Damals, am Meer (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61232-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Damals, am Meer -  Marco Balzano
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Drei Männer auf einer Reise quer durch Italien - von Mailand, wo die Familie lebt, zurück nach Apulien, wo Großvater Leonardos Wohnung langsam in der salzigen Luft verwittert. Was für den alten Mann die Heimat ist, ist für den Vater die Erinnerung an die Jugend und für den Sohn ein Feriendomizil. Doch wo fühlen sie sich zu Hause? Diese Frage muss jeder für sich beantworten.

Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist zurzeit einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Er schreibt, seit er denken kann: Gedichte und Essays, Erzählungen und Romane. Mit seinem Roman ?Das Leben wartet nicht? gewann er den Premio Campiello. Mit ?Ich bleibe hier? war er nominiert für den Premio Strega, in Italien und im deutschsprachigen Raum war das Buch ein großer Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in Mailand.

Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist zurzeit einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Er schreibt, seit er denken kann: Gedichte und Essays, Erzählungen und Romane. Mit seinem Roman ›Das Leben wartet nicht‹ gewann er den Premio Campiello, mit ›Ich bleibe hier‹ war er nominiert für den Premio Strega. Er lebt mit seiner Familie in Mailand.

Es war kein leichtes Jahr gewesen. Nicht nur, weil es keine leichten Jahre gibt. Meine Familie konnte nicht verstehen, wieso diese Geschichte mit dem Studium gar nicht mehr aufhörte und einfach zu nichts führte. Es belastete meine Eltern, dass ihr Sohn immer weiter studierte, »ohne je ein Mann zu werden«. Logisch, denn »ein Mann zu werden« bedeutete ihrer Meinung nach, eine Arbeit zu haben. Und da Studieren keine Arbeit ist, stand fest, dass ich noch ein mehr oder weniger unbeschwerter Junge war. Kein Mann.

Davon waren meine Mutter und mein Vater felsenfest überzeugt. Viele Leute ihres Alters dachten so, und es gab nicht die geringste Chance, zu Hause Anteilnahme für meine Müdigkeit zu finden, die durchaus die eines Mannes war.

Auch dass ich gern studierte, half nichts. Die mit Lesen oder sogar Schreiben zu Hause verbrachte Zeit war der Beweis, dass ich mich in meinem Dasein als ewiger Student suhlte wie eine Ente im Teich, ohne das Bedürfnis nach Unabhängigkeit zu verspüren, das sie dagegen von frühester Jugend auf empfunden hatte.

»Ich habe mit vierzehn angefangen und dein Vater mit fünfzehn! Und wir sind alle beide ohne unsere Eltern nach Mailand gekommen!«, jammerte meine Mutter, so als wäre ich nicht nur für meine Verspätung verantwortlich, sondern auch für ihre Frühreife. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt.

Großvater dagegen schien mich besser zu verstehen. »Als Dieb hättest du es schneller geschafft …«, spottete er, wenn ich ihm sagte, dass ich nun, da ich auch das Aufbaustudium abgeschlossen hatte, noch wer weiß wie lange brauchen würde, bis ich eine ordentliche Lehrerstelle bekam. »Einen festen Arbeitsplatz«, wie er sich ausdrückte. Während er diese Worte murmelte, war mir nämlich, als beschimpfte er nicht mich als Taugenichts, sondern ärgerte sich vielmehr über all die »Halunken, die dieses Teufelszeug von Diplom, Spezialisierung und Master erfunden haben, das bloß dazu gut ist, Familien zu ruinieren und dir die Lust am Arbeiten zu nehmen, bevor du überhaupt angefangen hast«.

In der Tat, die Angst, alles getan zu haben und dann zu entdecken, dass der Beruf gar nichts für mich war, wuchs ständig. Auch im Schlaf zeigte sie sich. Übrigens war sie berechtigt, ich hatte ja noch nie unterrichtet! Sich heute für diese Arbeit zu entscheiden bedeutet, sich allein auf eine jugendliche Intuition zu verlassen.

 

Wenn ich Großvater diese Dinge auseinandersetzte, lächelte er, wie gewöhnlich ohne seinen großen Körper eines Kriegers zu rühren, indem er nur leicht die Lippen öffnete und seine aquamarinblauen Augen zu Schlitzen verengte.

Zu der Zeit verbrachte ich ganze Nachmittage mit ihm, fast wie damals in der Kindheit, als jeden Tag, bis meine Mutter von der Arbeit kam, Großvater und Großmutter meine wahren Eltern waren. Großmutter Anna, stets bereit, mir die Nase zu putzen und mir mit der Hand durch die Locken zu fahren; und Großvater Leonardo, der mir noch immer, mit über achtzig, wie ein kraftvoller Riese vorkam, trotz seines vom Asthmahusten ermatteten Gesichts, der Falten, die wie geometrische Linien seine Stirn zerschnitten, der schmalen Lippen, die keine Worte verschwendeten. Sie zogen mir ein frisches Hemdchen an, wenn ich verschwitzt war, sie wachten darüber, dass ich meine Hausaufgaben machte und um vier Uhr eine Pause einlegte, um eine Kleinigkeit zu essen. Sie ließen mich den Schulranzen packen und aufräumen, zehn Minuten bevor meine Mutter kam.

In jenem heißen, windstillen Juni hatte ich wieder begonnen, bei Großvater vorbeizugehen, ehrlich gesagt, weil ich mich einsam fühlte. Nicht, dass es mir an Freunden mangelte, Freunde hatte ich von jeher, und es gab auch die zwei, drei, auf die ich ernsthaft zählen konnte, die von meinen Ängsten und Schwächen wussten, ohne sich darüber lustig zu machen.

Aber die Verwirrung jenes Sommers war neu. Diejenigen, die nicht studiert hatten, arbeiteten schon seit Jahren, waren verlobt und dachten an Schritte, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte. Von meinen Studienkollegen war ich der Schnellste gewesen, hatte sie in den Innenhöfen und Bibliotheken zurückgelassen, wo sie die Nachmittage weiter mit Reden, Rauchen und Lesen verbrachten. Mir dagegen war die Welt der Universität schlagartig fremd geworden, vielleicht, weil diese Müdigkeit eines Mannes herausgekommen war, die meine Eltern nicht anerkennen wollten, oder einfach, weil es normal war, dass man diese Orte mit ihrer abgestandenen Luft schließlich satthat.

Dann kamen die ersten Vertretungen. Das verlegene Betreten der Klasse in Hemd und Jackett, um, wie ich hoffte, dadurch mehr Autorität auszustrahlen, das Konfrontiertsein mit Schülern, die häufig größer und stärker waren als ich, das Licht, das durch die Vorhänge auf ihren Gesichtern zerfranste, die schon so anders waren als meines. Doch über das alles konnte ich nicht reden. Also schwieg ich, überzeugt, dass die anderen mich nicht verstehen würden. Ich war auf niemanden böse, wollte aber lieber allein sein, nur abends den einen oder anderen treffen, um ein Bier zu trinken und bis spät zu quatschen und über Politik zu diskutieren.

 

Am Nachmittag stand Großvater am Fenster und sah mich kommen. Ich ließ den Fahrradlenker los, um ihm mit beiden Armen zu winken, und sah, wie er zur Antwort den Kopf hob und ein Lächeln andeutete. Zur Tür brauchte er genauso lange wie ich zum Fahrradabschließen, daher war Klingeln unten nicht nötig.

»Hast du dein Nickerchen gemacht, Opa?«

»Nur kurz, weil es zu heiß war.«

»Machen wir einen Ausflug?«

»Weit oder nah?«

»Heute weit, wenn du magst.«

Nah bedeutet einen kleinen Ausflug bis zu dem Maisfeld, das immer noch hinter dem Haus der Großeltern liegt. Es bedeutet, eine gerade, wenig befahrene Straße entlangzuradeln, dann die ganze Via Andrea Costa, und nach der Esso-Tankstelle abzubiegen in eine Reihe gewundener Sträßchen, die nach Musikern benannt waren. Am Feld ließen wir, ich und der Rattenschwanz von Cousins, mit denen ich aufgewachsen bin, vor zwanzig Jahren die Räder fallen und warteten, bis Großvater mit dem Eis kam. Wir vesperten alle gemeinsam, vor der ersten Reihe Maishalme sitzend, die einen großen, fächerförmigen Schatten warf. Nachdem er seine Drillichhose hochgezogen hatte, setzte sich der Großvater zu uns auf die Erde ins Kühle. Während wir aßen, erzählte er uns eine Geschichte oder fragte uns der Reihe nach, wie es in der Schule gelaufen war, und manchmal wollte er auch, dass wir ihm ein Gedicht aufsagten, denn Gedichte liebte er, besonders gereimte.

 

Um den Großvater zu unterhalten, lernte ich von der Grundschule an Unmengen davon. Mir war, als würde ich sein Komplizentum und seinen Schutz als Krieger noch mehr verdienen, wenn ich ihm diese Verse rezitierte, deren Sinn er vielleicht gar nicht verstand, hingerissen, wie er war, von den Wörtern, die zu Musik wurden.

Für uns war es allerdings spannender, wenn er erzählte. Wenn er mit leiser Stimme davon sprach, wie er im Krieg war, wo man sich mit dreckigem Wasser wusch und die faulen Zähne mit dem Messer herausgerissen wurden; wo es manchmal zwei Tage lang nichts zu essen gab und man kilometerweit durch den Wald lief, den verletzten Gefährten auf der Schulter wie einen Kartoffelsack.

Damals kamen mir diese Geschichten vor wie die Taten eines Champions. Jede trug zur Mythisierung meines Helden bei. Später interessierten sie mich dann aus ganz anderen Gründen, aber der Genuss, Großvater in dieser Mischung aus apulischem, wortwörtlich ins Hochitalienische übersetzten Dialekt reden zu hören, blieb derselbe. Italienisch war für ihn eine Sprache, die morgens zusammen mit den Enkeln ins Haus kam und es abends mit ihnen verließ.

Zum Maisfeld strampelt man hin und zurück drei Kilometer. Das ist ein naher Ausflug.

Ein weiter Ausflug dagegen ist etwas ganz anderes, für uns Kleine war es ein echtes Ereignis. Vor allem unternahm der Großvater den weiten Ausflug immer nur mit einem Enkel und auf einem Fahrrad, seinem, das ihm die Arbeitskollegen aus der Montecatini-Fabrik geschenkt hatten, als er in Rente gegangen war, schon mit dem Kindersitz hinten drauf, da sie wussten, dass er sich ganz dem Nachwuchs widmen würde.

Fünf oder sechs Mal durfte ich den weiten Ausflug mit ihm machen, und immer kamen wir an Orte, die mich außerordentlich beeindruckten und an denen ich Jahre später zerstreut vorbeilief, fast ohne mich zu erinnern. Die Brera-Akademie, das Stadion von San Siro und die Pferderennbahn, das Castello Sforzesco, der Friedensbogen …

Ich saß auf dem Kindersitz und umklammerte den Großvater, der ab und zu die Hand nach hinten streckte und mir zweimal auf den Schenkel klopfte: »Geht’s gut?«, fragte er dann, was heißen sollte: »Sitzt du bequem?« Wir radelten schweigend, lauschten auf den Wind und betrachteten die Autos, die uns überholten. Achten musste man nur auf die Kommandos des Fahrers: »Halt den Winker raus«, oder »Lehn dich ein bisschen rüber«, damit ich ihn mit dem Körper unterstützte, wenn er in die Kurve ging.

Sobald wir irgendwo angekommen waren, erfasste mich ein Gefühl, weit weg zu sein von zu Hause, das ich beim Fahren nicht spürte, beschützt, wie ich war, vom Rücken des Großvaters, der die Welt verdeckte. Die Idee, wir würden es nicht schaffen, rechtzeitig zurück zu sein, bevor Mama kam, gefiel mir irrsinnig gut – bestimmt würde sie sich um mich sorgen bei der Vorstellung, dass ich weit weg war an einem Ort, den sie nicht kannte. Dann würde mein Vater mich um die Abendessenszeit mit dem Auto abholen, und niemand würde mich ausschimpfen, da ich mit dem Großvater...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2021
Übersetzer Maja Pflug
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Apulien • Emigration • Familiengeschichte • Ferien • Generationen • Hausverkauf • Heimat • Herkunft • Italien • Mailand • Männer • Meer • Reise • Wohnung
ISBN-10 3-257-61232-X / 325761232X
ISBN-13 978-3-257-61232-5 / 9783257612325
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 883 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99