Der Gesang der Berge (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
429 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77065-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Gesang der Berge -  Nguy?n Phan Qu? Mai
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Hu?o?ng wächst bei ihrer Großmutter auf, mitten im vom Krieg gebeutelten Hanoi der frühen 1970er Jahre. Der Vater ist auf den Schlachtfeldern verschollen, ihre Mutter folgte ihm in der Hoffnung, ihn zu finden. Und die Großmutter erzählt Hu?o?ng an den vielen langen Abenden die Geschichte ihrer Familie, eine Geschichte, die in Frieden und Wohlstand ihren Anfang nimmt, aber im Zuge fremder Besatzung, Landreform und Krieg eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und unsäglichem Leid wurde. Doch die Frauen ihrer Familie sind stark und entschlossen, dem Schicksal eine lebenswerte Zukunft abzutrotzen.

Ein Familienepos, das ein ganzes Jahrhundert atmet, die bildgewaltige Geschichte eines leidgeprüften Volkes, ein beeindruckender historischer Roman, erzählt von einer vietnamesischen Autorin - so hat man von Vietnam im zwanzigsten Jahrhundert noch nicht gelesen.



Nguy?n Phan Qu? Mai, 1973 in Vietnam geboren, wurde f&uuml;r ihren internationalen Bestseller <em>Der Gesang der Berge</em> mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Dayton Literary Peace Prize. Sie hat insgesamt zw&ouml;lf B&uuml;cher auf Vietnamesisch und Englisch verfasst, darunter ebenso Romane wie Lyrik und Sachb&uuml;cher. Ihr Werk wurde in zwanzig Sprachen &uuml;bersetzt. Nguyen setzt sich f&uuml;r benachteiligte Gruppen in Vietnam ein und hat mehrere Stipendiatenprogramme gegr&uuml;ndet, unter anderem eins f&uuml;r &raquo;Amerasier&laquo;.

Rot auf den weißen Körnern


Hà Nội, 1972-1973

Großmama hält meine Hand, während wir zur Schule gehen. Die Sonne sieht aus wie ein großes Eidotter, das zwischen den Häusern mit den Blechdächern hindurchspäht. Der Himmel ist so blau wie das Lieblingshemd meiner Mutter. Ich frage mich, wo meine Mutter wohl ist. Ob sie meinen Vater gefunden hat?

Ich halte den Kragen meiner Jacke zusammen, als der Wind uns entgegenbläst und eine Staubwolke aufwirbelt. Großmama beugt sich zu mir herunter und drückt mir ihr Taschentuch auf die Nase. Meine Schultasche baumelt an ihrem Arm, als sie sich die Hand vor das Gesicht hält.

Sobald sich der Staub gesetzt hat, gehen wir weiter. Ich lausche, aber ich höre keinen Vogel. Ich blicke mich um, aber nirgends ist eine Blume zu sehen. Auch kein Gras, nur Haufen aus zerbrochenen Ziegeln und verbogenem Metall.

»Sei vorsichtig, Guave.« Großmama zieht mich von einem Bombenkrater weg. Sie spricht mich mit meinem Spitznamen an, um mich vor den bösen Geistern zu schützen, die, wie sie glaubt, über der Erde schweben und nach hübschen Kindern Ausschau halten, um sie zu entführen. Sie hat gesagt, mein richtiger Name Hương – »Duft« – würde sie anlocken.

»Wenn du nach Hause kommst, gibt es dein Lieblingsessen, Guave«, sagt Großmama.

»Phở-Nudelsuppe?« Ich hüpfe vor Freude.

»Ja … Während der Bombenangriffe konnte ich nicht kochen, aber heute ist es ruhig, und das sollten wir feiern.«

In dem Moment zerstört eine Sirene unseren Augenblick des Friedens. Aus einem Lautsprecher, der an einem Baum befestigt ist, schallt eine Frauenstimme: »Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung einhundert Kilometer.«

»Ôi trời đất ơi!« Großmama ruft Himmel und Erde an. Sie läuft los und zieht mich mit sich. Überall strömen Menschen aus ihren Häusern wie Ameisen aus ihren kaputten Bauen. In der Ferne heulen die Sirenen vom Dach des Opernhauses.

»Da!« Großmama stürzt auf einen Luftschutzbunker zu, der in die Straße hineingegraben ist, und zieht den schweren Betondeckel hoch.

»Kein Platz«, ruft jemand von unten. In der runden Grube, die nur für eine Person vorgesehen ist, kauert ein Mann. Schlammiges Wasser reicht ihm bis zur Brust.

Sofort schließt Großmama den Deckel wieder. Sie zieht mich zu einem anderen Bunker.

»Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung sechzig Kilometer. Bewaffnete Truppen in Kampfbereitschaft gehen.« Die Frauenstimme klingt jetzt drängender. Die Sirenen sind ohrenbetäubend.

Ein Bunker nach dem anderen ist voll. Die Leute rennen kopflos vor uns hin und her und lassen Fahrräder, Karren und Taschen zurück. Ein kleines Mädchen steht ganz allein da und schreit nach seinen Eltern.

»Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung dreißig Kilometer.«

Vor lauter Angst stolpere ich und stürze.

Großmama zieht mich hoch. Sie lässt meine Schultasche fallen und bückt sich, damit ich auf ihren Rücken springen kann. Dann läuft sie los, die Arme um meine Beine geschlungen.

Ein Dröhnen kommt näher. In der Ferne donnern Explosionen. Ich klammere mich mit schwitzigen Händen an Großmamas Schultern und drücke das Gesicht an ihren Hals.

»Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Weitere amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung einhundert Kilometer.«

»Lauft zur Schule. Die werden sie nicht bombardieren«, ruft Großmama ein paar Frauen zu, die kleine Kinder im Arm und auf dem Rücken tragen. Trotz ihrer zweiundfünfzig Jahre ist sie stark. Sie läuft an den Frauen vorbei Richtung Schule, und ich werde bei jedem Schritt auf und ab geworfen. Ich vergrabe das Gesicht in ihrem langen schwarzen Haar, das genauso riecht wie das von meiner Mutter. Solange ich ihren Duft riechen kann, wird mir nichts passieren.

»Komm mit, Hương.« Großmama bückt sich keuchend. Ich klettere hinunter, und sie zieht mich auf den Schulhof. Neben einem der Klassenräume ist ein leerer Bunker. Sie springt hinein, und als ich ihr folge, umklammert mich eisiges Wasser bis zum Bauch. Es ist so kalt, schon fast Winter.

Großmama zieht den Deckel zu. Dann drückt sie mich an sich, und ich spüre die Trommel ihres Herzschlags in meinem Blut. Ich danke Buddha für das Geschenk dieses Bunkers, der groß genug für uns beide ist. Ich habe Angst um meine Eltern, die irgendwo auf den Schlachtfeldern sind. Wann werden sie zurückkommen? Haben sie Onkel Đạt, Onkel Thuận und Onkel Sáng gesehen?

Die Explosionen kommen näher. Der Boden schwingt wie ein Hängematte. Ich halte mir die Ohren zu. Wasser schießt hoch und spritzt mir ins Gesicht, sodass ich nichts mehr sehe. Durch einen Spalt über meinem Kopf rieseln Staub und kleine Steine herab. Das Geräusch von Flakfeuer. Hà Nội wehrt sich. Wieder Explosionen. Sirenen. Schreie. Etwas stinkt verbrannt.

Großmama legt die Hände vor der Brust aneinander. »Nam Mô A Di Đà Phật, Nam Mô Quan Thế Âm Bồ Tát.« Eine Flut von Gebeten an Buddha strömt von ihren Lippen. Ich schließe die Augen und folge ihrem Beispiel.

Immer wieder Bombendonner. Dann herrscht Stille. Plötzlich ein schrilles Kreischen. Ich zucke zusammen. Eine mächtige Explosion schleudert Großmama und mich gegen den Deckel des Bunkers. Vor Schmerz wird mir schwarz vor den Augen.

Im Fallen trete ich versehentlich gegen Großmamas Bauch. Ihre Augen sind geschlossen, die Hände liegen wie eine knospende Lotosblume vor ihrer Brust. Sie betet weiter, während der Donner verstummt und Schreie erklingen.

»Großmama, ich hab Angst.«

Ihre Lippen sind blau und zittern vor Kälte. »Ich weiß, Guave … Ich auch.«

»Großmama, wenn sie die Schule bombardieren, stürzt der Bunker dann ein?«

Sie richtet sich mühsam auf und schließt mich in ihre Arme. »Ich weiß es nicht, Liebes.«

»Und wenn er einstürzt, müssen wir dann sterben?«

Sie drückt mich an sich. »Guave, wenn sie die Schule bombardieren, dann stürzt vielleicht der Bunker ein, aber wir sterben nur, wenn Buddha uns sterben lässt.«

Wir starben nicht an jenem Tag im November 1972. Als die Sirenen verkündeten, dass die Gefahr vorüber war, kletterten Großmama und ich aus dem Bunker, zitternd wie junges Laub, und stolperten zurück zur Straße. Mehrere Gebäude waren eingestürzt, und überall lag Schutt. Hustend bahnten wir uns unseren Weg. Wolken aus Rauch und Staub wirbelten umher und brannten mir in den Augen.

Ich hielt Großmamas Hand umklammert, während um uns herum Frauen schreiend neben Toten knieten, deren Oberkörper mit abgewetzten Strohmatten abgedeckt waren. Nur die Beine ragten heraus, zerfetzt und voller Blut. An einem kleinen Bein hing noch ein rosafarbener Schuh. Das tote Mädchen musste ungefähr so alt gewesen sein wie ich.

Klatschnass und schlammverschmiert zog Großmama mich mit sich, immer schneller, vorbei an Leichenteilen und eingestürzten Häusern.

Unter dem großen bàng-Baum jedoch stand unser Haus friedlich im Sonnenlicht. Es war auf wundersame Weise unversehrt geblieben. Ich riss mich los und umarmte die Haustür.

Großmama half mir eilig, etwas Trockenes anzuziehen, und steckte mich ins Bett. »Bleib hier, Guave. Falls die Flugzeuge kommen, spring da hinein.« Sie deutete auf die Grube, die mein Vater neben dem Eingang des Schlafzimmers in den Lehmboden gegraben hatte. Sie war groß genug für uns beide, und sie war trocken. Hier fühlte ich mich sicherer, unter den wachen Augen meiner Vorfahren, die vom Familienaltar auf unserem Bücherregal herabschauten.

»Wo gehst du denn hin, Großmama?«, fragte ich.

»Zu meiner Schule, um zu sehen, ob meine Schüler Hilfe brauchen.« Sie zog die dicke Decke bis hoch zu meinem Kinn.

»Aber das ist doch gefährlich …«

»Es ist nur zwei Blocks entfernt, Guave. Sobald ich die Sirenen höre, laufe ich sofort nach Hause. Versprichst du mir, dass du hierbleibst?«

Ich nickte.

Großmama ging zur Tür, kam jedoch noch...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2021
Übersetzer Claudia Feldmann
Sprache deutsch
Original-Titel The mountains sing
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Agent Orange • aktuelles Buch • Alles • Auf Erden sind wir kurz grandios • bücher neuerscheinungen • Cho Nam-Joo • Der Sympathisant • Ein einfaches Leben • Familienepos • Familiengeschichte • Familiensaga • geboren 1982 • Hanoi • Historischer Roman • insel taschenbuch 4960 • IT 4960 • IT4960 • Kim Jiyoung • Landreform Vietnam • Literatur über Asien • Min Jin Lee • Neuerscheinungen • neues Buch • Ocean Vuong • Saigon • Transgenerationales Trauma • Vietnam • Vietnam Geschichte 20. Jahrhundert • Vietnamkrieg • Viet Thanh Nguyen • was wir nicht erinnern
ISBN-10 3-458-77065-8 / 3458770658
ISBN-13 978-3-458-77065-7 / 9783458770657
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99