Wo auch immer ihr seid (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
304 Seiten
btb Verlag
978-3-641-23208-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo auch immer ihr seid - Khuê Pham
Systemvoraussetzungen
4,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Sie ist dreißig Jahre alt und heißt Ki?u, so wie das Mädchen im berühmtesten Werk der vietnamesischen Literatur. Doch sie nennt sich lieber Kim, weil das einfacher ist für ihre Freunde in Berlin. 1968 waren ihre Eltern aus Vietnam nach Deutschland gekommen. Für das, was sie zurückgelassen haben, hat sich die Journalistin nie interessiert. Im Gegenteil: Oft hat sie sich eine Familie gewünscht, die nicht erst deutsch werden muss, sondern es einfach schon ist. Bis zu jener Facebook-Nachricht. Sie stammt von ihrem Onkel, der seit seiner Flucht in Kalifornien lebt. Die ganze Familie soll sich zur Testamentseröffnung von Ki?us Großmutter treffen. Es wird eine Reise voller Offenbarungen - über ihre Familie und über sie selbst.

Khuê Ph?m gehört zu den wichtigsten Stimmen einer neuen Generation von deutschen Autoren. Sie wurde 1982 in Berlin geboren und studierte in London am Goldsmiths College und der London School of Economics. Nach ihrer Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule fing sie 2009 als Redakteurin bei der ZEIT an. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2012 veröffentlichte sie mit Alice Bota und Özlem Topçu »Wie neuen Deutschen« (Rowohlt), das von Einwandererkindern und ihrem Platz in Deutschland handelt. »Wo auch immer ihr seid« ist ihr Debütroman - eine literarische Annäherung an ihre eigene Familie, deren Lebensweg sie über fünf Jahrzehnte nachzeichnet. Khuê Pham lebt in Berlin.

KIỀU


Ich muss diese Geschichte mit einem Geständnis beginnen: Ich kann meinen eigenen Namen nicht aussprechen.

Solange ich mich erinnere, war es mir unangenehm, mich anderen Menschen vorzustellen. Waren sie Deutsche, konnten sie die melodischen Laute nicht verstehen. Waren sie Vietnamesen, hatten sie Probleme mit meinem harten Akzent. Die Deutschen umgingen das Problem, indem sie mich gar nicht ansprachen. Die Vietnamesen fragten: »Wie schreibt man das?«

Einer sagte: »Bist du dir sicher?«

Ich erinnere mich an meine kindlichen Versuche, mit meinem Problem umzugehen. Gingen wir zu Karstadt, fuhr ich in die Spielzeugabteilung und suchte unter den bedruckten Bleistiften nach meinem Namen. Gingen wir zum Baumarkt, setzte ich meine Hoffnungen auf die bunten, langen Schlüsselanhänger. Wenn ich meinen Namen nur finden würde, dachte ich, wäre das der Beweis, dass alles richtig war mit mir. Hunderte Bleistifte und Schlüsselanhänger durchsuchte ich. Ich fand »Katrin«, »Kristina« und einmal – da hüpfte mein Herz – »Kira«.

»Kiều« fand ich nicht.

»Kiều« existierte nur in der Welt meiner Familie und auf dem Titel eines Buches, das in dem Kellerregal meines Vaters stand: »Truyện Kiều, das Mädchen Kiều«. Ein Werk, das für die vietnamesische Literatur so wichtig war wie »Die Leiden des jungen Werther« für die deutsche.

Natürlich konnte ich es nicht lesen.

Immer wenn mein Vater aufräumen musste, holte er dieses Buch hervor und sagte: »Weißt du eigentlich, dass du nach einer berühmten jungen Frau benannt bist? Jeder Schüler hat diesen Roman gelesen! Du bist in ganz Vietnam bekannt!«

Und weil ich meinem Vater als Kind alles geglaubt habe, glaubte ich ihm auch das und stellte mir vor, wie ich durch Vietnam laufen und von allen möglichen Leuten angesprochen werden würde. Unzählige Male würde ich mich vorstellen und meinen Namen aussprechen müssen. Unzählige Nachfragen würden darauf folgen.

Als ich sechzehn war, nannte ich mich um, weil ich glaubte, mit einem besseren Namen bessere Chancen zu haben, in Jeanettes Clique aufgenommen zu werden. Als ich zwanzig war, ließ ich meinen Pass ändern, weil ich endlich so etwas wie Macht über mein Schicksal verspürte.

Seit zehn Jahren bin ich eine andere. Die Deutschen sagen »Kimm« zu mir, die Vietnamesen »Kihm«. Es ist nicht richtig, aber es ist einfacher so. Der Verlust meiner Vergangenheit hat mir nichts ausgemacht, wirklich nicht.

Bis ich diese Nachricht erhielt.

*

Die Nachricht erreichte mich über Facebook und war auf Englisch geschrieben, ein gewisser »Sơn Saigon« hatte mich kontaktiert.

»Bist du es, Kiều? Es gibt etwas, das du und dein Vater wissen müsst!«

Es gibt nicht viele Leute, die meinen wahren Namen kennen, man kann den Kreis der Eingeweihten auf meine große, nebulöse Verwandtschaft beschränken. Auf der Seite meiner Mutter gibt es einen vietnamesischen Zweig, der laut und kinderreich ist; jedes Mal, wenn die Verwandten Fotos schicken, bin ich überrascht, lauter neue Cousins und Cousinen darauf zu entdecken, deren Namen ich mir nicht merken kann, obwohl – oder weil – sie nur aus zwei Buchstaben bestehen. Von der Familie meines Vaters erinnere ich vor allem eine gehörlose Tante. Soviel ich weiß, sind seine Geschwister nach Kriegsende aus Vietnam geflohen und schließlich in Kalifornien gelandet, vielleicht als Boatpeople, vielleicht auch nicht.

Dann gibt es noch eine Großtante in England, die als Anwältin der Cannabis-Mafia reich geworden ist, und einen angeheirateten Cousin, der Dichter war und nach dem Krieg vom PEN-Club aus Vietnam nach Kanada ausgeflogen wurde. Außerdem eine junge Cousine in Frankreich, die in dieser kitschigen Musik-Show aufgetreten ist, zu der meine Eltern so gerne Karaoke singen: »Paris by Night«.

All diese Leute kenne ich nur aus Erzählungen. Sie sind für mich so unwirklich wie die Geister der verstorbenen Ahnen, für die ich am vietnamesischen Neujahr ein paar Räucherstäbchen anzünde und ein Gebet simuliere. Einmal im Jahr schweben sie in mein Leben hinein, um sich nach einem kurzen Gruß wie Qualm zu verziehen.

Wer also ist Sơn?

Das Profilfoto seiner Facebook-Seite zeigt einen Mann mit buschigen Augenbrauen und einer geraden Nase, die mich an die meines Vaters erinnert. Vietnamesische Bekannte haben sie oft für ihre hohe, elegante Form bewundert, deswegen fällt sie mir bei Sơn als Erstes auf. Seine Augen sind ungewöhnlich rund, sodass sein Gesicht trotz der faltigen Stirn wie das eines Jungen wirkt. Offenbar lebt er in Westminster, Kalifornien, und führt ein Import-Export-Geschäft namens »Made in America«. Er muss der zweite Bruder meines Vaters sein. Der, der in der Schule so schlecht war und im Kartenspielen so gut.

Ich versuche, mich an die Familie meines Vaters zu erinnern, so wie man versucht, sich an Einträge aus Geschichtsbüchern zu erinnern. Vor fünfzehn Jahren habe ich meine Verwandten einmal getroffen – wir machten in Vietnam gerade Heimaturlaub und erfuhren zufällig, dass auch sie zu Besuch waren. Warum wir nie zu ihnen nach Kalifornien geflogen sind, weiß ich nicht. Als ich meine Mutter einmal fragte, ob es irgendein Zerwürfnis gegeben habe, überlegte sie erst, dann schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich«, sagte sie und dehnte das Wort ganz eigenartig, »ist alles in Ordnung. Aber Papas Familie ist schwierig, es ist besser, wenn wir uns auf unser Leben konzentrieren und sie sich auf ihres. Wir schicken Geld, wir müssen sie nicht auch noch in Kalifornien besuchen.«

Dann war wieder alles husch-husch, und ich traute mich nicht, weiter nachzufragen.

Es gibt etwas, das ihr wissen müsst!

Was will dieser Mann von mir?

Ich klappe den Laptop zu, um hinauszugehen in meinen Berliner Alltag, der deutsch, geordnet und frei von transkontinentalen Familienproblemen ist. Fünfzehn Jahre hat mein Onkel nicht mit mir gesprochen, ob ich ihm später antworte – oder auch nie –, macht doch keinen Unterschied.

*

Zweieinhalb Wochen später fahre ich zu dem hellblauen Haus, in dem meine beiden Geschwister und ich aufgewachsen sind. Es ist Weihnachten, und wie jedes Jahr versetzt mich das in eine seltsame Stimmung. Ich kehre nicht nur nach Hause, sondern auch in die Deplatziertheit meiner Kindheit zurück.

Meine Eltern haben dieses Fest gelernt, so wie sie die deutsche Grammatik gelernt haben – als etwas, das man vollführt, um Teil von diesem Land zu sein. Den Tannenbaum im Wohnzimmer haben sie mit einem Weihnachtsmann-Kuscheltier, selbst bemalten Holzfiguren, kitschigen Glitzerkugeln und zwei Lichterketten in verschiedenen Farben geschmückt. Fehlt eigentlich nur noch der Kunstschnee.

Ich setze mich an mein altes Klavier und spiele das Präludium in C-Moll von Bach aus dem Wohltemperierten Klavier. Das Hämmern der Töne vermischt sich mit dem Klappern aus der Küche, wo meine Mutter wie immer mit ihren Töpfen hantiert. Wie oft habe ich mich mit ihr wegen meiner Klavierstunden gestritten und heulend auf diesem schwarzen Hocker gesessen. Wie oft habe ich mir gewünscht, in einer Familie aufzuwachsen, die nicht erst deutsch werden musste, sondern es einfach schon war.

Die Skiausrüstung im Keller, die BMWs in der Garage, die gerahmten Familienporträts aus Ibiza, Paris und der Bucht von Halong bebildern eine Geschichte, die sich alle immer gern erzählt haben: Schaut euch diese Familie an! Sind zwar Ausländer, haben es aber trotzdem geschafft! Irgendetwas hat mich immer gestört, wenn uns »die Deutschen« – so nannten wir sie, wie ein fremdes, fernes Volk – zu der Karriere meines Vaters, dem »Fleiß« meiner Mutter oder dem »hervorragenden Deutsch« von meinen Geschwistern und mir gratulierten. Während sich der Stolz auf den Gesichtern meiner Eltern ausbreitete, fühlte ich mich jäh verletzt.

Ich greife daneben, meine Hände bleiben auf dem schrägen Akkord liegen. Als die Geräusche aus der Küche verstummen, schließe ich den Deckel der Tastatur. Über dem Klavier hängt ein Schwarz-Weiß-Foto, das mein Vater vor vielen Jahrzehnten von seiner Mutter gemacht hat: Schmal und anmutig sitzt sie in einem Taxi. Ihre Haare sind in Locken zur Seite gesteckt, ihr vietnamesisches Seidenkleid, das Áo dài, ist mit goldenen Blumen bestickt. Er hat das Foto vor vielen Jahren in Saigon geschossen, kurz bevor er zum Studium nach Deutschland ging. Obwohl meine Großmutter mit einem breiten Lächeln und aufgerissenen Augen in die Kamera sieht, liegt etwas Wehmütiges in ihrem Blick.

Mein Vater hat mir einmal gesagt, dass ihn mein Gesicht an ihres erinnere. Ich sehe die Ähnlichkeit vor allem in der hohen Stirn, die ich mit wechselnden Pony-Frisuren kaschiere. Ich bin nicht ganz so dünn wie sie, etwas größer vielleicht, und natürlich trage ich nie Áo dài, sondern immer nur schwarze Hosen zu monochromen Oberteilen. Weil ich finde, dass Asiaten mit Brille so streberhaft aussehen, trage ich trotz meiner fünf Dioptrien ausschließlich Kontaktlinsen. Bei meinem letzten Vietnambesuch haben mich viele für eine Ausländerin gehalten, nicht für eine Vietnamesin. Ich muss gestehen, das hat mich gefreut.

*

Als die Dunkelheit durch die bodentiefen Fenster hereinbricht, setzen meine Geschwister und ich uns an den Esstisch, den meine Mutter zur Feier des Tages mit dem schweren Rosenthal-Porzellan gedeckt hat, das sie sonst ausschließlich für deutsche Gäste aus dem Schrank holt. Sie hat sich sogar eine weiße Seidentischdecke aus dem KaDeWe geleistet, obwohl sie dort so selten hingeht und...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Boat people • Debüt • Deutsche Gegenwartsliteratur • eBooks • Familie • Flucht • Herkunft • Identitätssuche • Ijoma Mangold • Kalifornien • Roman • Romane • Sasa Stanisic • Vietnam • Vietnamesische Kultur • Vietnamkrieg
ISBN-10 3-641-23208-2 / 3641232082
ISBN-13 978-3-641-23208-5 / 9783641232085
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99