Weiches Begräbnis (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
448 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01106-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weiches Begräbnis -  Fang Fang
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'Fesselnd wie ein Opiumrausch.' Le Monde Wer China verstehen will, sollte diesen Roman lesen: In ihrem zuerst gefeierten, dann verfemten Roman rührt Fang Fang an die Traumata der chinesischen Seele. Als Weiches Begräbnis 2016 in China erscheint, wird der Roman als wichtigstes chinesisches Werk der letzten Jahrzehnte gefeiert und mit dem renommierten Literaturpreis Lu Yao ausgezeichnet. Doch als bei einer Parteizusammenkunft der Roman mit dem Vokabular der Kulturrevolution als 'Giftpflanze' verbrämt wird, verschwindet das Buch vom Markt. Denn Fang Fang rührt darin an ein unverarbeitetes Trauma der chinesischen Gesellschaft, die Landreform nach 1948, als Millionen Chines*innen hingerichtet und in 'weichen Begräbnissen', d.h. ohne Sarg, verscharrt wurden. In einem kleinen Dorf wird eine junge Frau halbtot aus einem Fluss gezogen, sie erinnert sich an nichts. Der Dorfarzt Dr. Wu rettet ihr das Leben, und sie beginnt ein neues: Sie wird Haushälterin des KP-Kaders vor Ort, heiratet ihren Retter Dr. Wu, und sie bekommen einen Sohn. Doch im Laufe der Jahre löst sich der schützende Kokon des Vergessens. Sie sind verdammt zu schweigen, denn das Schweigen schützt die Familie: auch dafür steht 'weiches Begräbnis', die Erinnerung so tief zu begraben, dass gefährliches Wissen für immer verlorengeht. Im Schatten dieses Traumas wächst ihr Sohn auf - doch alles ändert sich, als er beginnt, die Vergangenheit zu erforschen.  

Fang Fang ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Chinas. Sie wurde 1955 geboren und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan. Ihr 2020 auf Deutsch erschienenes Wuhan Diary stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Zuletzt erschien von ihr bei Hoffmann und Campe der vielfach gefeierte Roman Glänzende Aussicht (2024).

Fang Fang ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Chinas. Sie wurde 1955 geboren und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan. In den letzten 35 Jahren hat sie eine Vielzahl von Romanen, Novellen, Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. Stets spielen die Armen und Entrechteten in ihren Werken eine große Rolle. 2016 veröffentlichte sie den von der Kritik gefeierten Roman Weiches Begräbnis, für den sie mit dem renommierten Lu-Yao-Preis ausgezeichnet wurde und der auch in Deutschland ein großer Erfolg wurde. Ihr 2020 auf Deutsch erschienenes Wuhan Diary stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Cover
Titelseite
I. Abschnitt
II. Abschnitt
III. Abschnitt
IV. Abschnitt
V. Abschnitt
VI. Abschnitt
VII. Abschnitt
VIII. Abschnitt
IX. Abschnitt
X. Abschnitt
XI. Abschnitt
XII. Abschnitt
XIII. Abschnitt
XIV. Abschnitt
Ausklang
Wir wollen kein weiches Begräbnis: Anstelle eines Nachworts
Nachwort des Übersetzers
Fußnoten
Biographien
Impressum

4. Kapitel


Ursprünglich hatte sie mit Qinglin in einem Mietshaus in einer schmalen Seitengasse der Tanhualin-Straße im Bezirk Wuchang gewohnt. Die Wohnung war ihnen zu Lebzeiten ihres Mannes zugewiesen worden. Viele Jahre verbrachten sie dort. Ihr Mann war jener Doktor Wu, der sie damals, als man sie aus dem Wasser zog, gerettet hatte. Sie liebte ihn über alles, er war nicht nur ihr Ehemann, er war zugleich ihr Lebensretter. Als sie aus dem Koma erwachte, war er die erste Person gewesen, die sie erblickt hatte. Der erste Mensch, den sie in ihrem neuen Gedächtnis gespeichert hatte.

Sie überlegte oft, wann genau sie sich in ihn verliebt hatte. War es beim ersten Anblick, oder geschah es, als sie sein Büro betrat? Sie wusste nicht mehr, aus welchem Grund sie dorthin gegangen war. Sie erinnerte sich nur, dass auf seinem Schreibtisch eine Ausgabe des Romans Traum der roten Kammer4 lag, die sie unwillkürlich in die Hand nahm, um darin zu blättern. Ohne sich dessen gewahr zu werden, murmelte sie dabei »Daiyu«. Die beiden Silben versetzten sie für einen Moment in Unruhe. Genau in diesem Moment betrat Doktor Wu das Büro. Als er sie im Buch blättern sah, trat auf sein Gesicht tiefes Erstaunen. Er nahm ihr den Roman aus der Hand, sah sie starr an, schien einen Moment zu zögern und sagte dann: »Lass niemand wissen, dass du lesen kannst. Das ist vermutlich besser für dich.« Sie sah ihn verständnislos an. Er fuhr fort: »Ich sage das nur, weil ich Angst habe, dass die Leute misstrauisch werden. Niemand weiß, woher du kommst, das sorgt für Spekulationen. Verstehst du?«

Sie verstand nicht recht, was er meinte, aber sie behielt seine Worte im Gedächtnis. Denn der Schrecken, den sie in ihr hervorgerufen hatten, verwandelte sich auf der Stelle in ein Gefühl von Wärme.

Wenige Tage später empfahl Doktor Wu sie der Familie von Herrn Liu, dem Politkommissar des Militärbezirks, als Kindermädchen und Haushälterin. Der Politkommissar Liu war ein verdienter Revolutionär, auch seine Frau arbeitete als Funktionärin. Doktor Wu begleitete sie bis zur Kreuzung an der Hauptstraße und sagte dort mit bedeutungsschwerem Nachdruck zu ihr: »Ich denke, dort zu arbeiten ist das Beste für dich, es macht alles einfacher und wird dir womöglich auf deinem Lebensweg helfen.« Wieder verspürte sie den Anflug innerer Wärme, und mit einem Mal begriff sie, dass Doktor Wus Worte eine für sie außergewöhnlich bedeutsame Botschaft enthielten. Zugleich lag in dieser Botschaft aber auch etwas, das sie als bedrohlich empfand.

Von Liebe zwischen ihnen konnte damals keine Rede sein.

Es vergingen viele Jahre, doch er und der Klang seiner Stimme blieben ihr unauslöschlich im Gedächtnis. Als der Politkommissar befördert und daraufhin versetzt wurde, zog sie mit der gesamten Familie nach Wuhan. Frau Peng, die Frau des Politkommissars, behandelte sie gut, ein so perfektes Hausmädchen habe sie noch nie gehabt, sagte sie. Sie kochte Essen für die Kinder, putzte die Wohnung und führte ein Leben ohne besondere Ereignisse, einfach und friedlich. Weder trat sie eine andere Stelle an, noch dachte sie an einen Ortswechsel, auch eine Ehe kam ihr nicht in den Sinn. Wechselten ihre Arbeitgeber den Ort, folgte sie ihnen, sie hatte keine anderen Erwartungen an das Leben.

In einem der darauf folgenden Jahre wurde auch Doktor Wu an einen anderen Ort versetzt, und er machte auf dem Weg zu seinem neuen Dienstort einen Abstecher, um seinen ehemaligen Vorgesetzten zu besuchen. Er war freudig überrascht, sie dort anzutreffen, und unwillkürlich entfuhr ihm die Frage: »Du bist noch immer hier? Wie geht es dir?«

Sie war tief bewegt, ohne zu verstehen, warum. Mit einem Zittern in der Stimme sagte sie: »Mir geht es gut, und das verdanke ich Ihnen.« Er sah ihr fest und lange in die Augen. Sie erkannte an seinem Blick, dass zwischen ihnen ein Geheimnis existierte, von dem nur sie beide wussten. Worin es bestand, wusste sie nicht, doch ihr Herz begann auf einmal heftig zu schlagen.

Doktor Wu aß an diesem Tag mit der Familie des Politkommissars zu Abend. Auf dem Tisch standen Speisen, die sie mit höchster Sorgfalt zubereitet hatte. Im Verlauf der Unterhaltung während des Essens überraschte Doktor Wu die Familie mit der Nachricht, dass seine Frau an einer Krankheit gestorben war. Frau Peng legte ihre Stäbchen beiseite und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie hatte zu Xiao Yan5, seiner Frau, in einer besonderen, geradezu schwesterlichen Beziehung gestanden, sie hatten einst gemeinsam eine lebensgefährliche Situation durchlebt.

Sie stand an der Seite und spürte, wie ihr Herz bei dieser Nachricht wild pochte.

Politkommissar Liu seufzte eine Weile, dann fragte er: »Und du bist jetzt allein?«

»Ja, allein.«

»Und du willst nicht wieder heiraten?«

»Man hat mir die eine oder andere Kandidatin vorgeschlagen, aber die rechte war nicht darunter.«

»Hör mal, du, ein ausgewachsenes Mannsbild, wie soll das angehen?«, sagte Politkommissar Liu. Dabei fiel sein Blick auf sie, und unwillkürlich deutete er auf sie: »Na, dann muss ich wohl den Heiratsvermittler spielen. Ihr seid doch alte Bekannte, und vom Alter her passt es auch.«

Doktor Wus Blick war dem Zeigefinger des Politkommissars gefolgt. Sie geriet in Panik und hätte sich am liebsten in ein Erdloch verkrochen, er dagegen sah sie mit einem Lächeln an. Und dieses Lächeln verriet ihr, dass ihm der Vorschlag gefiel.

So kam es, dass sie im gleichen Jahr die Familie des Politkommissars Liu verließ. Die drei Kinder der Familie, die sie großgezogen hatte, standen gemeinsam in der Tür und blickten ihr voller Wehmut nach, die Jüngste kämpfte mit den Tränen.

Sie wandte sich nicht um. Als sie auf den Arm des Doktors gestützt über die Schwelle ihrer Wohnung trat, war ihr erster Satz: »Warum wolltest du mich heiraten?«

Er lachte leise und sagte: »Ich hätte mir um dich Sorgen gemacht, wenn du einen anderen geheiratet hättest.«

Sie verstand, dass sich hinter seiner Antwort etwas verbarg, ohne recht zu begreifen, was er sagen wollte. Sie dachte einen Moment nach, dann entschlüpfte ihr unwillkürlich: »Das stimmt, hätte ich einen anderen geheiratet, wäre es mir genauso gegangen.«

Sie hatte kaum geendet, als eine unbestimmbare Angst in ihr aufstieg. Das Grau des Abends ging in Nachtschwärze über, mit zunehmender Dunkelheit verstärkte sich die Angst. Sie selbst hätte nicht sagen können, wovor sie sich fürchtete, aber die Angst wich nicht. Als Doktor Wu sie in die Arme schloss und sein Körper sich an ihren schmiegte, begann sie, am ganzen Körper zu zittern. Doktor Wu streichelte sie und flüsterte ihr zu: »Ich weiß. Ich weiß. Ich verstehe, ja, ich verstehe. Keine Angst, es ist alles gut.«

In seinen Armen fragte sie sich: »Was heißt das? Was weiß er? Was versteht er? Was ist alles gut?«

In der Nacht hatte sie einen so entsetzlichen Albtraum, dass sie vor Schreck aufwachte. Am nächsten Morgen stand sie in aller Herrgottsfrühe auf. Doktor Wu beobachtete sie vom Bett aus und sagte: »Beunruhige dich nicht. Mach dir nicht so viele Gedanken. Ich werde dich beschützen. Ich habe dich geheiratet und hierhergebracht, weil ich weiß, wie du gerettet wurdest. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der deine Gefühle versteht. Du musst vor nichts Angst haben.«

Ein Tränenstrom brach aus ihr hervor, überwältigt von Gefühlen stürzte sie sich in seine Arme. Doch zur gleichen Zeit hatte sie ein Gefühl, als säße ihr ein feiner Stachel, scharf und vergiftet, im Rücken. Er folgte ihr, wohin immer sie ging, sie vergaß nie, auf der Hut zu sein, aus Angst, er könnte sie eines Tages stechen.

Von diesem Tag an hatte sie eine eigene Familie. Ihr Eheleben war voller Wärme und Glück, auch wenn sie eine ständige Unruhe begleitete, die sie nie verließ. Aber sie war nun keine Hausangestellte mehr, sondern eine Ehefrau in allen Ehren. Eine Rolle, die sie mit großer Befriedigung erfüllte.

Diese Gemütslage bestimmte ihr Alltagsleben. Sie stand täglich frühmorgens auf und bereitete ihm das Frühstück, sah ihm nach, wenn er die Wohnung verließ, um zur Arbeit zu gehen; wenn er zur Mittagspause aus der Klinik heimkehrte, stand das Mittagessen bereits auf dem Tisch; kehrte er nach dem Mittagsschlaf in die Klinik zurück, begann sie allmählich mit der Vorbereitung des Abendessens und wartete dann auf seine Rückkehr. Sie sorgte mit großer Aufmerksamkeit für ihn, achtete auf jede Kleinigkeit, die ihn betraf. Kleine Freuden mehrten sich in ihrem Herzen und begannen, die Unruhe daraus zu vertreiben. Vielleicht könnte ihr künftiges Leben so aussehen, dachte sie.

Sie wurde bald schwanger. Doktor Wu war überglücklich, und auch sie empfand eine freudige Erregung. Doch sobald sie allein war, kehrte die seltsame Furcht zurück. Sie überfiel sie häufig und in unregelmäßigen Abständen, es war ihr, als lauerten erneut die Dämonen aus den Wogen des Flusses in einem Hinterhalt, um sich plötzlich auf sie zu stürzen. Sie warteten auf eine Gelegenheit, jederzeit bereit, ihr den tödlichen Schlag zu versetzen. In dieser Zeit erreichte ihre Angst ein unkontrollierbares Ausmaß. Wenn sie auf eine Wand blickte, glaubte sie immer, dass sich dahinter etwas verbarg, sah sie Wolken, schien sich auch dahinter etwas zu verbergen, beim Blick auf Bäume meinte sie zu spüren, dass sich in den Blättern etwas versteckt hielt. Sie sah eine Lampe und glaubte, etwas werde daraus hervorbrechen, sobald sie ausgeknipst sei. Unerwartete Laute versetzten sie in Panik, plötzlich aufscheinende Farben versetzten sie in Panik, unbekannte Menschen, die sie besuchten, versetzten sie in Panik,...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2021
Übersetzer Michael Kahn-Ackermann
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beziehungsroman • Bodenreform • China • Erinnern • Erinnerung • Erinnerungskultur • Familie • Familiengeschichte • Fang Fang • Frauenroman • Freundschaft • Gefühle • Gegenwart • Geheimnis • Historischer Roman • Hoffnung • Hollywood • Kommunismus • Landreform • Liebesroman • Literaturpreis • Mao Zedong • Roman • Romane • Schicksal • Schweigen • spannend • Unterhaltung • Vergangenheit • Vergessen
ISBN-10 3-455-01106-3 / 3455011063
ISBN-13 978-3-455-01106-7 / 9783455011067
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