Meine Eltern / Alles nicht dein Eigen (eBook)

«Hemon ist außergewöhnlich: Er ist nicht nur begabt, er ist zwingend.» The New York Times Book Review
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
416 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2605-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Meine Eltern / Alles nicht dein Eigen -  Aleksandar Hemon
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«Aleksandar Hemon ist, ziemlich sicher, der Größte seiner Autoren-Generation.» Colum McCann Hemons neuer Band sind eigentlich zwei in einem, zusammengebracht in einem Wendebuch: Die Geschichte von Hemons Eltern, ihrer Immigration von Sarajewo nach Kanada und ein Buch mit kurzen Erinnerungen an die Familiengeschichte des Autors, an Freunde und eine wilde, unbeschwerte Kindheit in seiner Heimatstadt. Im Band über seine Eltern erzählt er nahbar, genau, zärtlich und poetisch von ihren Anstrengungen, von den stillen Versuchen seiner Mutter (Mama), die Familie zusammenzuhalten, von der fanatischen Imkerei seines Vaters (Tata) und bemisst beinahe beiläufig die Verluste, die die Hemons und ihre Landsleute erlitten haben. Hemon zeichnet das herzzerreißende Porträt eines untergegangenen Landes, das allzu oft Spielball war. «Alles nicht dein Eigen» ist die rauschhaftere, rauere und unkonventionellere Seite dieser Medaille: Vignetten über den jungen Hemon, seine Wildheit und Wut. Sie fügen Hemons Protagonisten Aleksandar eine bis dato unerwartete Facette hinzu - die des jungen, energiegeladenen (und eben oft wütenden) Sohnes, der nicht verstehen kann, was verdammt nochmal so schwer daran sein soll, irgendwo anzukommen.

1
Lebensläufe


Laut einer Familienlegende war Živko, der Großvater meiner Mutter, eines Winterabends nach Trunk und Spiel mit seinem Pferdeschlitten auf dem Heimweg, als ihm mehrere schreckliche Riesen den Weg verstellten. Er war Großgrundbesitzer, betrieb ein Bevorratungsgeschäft, hatte sogar Diener; er war reich, also auch herrisch und schnöselig. Er war überzeugt, die Riesen würden ihn töten, wenn er anhielte, und deshalb erhob er sich in seinem Schlitten, trieb seine Pferde mit der Peitsche an und preschte auf die Ungeheuer zu, die auswichen und ihn durchließen.

Seine Tochter Ruža heiratete meinen Großvater Stjepan Živković, dem nie ein Riese über den Weg lief und dessen Familie ganz und gar nicht wohlhabend war. Es war keine arrangierte Ehe, was damals (um 1921) im Nordosten Bosniens1 eine Seltenheit war, denn der eheliche Segen war untrennbar mit dem Vermögen und dem Besitz der Familien von Braut und Bräutigam verknüpft. Mama vermutet eine Liebesheirat, und Ruža wurde von ihrem Vater verstoßen, weil sie seinem Willen zuwiderhandelte. Ruža und Stjepan sollten sieben Kinder bekommen; meine Mutter, Andja, geboren 1937, war das jüngste.

Als sie vier war, spielte ihr großer Bruder Živan mit Freunden ein Spiel, bei dem man mit einem Stock (klis) ein Stück Holz durch die Luft schlägt. Das Holz traf ihn in den Bauch, der noch voll vom Mittagessen war; seine Magenwand riss, und er starb. Die Geschichte leuchtet nicht ganz ein – so schwer kann das Holzstück nicht gewesen sein –, aber so wurde es meiner Mutter erzählt.2 Sorgen kommen nie als einsame Spione, sondern stets in Bataillonen: Als Živan starb, wurde Jugoslawien durch den Einmarsch der Deutschen vom Zweiten Weltkrieg erfasst. Mamas ältester Bruder, Bogdan, schloss sich mit neunzehn den Partisanen an. Wenn Mama mitten in der Nacht erwachte, so erinnert sie sich, wiegte sich Ruža aus Sorge um ihren Ältesten im Bett hin und her wie ein Chassid.

In Bosnien war der Krieg kompliziert, wie alle Kriege, die dort ausgefochten wurden, wie jeder Krieg. Titos Partisanen mussten nicht nur gegen die Deutschen kämpfen, sondern auch gegen die royalistischen serbischen Truppen – die četniks –, die offen mit den Besatzungstruppen kollaborierten und vor allem damit beschäftigt waren, Muslime zu massakrieren. Die Familie meiner Mutter ist serbischer Herkunft, und die Region, in der sie lebte – in einem Dorf namens Brodac in der Nähe der Stadt Bijeljina –, war fest in der Hand der četniks. Ein Großteil von Ružas Familie unterstützte die četniks, eine Dummheit, die wohl damit zu tun hatte, dass sie reich und schnöselig waren. Stjepan war anders eingestellt, und das nicht nur, weil sein ältester Sohn bei den Partisanen war – er war schlicht ein anständiger Mensch. Die četniks kamen gelegentlich vorbei, weil sie Bogdan suchten, und wenn sie ihn nicht fanden, tobten sie sich an Stjepan aus. Einmal verbarg er eine Kiste mit Munition, die von den Alliierten zur Unterstützung der Partisanen abgeworfen worden war, in einem Misthaufen. Irgendjemand verpfiff ihn bei den četniks, die ihn zusammenschlugen, um zu erfahren, wo sich die Munition befand. Er verriet nichts; sie steckten ihn in ein Lager und hätten ihm wohl die Kehle durchgeschnitten, wenn Ružas Familie nicht eingegriffen hätte; danach stand er sechs Monate unter Hausarrest. Bei einer anderen Gelegenheit, gegen Ende des Krieges, gab Stjepan sein einziges Pferd einem verwundeten jungen Partisanen, der auf der Flucht war. Der junge Partisan versprach, das Pferd zurückzubringen; das tat er zwar nie, aber Stjepan bereute es nicht, einem Mann in Not geholfen zu haben. Vermutlich stellte er sich vor, seinem Sohn könnte anderswo von jemandem auf die gleiche Art geholfen werden.

Mein Onkel Bogdan, dem es gelang, den Krieg zu überleben, kämpfte mit seiner Einheit an der Sremski-Front in der schweren Schlacht, die die Niederlage der Deutschen und ihrer Helfershelfer besiegelte und Belgrad befreite. Als Maschinengewehrschütze war er stets im Visier; einmal wurde er von einer Kugel in die Brust getroffen, und zwei seiner Männer starben neben ihm. Einer seiner Lungenflügel musste entfernt werden, und er hatte sein Leben lang mit den Folgen zu kämpfen. Und auch Ruža tat nie wieder ein Auge zu, jedenfalls nicht bis zu ihrem Tod.

Mama war bei Kriegsende noch ein Kind, erwähnte aber nie, Angst gehabt zu haben oder traumatisiert worden zu sein. Sie erzählte nie Geschichten aus ihrer Kindheit: Sie hatte so gut wie keine Abenteuer erlebt, sie hatte wenige Freunde, ob Menschen oder Tiere, sie hatte nicht einmal Ärger mit ihren Geschwistern. Genau genommen hatte Mama gar keine Kindheit. Zuerst erlebte sie als Jüngste der Geschwister den Krieg, und anschließend, als das Leiden ein Ende hatte, tat sich eine verheißungsvolle, wenn auch nicht ganz einfache Zukunft auf und sie musste ihrer Kindheit Adieu sagen.

1948, sie war gerade einmal elf, verließ sie ihr Zuhause, um in Bijeljina, sieben endlos weite Kilometer von ihrem Dorf entfernt, die Mittelschule zu besuchen. Sie bewohnte ein gemietetes Zimmer3 und fuhr am Wochenende mit der Bahn nach Hause. Sie blieb während ihrer gesamten Gymnasialzeit in Bijeljina und machte 1957 mit guten Noten das Abitur am – ich schreibe dies nur wegen des Namens – Državna realna gimnazija Filip Višnjić.4 Sie war schon damals eine gewissenhafte, fleißige Schülerin.

1957 schrieb sie sich an der Universität von Belgrad ein, Hauptstadt und größte Stadt Jugoslawiens, gut einhundertzwanzig Kilometer und ein ganzes Jahrhundert von Brodac entfernt. Anfangs teilte sie sich mit drei Studentinnen ein Wohnheimzimmer in Studentski grad (Studentenstadt). Sie lebte von einem bescheiden dotierten Stipendium, hatte wenig Geld und kaum Besitz. Aber sie genoss es und schwelgt bis heute in Erinnerungen an ihre kameradschaftliche, herrliche Jugend, an das Ethos des Teilens – ob Essen, Kleidung oder Erfahrungen – und an das Gefühl, dass es trotz der eklatanten Armut an nichts mangelte.

In der Cafeteria der Universität gab es Tanzabende (igranka), unter anderem mit Sirko Šouc und dessen Rock’n’Roll-Band; manchmal ging sie abends zweimal tanzen. Die Kinos zeigten amerikanische Filme, wenn auch mit zig Jahren Verspätung. Esther Williams galt als Göttin;5 der Film Three Coins in the Fountain war ein Straßenfeger, und der gleichnamige Song wurde von der Jugend inbrünstig geträllert, wenn auch in, sagen wir mal, holperigem Englisch. Kaubojski filmovi (Western) im Allgemeinen und John Wayne im Besonderen wurden heiß geliebt. Bis heute bleibt Mama – die gern vor dem Fernseher einschläft – wach, wenn Filme wie Rio Grande oder Rio Bravo oder Red River6 laufen. Sowjetische Filme gab es auch: Die Kraniche ziehen,7 ein poststalinistischer Film über Liebe und Krieg (und Vergewaltigung), ließ das Publikum unisono schluchzen. Man sah auch jugoslawische Filme, denn das Kino des Landes erlebte gerade eine Blütezeit.

Die Handlung von Ljubav i moda (Liebe und Mode)8 etwa dreht sich um junge Leute, die eine Modenschau organisieren, um ihren Segelflugclub zu finanzieren. Der Film beginnt mit einer Szene, in der eine schicke junge Frau auf einer Vespa durch die recht stillen Straßen Belgrads kurvt; eine Schnulze (šlager) warnt die Zuschauer unterdessen vor dem Erscheinen eines jungen Mannes. Sie begegnet ihm erwartungsgemäß unter einer Straßenlaterne; er meint, sie solle besser in der Küche stehen, als Vespa zu fahren, und kanzelt sie als »motorisierte Schlampe« ab, und sie beschimpft ihn als Grobian. Es geht um Liebe, und es geht um Mode. Meine Mutter ähnelt auf vielen Fotos jener Zeit dem Mädchen auf der Vespa: Ballonrock, Bobbysocken und Beehive-Frisur. Sie erinnert sich sogar daran, die Dreharbeiten für Ljubav i moda beobachtet zu haben. Als ich den Film zum ersten Mal sah, suchte ich in der Menge nach ihrem Gesicht. In diesem Film treten nicht nur junge schicke Frauen und lachende Männer auf, die in Segelflugzeugen sitzen und einander als »Genosse« titulieren, sondern auch jugoslawische Popstars, die aus heiterem Himmel schlampig lippensynchronisierte Lieder trällern, darunter eines mit der unsterblichen Zeile: »Denn Mode ist die Schlagsahne und Liebe die Eiscreme« (Jer moda to je šlag, a ljubav sladoled). Zu diesen Liedern gehörte auch »Devojko mala«, das eine Generation später ganz unironisch von einer hippen Band gecovert wurde (VIS Idoli), die ich sehr gern hörte.

In den Achtzigern interessierte ich mich sehr für die Filme und die Musik aus der Studienzeit meiner Eltern und fand ihre Jugend so cool, dass es an Nostalgie grenzte. Mama hat sich sicher nie danach gesehnt, das Leben ihrer Eltern zu führen – als Liebe und Mode in die Kinos kam, war die Kluft zwischen den Generationen schon viel zu groß. Meine Entdeckung ihrer coolen Vergangenheit sorgte jedoch für eine kulturelle Kontinuität; von da an konnten wir auf einen gemeinsamen Referenzrahmen zurückgreifen. Ich hätte auch gern eine solche Jugend gehabt und beneidete sie um die...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 90er Jahre • Amerikanische Literatur USA • Bosnien • Bosnienkrieg • Emigration • Flucht • Jugoslawien • Jugoslawienkrieg • Kanada • Nabokov • Serbien
ISBN-10 3-8437-2605-1 / 3843726051
ISBN-13 978-3-8437-2605-4 / 9783843726054
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