dass der Reliktenkram, mit dem sie ihre Pinnwände pflasterte, verknittert und wertlos war und dass sie ihre Augen nicht mehr auf das Licht einstellen konnte, denn die Vorstellung von einem lebenswerten Leben, die vor sehr langer Zeit ihrer Seele aufgeprägt worden war, unterschied sich beträchtlich von allem diesem, und sie litt unter dem Gegensatz.

Doch in diesem Jahr sollte sie dem beschämenden Moment der Erkenntnis entrinnen. Der Maulwurf würde nicht zugeben müssen, dass er eigentlich eine Antilope hätte werden wollen. Der Direktor fand sie zwischen ihren Aktenordnern und aufgerollten Landkarten, und während er feierlich unter einer Reihe von Familienporträts stand, die dem Institut mit der Begründung geschenkt worden waren, es wäre ketzerisch, sie – wie es damals Mode war – ins Badezimmer zu hängen, verkündete er, dass die Sache mit dem Cary-Nachlass nun endlich zu Gunsten des Instituts entschieden worden sei.

Er sah sie an, sie sah ihn an – es war geschehen. Endlich einmal hatte man ihnen etwas wirklich Wertvolles hinterlassen, anstelle der ewigen Anwesenheitstestate für die Sonntagsschule, alten Auswanderungspapieren, Briefumschlägen mit Sonntagsfotos von unbekannten Farmern und verblichenen Liebesbriefen.

»Du gehst am besten gleich packen«, sagte er, »und fährst rauf und machst dich an die Arbeit. Die Abwechslung wird dir guttun.«

Vier Jahre zuvor hatten sie aus dem Brief einer Anwaltskanzlei in Ottawa erfahren, dass der Reinnachlass aus dem Besitz von Colonel Jocelyn Cary – Cary Island mit dem Landsitz Pennarth und allem, was sich in den dazugehörigen Gebäuden befand, eingeschlossen – dem Institut zufallen würde. Die Anwälte fügten hinzu, dass sich nach ihrem Wissen in Pennarth eine umfangreiche Bibliothek befinde mit wichtigem Material über die Anfänge der Besiedlung jener Region.

Lou und der Direktor durchforschten ihre Unterlagen nach Hinweisen auf Cary und schickten wissenschaftliche Mitarbeiter hinüber ins Provinzarchiv. Sie förderten eine Aktennotiz in der archaischen Handschrift von Lous Vorgängerin, Miss Bliss, zu Tage, den Besuch einer gewissen Colonel Jocelyn Cary im Jahre 1944 betreffend, in dessen Verlauf die Erbschaft zur Sprache gekommen war. Der damalige Direktor war zu der Zeit in Übersee; das Institut verödete. Nichts war unternommen worden, dem Angebot nachzugehen, und als Lou die Phase des Erwachsenwerdens hinter sich hatte und anfing, am Institut zu arbeiten, war Miss Bliss längst dem Alkohol verfallen und hatte ihre Akten mit vielen unmöglichen Vorschlägen gespickt.

»Trotzdem«, sagte der Direktor vorsichtig, »sollten wir uns nicht zu viel erhoffen. So etwas ist noch nie vorgekommen.«

Die Angehörigen gingen natürlich vor Gericht. Sie hatten entdeckt, dass Cary Island kein isolierter Außenposten in einem einsamen Fluss mehr war; dank Autos, Motorbooten und langen Ferien, Schneefahrzeugen und Bargeld hatte es sich in eine Immobilie verwandelt.

Während der Direktor versuchte, auf Kosten der Provinzregierung juristischen Beistand zu organisieren (denn das Institut war nach und nach vom Staat übernommen worden), wühlte Lou in der Bibliothek und plagte sich mit den Akten herum; während der Arbeit betete sie ständig zu Gott, dass bei der Sucherei genug herauskommen möge, um ihrem Thema Konturen zu verleihen. Sie war zu der Erkenntnis gelangt, dass sich die kanadische Überlieferung insgesamt großer Diskretion befleißigte. Alle Hinweise darauf, dass ein Vorfahr irgendetwas anderes getan hatte als beten oder arbeiten, waren in der Regel getilgt. So wurden Familien im Nachhinein auf bequeme Weise respektabel, aber das Ganze war, wie sie und der Direktor oft beklagten, das Ende jeglicher soliden Geschichtsforschung. Wenn Cary genug Geld und genug Energie gehabt hatte, so weit im Norden ein Haus zu bauen und es mit Büchern zu füllen, musste er ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein. Ihre Aufgabe war es herauszufinden, wie außergewöhnlich, und in der Zwischenzeit konnte sie nur zu allen Göttern, Musen und Parlamentsmitgliedern beten, die sich der Angelegenheiten des Instituts annahmen, dass bei alledem genug herauskommen würde, um das verschwommene Negativ der Geschichte jener Region zu entwickeln.

Jene Colonel Cary, die sie beerbten, hatte eine Liste der Verdienste ihres Vorfahren hinterlassen. Daraus ging hervor, dass der alte Colonel, geboren im Jahr des Ausbruchs der Französischen Revolution als Sohn einer angesehenen, aber nicht adeligen Dorseter Familie, in jungen Jahren Soldat wurde und während der Napoleonischen Kriege in Portugal und Sizilien diente. Im Alter von zwanzig Jahren heiratete er eine Miss Arnold, deren Vater Adjutant bei den in Messina stationierten Truppen war. Er hatte den Aufstieg aus dem Mannschaftsstand der Artillerie geschafft, hatte mit seiner Frau eine ganze Reihe Kinder gezeugt, hatte mit Auszeichnung eine ganze Reihe Schlachten in der Poebene absolviert und war nach Beendigung der Kriege mit seiner Familie nach England zurückgekehrt – ohne Beschäftigung.

Die Richtigkeit dieser Informationen wurde durch Verweise auf Besitz- und Ernennungsurkunden, militärische Empfehlungsschreiben und ehrenvolle Erwähnungen bestätigt.

Die Idee, auf einer Insel zu leben, hatte sich im Colonel während seines Militärdienstes festgesetzt, schrieb die Enkelin. In der Familie ging die Sage, dass er an einem heißen Sommertag während seiner Stationierung auf Malta die Augen schloss, einen Atlas der Neuen Welt aufschlug und mit einer Nadel genau Cary Island traf.

Lou stellte sich ihn vor, wie er auf einer Munitionskiste saß, von Sommerruhr geplagt und nach kühlem Wasser lechzend. Eine Nadel war da nicht nötig. Nachdem er in England vergeblich Arbeit gesucht hatte, verkaufte er alles, was er dort besaß, und zog 1826 mit seiner Familie nach Toronto, damals York.

So weit, so gut. Er stand im Register. Cary. Colonel John William. Shuter Street, Nummer 22. Gentleman.

Doch erst 1834 erhielt er das Privileg (»Ihro Bittsteller thut unterthänigst kund …«), Cary Island zu besiedeln, nachdem er zugesagt hatte, eine Sägemühle zu bauen und für den Handel in der Region ein Segelschiff zur Verfügung zu stellen.

»Meine Großmutter«, schrieb die Enkelin, »weigerte sich allerdings, noch weiter in die Wildnis zu ziehen und sich den Unbilden des Nordens auszusetzen. Sie hatte ein südländisches Temperament, wenn sie nicht sogar südländischer Abstammung war. Der Colonel sah sich gezwungen, sie mit ihren Töchtern und den jüngeren Söhnen in York zurückzulassen. Er ging mit seinem zweiten Sohn Rupert in den Norden (ich glaube, der Älteste, Thomas Bedford Cary, war von schwacher Konstitution, denn er wurde bereits 1841 auf dem Nekropolis-Friedhof beigesetzt) und verbrachte den Rest seines Lebens in größter Einfachheit auf der Insel.«

Von offizieller Seite fanden sich nur sehr wenige Erwähnungen Carys. Vermerkt waren seine Bittschrift betreffend die Ansiedlung auf Cary Island und später die vollständige Erwerbung der Insel, finanziert durch den Verkauf seines Offizierspatents. Mrs Henriette Cary lebte weiterhin an guten Adressen in York, auch als es längst Toronto hieß, wie man den Melderegistern der Stadt entnehmen konnte. 1836 wurde der Colonel zum Gouverneur des Nördlichen Distrikts ernannt.

Und 1869, im Alter von neunzig...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2022
Nachwort Kristine Bilkau
Übersetzer Gabriele Brößke
Sprache deutsch
Original-Titel BEAR
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • eBooks • Kanada • Klassiker • Margaret Atwood • Marlen Haushofer • Neuerscheinung • Roman • Romane • Tove Ditlevsen • Wiederentdeckung
ISBN-10 3-641-28493-7 / 3641284937
ISBN-13 978-3-641-28493-0 / 9783641284930
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