Ich bin nicht da (eBook)
576 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491527-2 (ISBN)
Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman »Und es schmilzt« stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste, gewann zahlreiche Literaturpreise und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Auch ihr zweiter Roman, »Ich bin nicht da«, war ein großer Erfolg. Mit ihrem dritten Roman, »Der ehrliche Finder«, hat sie ein ganzes Land aufgewühlt.
Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman »Und es schmilzt« stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste, gewann zahlreiche Literaturpreise und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Auch ihr zweiter Roman, »Ich bin nicht da«, war ein großer Erfolg. Mit ihrem dritten Roman, »Der ehrliche Finder«, hat sie ein ganzes Land aufgewühlt. Helga van Beuningen ist die Übersetzerin von Margriet de Moor, A. F. Th. van der Heijden, Marcel Möring, Cees Nooteboom u.a. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Martinus-Nijhoff-Preis, dem Helmut-M.-Braem-Preis und dem Else-Otten-Preis. 2021 wurde ihr der Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW verliehen.
"Ich bin nicht da" handelt von einer Liebe im Ausnahmezustand. Schonungslos wird hier von Schmerz und Scham erzählt, die eine psychische Krankheit auslösen.
In diesem großartigen Roman geht es um Liebe, um Schmerz und um das, was man durchleidet, wenn der Liebste psychisch erkrankt.
hat eine intensive Eindringlichkeit und schafft einen Spannungsbogen, der bis zur letzten Seite trägt.
[...] ein herausragendes Buch, das existenzielle Tiefen berührt und einen desaströsen, kaum erträglichen Alltag spürbar werden lässt. Das ist grosses Handwerk.
5. Mai 2018
Mitten in der Nacht war Simon damit nach Hause gekommen. Er knipste das Licht über unserem Bett an. »Schau mal …!«
Ich schreckte aus tiefem Schlaf auf, gerädert, als hätte Simon mich mit dem Betätigen des Lichtschalters aus einer fernen Vergangenheit zurückkatapultiert und mein Körper sich in einer halben Sekunde durch ein ganzes Jahrhundert gepresst.
Daan, unsere Schildpattkatze, die zwischen meinen Knien auf der Decke geschlafen hatte, flitzte davon. Ihre scharfen Krallen kratzten über das Parkett. Das Kratzen war ein vertrautes Geräusch, plötzlich wusste ich wieder, wo ich mich befand und wer ich war, der Raum ringsum fiel auf seinen Platz zurück, die Zimmerdecke mit ihren Zierleisten, der Porzellanharlekin unter dem Glassturz auf dem Kaminsims, mein Pferdeschwanz, der mir am verschwitzten Rücken klebte, die Pappkrone auf meinem Kopf. Fünf Uhr vierzig zeigte der Radiowecker an. Hinter den Verdunkelungsvorhängen würde es gleich zu dämmern beginnen. Der Sommer war im Anzug, draußen zwitscherte der ehrgeizigste Vogel bereits. Vor einer Stunde hatte ich eine Schlaftablette genommen, das erklärte meine Benommenheit.
»Schau doch, Leo …!«, sagte Simon noch einmal. Er kam näher. »Wie findest du das?« Er hatte lange, dichte Locken, auffällig widerborstig, als würde ein unsichtbarer Föhn permanent einen kräftigen Luftstrom an seinen Hinterkopf blasen. Seine Haare waren gerade lang genug für einen kleinen Zopf, doch so trug er sie nur, wenn es windig war oder wenn er sich stundenlang ungestört über einen Entwurf beugen wollte.
Die Schuhe noch an den Füßen, kroch er aufs Bett. In der Hand hielt er ein abgezogenes Pflaster, das er neben mich aufs Kissen legte, die sterile Seite nach oben. Darauf waren geronnene Blutstropfen, der Abdruck einer nicht genauer zu erkennenden Figur.
»Paul hat das gemacht. Das ist ein Stück Körperfläche, die einem nichts bringt, die Rückseite der Ohren, hast du dir die mal richtig im Spiegel angeschaut, die Stelle ist super geeignet für ein Tattoo, du selbst brauchst es nicht den ganzen Tag anzuschauen, du kannst es auch unter der Frisur verstecken, da war Paul ganz meiner Meinung, ich hatte auf einem Bierdeckel einen Entwurf gezeichnet und ihm die ganze Geschichte dahinter erzählt, und er war sofort einverstanden, das ist ein kleines Kunstwerk, hat er gesagt, ich bin ein Tattookünstler, Simon Spruyt, dein Spruitje, dein Rosenkohl, ein echter Künstler, Paul hat solche Tattoos bisher noch nie gestochen, ihm hat es richtig leidgetan, dass er dies hier nicht selbst entworfen hat.«
»Wer ist Paul?«, fragte ich.
Simon war sich der Dutzende entgangener Anrufe auf seinem Handy offensichtlich nicht bewusst. Er redete weiter, ohne meine Frage zu beantworten. Lange Sätze, fast ohne Atempausen. »Und Paul hat gesagt: ›Soll ich deinen Entwurf gleich verewigen, für fünfzig Euro?‹ Und ja, warum eigentlich nicht, hab ich mir sofort gedacht … Und sei es nur als Andenken an diesen tollen Abend, ich war noch nie so glücklich wie heute Nacht, glaube ich – ein Künstler! –, Paul hätte das nicht sagen müssen, ich wusste selber schon, als ich das Motiv gezeichnet habe, dass es gut war, was sag ich da, dass es genial war, dass ich damit weitermachen muss, es ist auf jeden Fall besser als alles, was Coen oder irgendeinem von den Kollegen einfallen würde, jetzt schau doch endlich!«
Simon zog seine Ohrmuschel so weit wie möglich vom Kopf weg und strich sich die Haare nach hinten, damit ich das Resultat bewundern konnte. Ich sah noch immer nichts.
Als er vierzehn war, hatte man Simons Segelohren korrigiert. Auf der Rückseite wurden kleine Keile aus dem Knorpel herausgeschnitten, so dass die Ohrmuscheln dichter am Kopf angenäht werden konnten, viel Spielraum war nicht geblieben. Aus dem restlichen Knorpel hatte man die Ohrmuscheln rekonstruiert, Falten und Ränder, die etwas zu ausgeprägt geformt waren.
Bevor Simon die Operation hatte machen lassen, war er jahrelang gemobbt worden. Er hatte mir einmal davon erzählt, bevor wir in diese Wohnung zogen, danach hatte er nie mehr darüber sprechen wollen. Er hatte versucht, diesen Teil der Vergangenheit in einem verschlossenen Karton bei den übrigen abgenutzten Möbelstücken aus seinem Kinderzimmer zu lassen. Einzelheiten kannte ich nur von einigen dieser Mobbingaktionen: dass ein paar Jungs aus seiner Klasse einen riesigen Rosenkohl mit Segelohren auf die geflieste Wand in der Mädchentoilette gemalt hatten. Dass sie ihn auf dem Weg ins Gymnasium manchmal in den unterirdischen U-Bahn-Gängen festhielten und mit einem Finger, den sie erst in ihren Po steckten, Duftspuren hinter seinen Ohren auftrugen und ihn dann in der Schule daran hinderten, sich vor der ersten Stunde zu waschen. Und auf dem Karnevalsfest der Jugendorganisation hatte sich die ganze Gruppe abgesprochen, als Elefant verkleidet zu kommen. Simon lief den ganzen Tag im Super-Mario-Kostüm – blauer Overall und bemalte rote Kappe – mit hängenden Schultern in der Herde herum, umringt von einer Unmenge Elefantenohren aus grauem Karton.
Simon hatte auf eine Operation gespart. Für einen geringen Betrag hatte er begonnen, Visitenkarten, Werbeposter und -flyer für die kleinen Selbständigen im Viertel zu entwerfen, weil er seine Eltern nicht um das Geld hatte bitten wollen. Seine Mutter hatte gemerkt, dass Simon nachts durcharbeitete, um neben den Schularbeiten auch die bezahlten Aufträge zu erledigen, immer mit einer strammen Bademütze auf dem Kopf, und sie hatte sofort einen Termin bei einem plastischen Chirurgen vereinbart.
Der korrigierende Eingriff hatte dem Mobbing kein Ende gemacht. Die Zeichnung hatte sich nie ganz von der Fliesenwand entfernen lassen, der Rosenkohl hatte ein korrigiertes Ohrenpaar erhalten, von Zeit zu Zeit wurde ein Netz Rosenkohl in seinen Turnbeutel ausgeleert.
Mit fünfzehn hatte Simon die Schule gewechselt. Er ging vom Sint-Pieterscollege in Jette zum Atheneum in Schaarbeek, wiederholte dort die vierte Gymnasialklasse, schmiedete neue Freundschaften und erzielte gute Noten. Dass er jemals gemobbt worden war, merkte ich nur noch an seinem eiligen Schritt, wenn wir zusammen durch U-Bahn-Gänge liefen, an der Tatsache, dass er andere Menschen mit großen oder merkwürdig geformten Ohren auf Anhieb sympathisch fand und dass er sichtlich getroffen sein konnte, wenn er Leute kennenlernte, die ein Jahr jünger waren als er, aber schon mehr im Leben erreicht hatten.
»Und? Siehst du’s? Was sagst du dazu?«
Ich rückte näher, sehr vorsichtig, als könnte jeden Moment jemand hinter seinem Ohr hervorspringen, um mir einen Schreck einzujagen.
Die Haut zwischen der Ohrmuschel und dem Haaransatz sah schmerzhaft gerötet aus. Unter einer Schicht vaselinartiger Salbe war eine Zeichnung zu erkennen, eine feine gepunktete Linie dicht entlang des Haaransatzes, die dem Umriss der Ohrmuschel ungefähr folgte, eine Art suggerierter Linie mit einer kleinen Schere daneben – wer hier schneiden würde, könnte ein zweites Ohr aus der Haut herausklappen.
Dieses Stückchen Haut war niemals, wie Simon gerade behauptet hatte, überflüssig gewesen. Es hatte bisher Neckereien gedient, die ich nie in Gegenwart anderer machte. Es war der Boden, auf dem sich unsere Käserei befand, die ich hin und wieder aufsuchte, mit der Nase oder der Zunge, um den Reifezustand zu überprüfen.
Die Käserei hatte ich mir in der Hoffnung ausgedacht, Simon bei der Überwindung seiner Scham wegen der vielen kleinen Hautfalten zu helfen, die durch die Operation entstanden waren, und wegen des leicht säuerlichen Geruchs, den seine Ohren manchmal verströmten, weil sich dort so leicht Schweiß und Schmutz ansammelten.
»Sag was, Leo, reagier doch!«
Ich saß tatsächlich sprachlos da und sah ihn an. Nicht nur weil er sich ein Tattoo genau auf unserer Käserei hatte stechen lassen, sondern vor allem wegen der Art und Weise, wie er damit nach Hause gekommen war, wegen des merkwürdigen Gefühls, das mich beschlich, als ich ihn jetzt auf dem Bett sitzen sah.
Betrunken war er nicht, das hätte ich sofort gemerkt. Dann bewegte er sich wie Balu, der Bär aus dem Dschungelbuch, ein bisschen schlackrig und tollpatschig, der Körper wie ein zu großes Leihkostüm. Jetzt bewegte er sich zackig, mit knappen, spannungsgeladenen Bewegungen.
Auch Daan schaute ihn befremdet an in dem vergeblichen Versuch, sich mit ihrem plumpen gefleckten Körper hinter dem schmalen weißen Bein des Brabantia-Wäscheständers zu verstecken. Dieses Metallgestell stand schon seit ungefähr zwei Jahren permanent aufgeklappt in der Zimmerecke, ein verandaartiger Anbau an unserem riesigen Pax-Kleiderschrank. Wir zogen fast immer das an, was auf dem Ständer zu finden war, selten falteten wir etwas zusammen, selten landete etwas im Schrank.
»Simon, wer ist Paul? Und mach dir bitte das Pflaster wieder drauf.«
Simon kannte unsere Abmachungen: nie stundenlang unerreichbar sein, nie unangekündigt wegbleiben nach Sonnenuntergang. Rechtzeitig Bescheid sagen, wenn man nicht zum Abendessen kam, sagen, wohin man ging, mit wem und für wie lange, vor allem wenn man vorhatte zu trinken oder mit dem Fahrrad loszog. Trotzdem war er heute Abend, zum ersten Mal in den zehn Jahren, die wir zusammen waren, stundenlang weggeblieben, ohne mir Bescheid zu sagen.
Um achtzehn Uhr dreißig – ich war schon eine Stunde von der Arbeit zu Hause – hatte ich...
Erscheint lt. Verlag | 27.7.2022 |
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Übersetzer | Helga van Beuningen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Beziehung • Bipolarität • Depression • Einsamkeit • Freundschaft • Katze • Klinik • Liebe • Manie • Mental Health • Roman • Schuld • Und es schmilzt • Verantwortung • Verlust |
ISBN-10 | 3-10-491527-X / 310491527X |
ISBN-13 | 978-3-10-491527-2 / 9783104915272 |
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