Pflege in der Krise -  David Gutensohn

Pflege in der Krise (eBook)

Applaus ist nicht genug
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
80 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-187-6 (ISBN)
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David Gutensohns eindringlicher Beitrag zum vieldiskutierten Thema Pflege analysiert klar, unaufgeregt und umfassend die Herausforderungen, vor denen unser Pflegesystem steht. Er verliert dabei weder die Lage in den Krankenhäusern aus dem Blick noch die Altenpflege oder die Situation zuhause pflegender Angehöriger. Mit einem realistischen Verständnis des Systems zeichnet er außerdem die Vision eines funktionierenden Gesundheits- und Pflegesektors. Deutlich wird dabei: Dies ist ein Problem, das uns alle betrifft, und wir dürfen diesen Wandel nicht mehr aufschieben!

David Gutensohn hat in Berlin Sozialwissenschaften studiert und in München die Deutsche Journalistenschule besucht. Er ist Redakteur bei ZEIT ONLINE und schreibt über den Arbeitsmarkt, soziale Themen und Gesundheitspolitik. Er beschäftigt sich journalistisch intensiv mit dem Pflegesystem, das er auch persönlich gut kennt, da er selbst Sohn zweier Pflegekräfte ist und einen Großteil seiner Kindheit im Seniorenheim verbracht hat.

David Gutensohn hat in Berlin Sozialwissenschaften studiert und in München die Deutsche Journalistenschule besucht. Er ist Redakteur bei ZEIT ONLINE und schreibt über den Arbeitsmarkt, soziale Themen und Gesundheitspolitik. Er beschäftigt sich journalistisch intensiv mit dem Pflegesystem, das er auch persönlich gut kennt, da er selbst Sohn zweier Pflegekräfte ist und einen Großteil seiner Kindheit im Seniorenheim verbracht hat.

Einleitung Pflege bleibt systemrelevant


Als Kind habe ich eine Pflegefachkraft gefragt, was ihr Beruf für sie bedeuten würde. »Mit dem Herzen zu sehen«, sagte sie. Diese Frau war meine Mutter. Bis heute arbeitet sie in einem Seniorenheim, seit März 2020 mit Maske, Schutzanzug und Handschuhen. Ich bin Journalist. Im Jahr 2020 habe ich mit unzähligen Pflegefachkräften, aber auch Ärztinnen und Ärzten, Klinikleitungen und Heimbetreibern gesprochen. Ich konnte Pflegende während eines Streiks begleiten, war zu Besuch bei pflegenden Angehörigen und habe über eine Klinik geschrieben, die in der Pandemie geschlossen werden sollte. Ich habe über Angestellte berichtet, die eingeschüchtert wurden, weil sie Kritik an ihren Arbeitsbedingungen übten, über eine Fachkraft, die nach 34 Jahren in Deutschland abgeschoben werden sollte, und über Menschen, die am Limit arbeiten mussten.[1]

 

In jungen Jahren wusste ich nichts über das System, nur dass altern in einem Seniorenheim ziemlich schön sein kann. Ich hatte 18 Opas und Omas, spielte mittags nach dem Kindergarten mit ihnen Mau-Mau, half beim Kartoffelschälen für das Abendessen, hörte mir die Geschichten der Seniorinnen und Senioren an. Ich sah sie lachen und singen, sah die Pflegenden in ihrer Aufgabe aufgehen. Damals dachte ich: Wenn ich einmal alt bin, möchte ich auch hier leben, in der schönsten Wohngemeinschaft der Welt. Ich ahnte bereits, wie wichtig der Beruf meiner Eltern war, schon lange bevor man ihn systemrelevant nannte.

Doch das, was ich in meiner Kindheit erleben durfte, war ein Sonderfall in unserem System. Ein Pilotprojekt, ein kleines Haus mit Angestellten, die nicht nach der Stoppuhr pflegen mussten. Ein Pflegeheim, in dem es genug Personal gab und das keine Profite machen musste. Ein familiäres Haus, keine anonyme Pflegekette. Heute, mehr als zwanzig Jahre später, spreche ich mit Angestellten, die den Tränen nahe sind, wenn ihre Schicht endet. Mit Intensivpflegern, die erklären, dass sie täglich das Patientenwohl gefährden müssen. Mit Altenpflegerinnen, denen keine Zeit mehr bleibt, um mit dem Herzen zu sehen. Sie sagen zu mir Sätze wie »Wir zerbrechen an diesem Druck« oder »Der Patient fühlt sich sicher, weil er nicht weiß, wie überlastet wir sind«.[2]

 

1,7 Millionen Menschen arbeiten sozialversicherungspflichtig in Deutschland in der Pflege, davon mehr als eine Million in der Krankenpflege. Das klingt nach viel, doch weniger als die Hälfte davon arbeitet in Vollzeit.[3] Überall fehlen Pflegefachkräfte, während die Zahl der zu Pflegenden jährlich weiter steigt. In der Bundesrepublik fehlen laut dem Deutschen Pflegeverband heute schon 200000 Pflegefachpersonen in Krankenhäusern, Seniorenheimen und ambulanten Diensten.[4] Die Bertelsmann Stiftung spricht von 500000 fehlenden Fachkräften bis zum Jahr 2030.[5] Gleichzeitig nimmt die Zahl der Pflegebedürftigen seit Jahren stark zu, 2017 waren noch 3,41 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen, heute sind es 4,13 Millionen.[6] Diese Zahl wird unaufhaltsam weiter steigen, weil wir in einem Land leben, dessen Bevölkerung immer älter wird und in dem damit immer mehr Pflegefälle zu betreuen sind.[7] Jeder fünfte Deutsche ist bereits im Rentenalter, in nur wenigen Jahren wird sich diese Zahl vervielfachen.

 

In der Klimakrise sprechen Wissenschaftlerinnen von einem Kipppunkt, einem Moment, an dem unaufhaltsame Folgen in Gang gesetzt werden. Wenn beispielsweise die Pine-Island-Gletscher in der westlichen Antarktis schmelzen und der weltweite Meeresspiegel um 1,5 Meter steigt. Oder wenn sich die Erde bis Ende des Jahrhunderts im Durchschnitt um mehr als 1,5 Grad Celsius erwärmt und dem Amazonas-Regenwald der Hitzekollaps droht und Monsune, Stürme und Waldbrände ausgelöst werden.[8]

 

Auch die Pflegekrise hat ihren Kipppunkt: wenn Ende des laufenden Jahrzehnts die Babyboomer, die geburtenstärksten Jahrgänge der Republik, in Ruhestand gehen und viele von ihnen im Alter gepflegt werden müssen. Denn nie war die Zahl an Geburten höher als in den 1960er- und 1970er-Jahren, nie zuvor stand das Land vor einer so enormen Welle an Menschen, die auf Pflege angewiesen sein könnten. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird laut Prognosen so stark ansteigen, dass wir bis zum Jahr 2050 fast eine Million Pflegefachkräfte zusätzlich benötigen.[9] Ändert sich bis dahin politisch nichts, erreicht auch die Pflege – überspitzt gesagt – ihren Point of no return, den Zeitpunkt, an dem es zu spät ist, zu handeln. Ein Zustand mit zu vielen Patientinnen und Patienten und zu wenig Pflegepersonal, mit zunehmendem Stress, der die Arbeitsbedingungen verschlechtert, was wiederum dazu führt, dass noch weniger Menschen in der Pflege arbeiten wollen. Ein Kreislauf, der das ganze System gefährdet. All das zeigt: Auch die Pflege braucht ein 1,5-Grad-Ziel, sie braucht große Konferenzen und einen Masterplan. Denn wie die Klimakrise wird auch dieser Wandel uns alle betreffen, unsere Großeltern und Eltern, uns selbst, unsere Kinder.

 

Tatsächlich ist der Pflegenotstand nicht nur eine Prognose, er ist schon heute real. In Kliniken, in Seniorenheimen und in der ambulanten Pflege fehlt es überall an Personal. Ein sogenannter Fachkräftemangel besteht dann, wenn die Bundesagentur für Arbeit mehr offene Stellen zählt als Arbeitslose mit entsprechender Qualifikation oder wenn offene Stellen lange unbesetzt bleiben, also Engpässe zu beobachten sind. Einmal im Jahr gibt die Arbeitsagentur dazu einen Bericht heraus. Im Jahr 2020 kamen auf 100 offene Stellen in der Altenpflege nur 25 Arbeitslose, in der Krankenpflege steht das Verhältnis immerhin bei 100 zu 54.[10] Beide Berufe erreichen, verglichen mit anderen Branchen, regelmäßig traurige Spitzenwerte. Ähnlich sieht es aus, wenn man die Vakanzzeiten betrachtet, also die Anzahl an Tagen, die es braucht, um eine freie Stelle zu besetzen. In der Krankenpflege sind das aktuell 174 Tage, in der Altenpflege sogar 205 Tage. Bundesweit gibt es demnach einen Fachkräftemangel im Bereich der Pflege, die Deutschlandkarte ist in dem Bericht fast überall stark rot gefärbt.[11] Nur wenige Regionen melden keinen eklatanten Mangel. Ähnlich sieht es bei ambulanten Pflegediensten aus. Eine bundesweite Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege zeigt, dass 53 Prozent der Pflegedienste offene Stellen mindestens drei Monate lang nicht besetzen konnten. Insgesamt seien 16000 Stellen unbesetzt, 80 Prozent der Pflegefirmen mussten die Betreuung neuer Patientinnen und Patienten ablehnen. Mehr als jeder zehnte Betrieb musste sogar bisherigen Kundinnen und Kunden kündigen und deren Pflege einstellen.[12]

 

Zahlen wie diese zeigen: Der Personalmangel ist ein bundesweites Problem, das alle Formen der Pflege betrifft. Und er ist kein neues Phänomen, nichts, was uns unvermittelt erreicht hat und überraschen dürfte. Seit einigen Jahren halten Politikerinnen Sonntagsreden dazu, verkünden Reformen, Journalisten begleiten Pflegende auf überlasteten Stationen, Heimleiterinnen schlagen in Brandbriefen Alarm. Und doch ist das Thema eines, das kollektiv verdrängt wird, ähnlich wie es lange mit dem Klimawandel geschah. Jeder Mensch kennt zwar jemanden, der gepflegt werden muss, entweder zu Hause, im Seniorenheim oder in einer Klinik, entweder durch Pflegedienste oder durch Angehörige und Freunde. Jeder hat eine ungefähre Vorstellung davon, was der Pflegenotstand bedeutet und welche Folgen er haben könnte. Trotzdem ist der Druck auf die Politik nicht stark genug, fast so, als betreffe uns die Krise nicht. Das hat vielfältige Ursachen, angefangen bei der unzureichenden Organisation des Pflegepersonals selbst. Nur jede zehnte Altenpflegerin ist in einer Gewerkschaft, in der Krankenpflege ist die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Angestellten nicht viel höher.[13] Viele Einrichtungen haben keinen Betriebsrat, die Berufsverbände sind selten prominent und lautstark.[14] In der Politik selbst hat die Pflege ebenfalls keine starke Lobby, es gibt keinen großen Interessenverband, wie ihn beispielsweise die Ärztinnen und Ärzte mit der Gewerkschaft Marburger Bund haben. Es gibt kaum Politikerinnen, die selbst Erfahrungen in der Pflege gesammelt haben, auch keinen Pflegeminister, offiziell liegt das Thema zwischen dem Arbeits- und dem Gesundheitsministerium.

Doch die Pflege ist nicht nur schlecht organisiert und politisch quasi irrelevant, sie wird auch immer noch nicht ernst genommen. Sorgearbeit ist wichtig, darin sind sich viele einig. Und trotzdem will sie kaum jemand machen, kaum jemand fair bezahlen. Sie bleibt oft unsichtbar, hinter den verschlossenen Türen der Heime, Kliniken und Wohnhäuser. Bis heute ist Sorgearbeit oft die Angelegenheit von Frauen, mehr als 80 Prozent der Pflegefachpersonen in Deutschland sind weiblich. Immer noch...

Erscheint lt. Verlag 23.7.2021
Reihe/Serie Atrium Zündstoff
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alternde Gesellschaft • Analyse • Gesundheitssystem • Krise • Lösungsvorschläge • Pflegende Angehörige • Pflegenotstand • Pflegesystem • Streitschrift • Zündstoff
ISBN-10 3-03792-187-0 / 3037921870
ISBN-13 978-3-03792-187-6 / 9783037921876
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