Eine Sehnsucht nach morgen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
463 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-0740-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Sehnsucht nach morgen -  Eva Völler
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Ruhrpott, 1968: Flowerpower, Studentenbewegung, Arbeitskampf. Als Bärbel nach dem Medizinstudium in ihre Heimatstadt Essen zurückkehrt, spiegelt sich die Zerrissenheit der Gesellschaft auch in ihrer eigenen Familie wider: Die Schwester und ihr Schwager kämpfen mit privaten und beruflichen Schwierigkeiten, für die es keine Lösung zu geben scheint, und ihr Bruder setzt mit politischen Aktionen seine Zukunft aufs Spiel. Doch vor dem größten Problem steht Bärbel selbst, als sie den Mann wiedersieht, den sie früher für die Liebe ihres Lebens hielt ...



Geboren und aufgewachsen am Rande des Kohlenpotts, hat Eva Völler sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem verdiente sie zunächst als Juristin ihre Brötchen, bevor sie ihr Hobby zum Beruf machte. Mit der RUHRPOTT-SAGA hat sie sich einen Herzenswunsch erfüllt.

Geboren und aufgewachsen am Rande des Kohlenpotts, hat Eva Völler sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem verdiente sie zunächst als Juristin ihre Brötchen, bevor sie ihr Hobby zum Beruf machte. Mit der RUHRPOTT-SAGA hat sie sich einen Herzenswunsch erfüllt.

Kapitel 1


Schneematsch spritzte hoch und durchnässte Bärbels Mantel vom Kragen bis zum Saum. Mit einem empörten Aufschrei sprang sie zurück und blickte dem davonbrausenden Wagen nach. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, er würde anhalten, doch dann hatte der Fahrer Gas gegeben und war weitergefahren. Möglicherweise auf Veranlassung der neben ihm sitzenden Frau, von der Bärbel einen kurzen, aber erkennbar giftigen Blick aufgefangen hatte. Als hätte sie es sich ausgesucht, am Silvesterabend hier am Straßenrand herumzustehen, durchgefroren und mit einem abgebrochenen Stiefelabsatz in der Hand.

Beim nächsten Fahrzeug, das die Abfahrt nach Essen ansteuerte, hatte sie mehr Glück. Der Wagen hielt neben ihr an, und die Beifahrertür wurde aufgestoßen.

Der Fahrer hatte sich vorgebeugt und blickte sie erwartungsvoll an. »Wie viel?«, fragte er, während er sie auf eindeutige Weise musterte.

Bärbel schlug kommentarlos die Autotür zu und wandte sich wütend ab. Der abgewiesene Fahrer schien nicht weniger entrüstet zu sein als sie. Er fuhr mit durchdrehenden Reifen davon, und Bärbel wurde von einer weiteren Ladung Schneematsch getroffen. Sie fluchte.

Anschließend musste sie geschlagene zehn Minuten warten, bis wieder ein Wagen anhielt. Diesmal war es ein ziemlich verbeulter Kleinlaster, aber er wurde sofort langsamer, als Bärbel den Daumen raushielt. Mit quietschenden Bremsen kam er auf der Standspur zum Stehen. Auf der Ladefläche geriet einiges von dem Altmetall, das dort aufgestapelt war, in Bewegung. Scheppernd rutschten diverse alte und verbogene Eisenteile hin und her, und durch die Ladeklappe rieselte etwas Rost in den frisch gefallenen Schnee.

Anscheinend ein Klüngelskerl, wie man die Schrottsammler hier im Ruhrgebiet nannte. Bärbel erinnerte sich, wie begeistert sie früher als Kind losgestürmt war, sobald draußen das unverwechselbare Dudeln ertönte und der Pritschenwagen vorbeigetuckert kam. Es war immer ein faszinierendes Ereignis gewesen, wenn in der Nachbarschaft das Gerümpel abgeholt wurde, lauter Kram, der so alt und unbrauchbar war, dass sogar die ärmeren Leute nichts mehr damit anfangen konnten.

Der Fahrer des Pritschenwagens reckte sich über den Beifahrersitz und machte ihr die Tür auf. »Nach Essen rein?«

Bärbel nickte und betrachtete ihn verstohlen. Er war ein verhutzeltes Männlein von mindestens siebzig und sah nicht so aus, als hätte er ähnliche Absichten wie der Idiot von vorhin.

»Können Sie mich ein Stück mitnehmen?«

»Klar. Wenn et Sie nich stört, dat et ein bissken eng und dreckich hier drin is.«

»Keine Spur«, erklärte Bärbel. Sie war heilfroh, endlich aus der Kälte zu kommen. Ihre Beine fühlten sich mittlerweile wie Eiszapfen an. Die grobmaschige Netzstrumpfhose war definitiv nicht die passende Bekleidung für einen verschneiten Winterabend.

Entschlossen quetschte sie sich zusammen mit ihrem Koffer auf die Beifahrerseite. Eine Rückbank gab es nicht. Sie bugsierte das sperrige Ding zwischen sich und den Fahrer und machte sich so klein wie möglich. Trotzdem musste sie noch eine Weile herumruckeln, bis sie die Wagentür schließen konnte.

»Wie kommen Sie denn überhaupt mit sonnem großen Koffer anne B eins?«, fragte der Klüngelskerl, während er den Wagen wieder startete. Der erste Gang knarrte protestierend beim Einlegen.

»Ich war mit dem Auto unterwegs und hatte eine Panne.«

»Wo steht Ihr Wagen denn getz?«

»Ein Stück weiter dahinten, auf einem Parkplatz. Ich bin die letzten zwei Kilometer bis zur Abfahrt gelaufen.«

Der Fahrer reckte den Kopf, um einen genaueren Blick auf sie zu erhaschen. Bärbel hatte den Koffer halb auf den Schoß gezogen, und dabei war ihr Mantel hochgerutscht. Normalerweise reichte er ihr bis zu den Knöcheln. Darunter trug sie immer noch das in grellen Farben gemusterte Minikleid und die kniehohen weißen Lackstiefel sowie besagte Netzstrumpfhose. Sie hatte sich schon am Nachmittag für die Silvesterparty zurechtgemacht, zu der sie mit Gerhard hatte gehen wollen. Die Sachen hatte sie zur Arbeit mitgenommen und sie gleich nach Dienstschluss im Umkleideraum der Klinik angezogen. So hatte sie nicht extra noch einmal zu ihrer Wohnung fahren müssen.

Der Klüngelskerl starrte ungeniert auf ihre Beine. »Bisse überhaupt schon volljährig? Wissen deine Eltern, wo du dich spätabends rumtreibst?« Stirnrunzelnd fragte er weiter: »Bisse etwa von zu Hause abgehauen?«

Sein Tonfall schwankte zwischen Missbilligung und Besorgnis. Bärbel seufzte innerlich, weil sie wenig Lust hatte, ihre Situation zu erklären, aber zugleich war sie erleichtert, weil sein Interesse an ihr nur väterlicher Natur zu sein schien.

»Ich bin viel älter, als ich aussehe, schon sechsundzwanzig«, sagte sie wahrheitsgemäß. Scherzhaft fügte sie hinzu: »Soll ich Ihnen meinen Ausweis zeigen?«

Das schien der Klüngelskerl nicht für nötig zu halten. Er ging wieder zum Sie über.

»Wo wollen Sie denn eigentlich genau hin?«, erkundigte er sich.

»Nach Fischlaken.«

»In Fischlaken hab ich früher auch oft meine Runden gedreht!« Es klang eine Spur sentimental. »Is aber gut und gerne zwanzig Jahre her.«

»Ich erinnere mich«, sagte Bärbel. »Als Kinder sind wir da immer hinter Ihrem Wagen hergerannt.«

»Ach wat! Dat gibbet doch nich! Wat is die Welt doch klein!« Er dachte kurz nach. »Damals hatte ich noch en anderes Auto.«

Bärbel zuckte mit den Schultern. Sein einstiges Auto war ihr genauso gammelig und verbeult vorgekommen wie das heutige, sie hätte beim besten Willen keinen Unterschied feststellen können.

»Sie stammen aber nich hier ausse Gegend, oder?«, fragte der Klüngelskerl.

»Nein, ich bin in Berlin geboren und erst zum Kriegsende in Essen gelandet.«

»Kommen Sie da getz gerade her? Aus Berlin?«

»Nein, aus Hamburg.« Bärbel erspähte eine Telefonzelle. »Da drüben können Sie mich rauslassen. Ich rufe meine Schwester an, die kann mich dann hier abholen.«

»Quatsch, ich bring Sie dat Stücksken noch. Ich muss nach Kettwig, dat is ja bloß ein kurzer Schlenker nach Fischlaken.«

Bärbel wollte protestieren, doch er war schon weitergefahren.

»Und in Hamburg? Wat haben Sie da gemacht?«, wollte er wissen.

Mein Leben ruiniert, dachte Bärbel.

»Gearbeitet«, sagte sie.

Das schien erst recht seine Neugier zu wecken.

»Als wat denn?«

Bärbel war versucht, ihm irgendwas vorzulügen, damit er Ruhe gab, denn wenn sie die Wahrheit sagte, würde es unweigerlich zu weiteren Fragen kommen. Sobald die Leute erfuhren, welchen Beruf sie ausübte, erntete sie regelmäßig ungläubige Blicke.

»Ich bin Ärztin«, sagte sie. »Im ersten Berufsjahr«, ergänzte sie, in dem Bestreben, es weniger hochtrabend klingen zu lassen. Dennoch schien er es kaum fassen zu können.

»Ne richtige Ärztin? Eine Frau Doktor? So mit weißem Kittel?«, vergewisserte er sich. Ehrfurcht lag in seiner Stimme.

Bärbel nickte leicht verlegen. Es war ihr zuwider, in irgendeiner Weise Eindruck zu schinden, deshalb mochte sie diese Art von Gesprächen nicht.

»Haben Sie in Hamburg eine eigene Praxis?«

»Nein, ich arbeite im Krankenhaus. In der Chirurgie.«

Dass sie nie wieder einen Fuß in die Eppendorfer Klinik setzen würde, erwähnte sie lieber nicht.

»Hamburg – dat is weit weg«, sagte der Klüngelskerl. Sein Bedürfnis, das Gespräch in Gang zu halten, schien nicht nachzulassen. »Wat hat Sie denn dahingezogen?«

»Ich wollte mal aus dem Ruhrpott raus.«

Auch das war nicht wirklich die Wahrheit. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie nie von hier weggehen müssen.

Der Klüngelskerl wollte die Konversation nicht abreißen lassen. »Wie is dat denn da oben im Norden so?«

Bärbel gab die erstbeste Antwort, die ihr in den Sinn kam. »Kalt und windig.«

Der Klüngelskerl lachte und ließ dabei ein paar braune Zahnstümpfe sehen. »Dat kricht man hier im Ruhrpott auch geboten. Und den Dreck vonne Schlote noch obendrauf.«

Bärbel lachte pflichtschuldigst mit. »Ja, der Kohlenstaub bleibt uns hier in der Gegend wohl noch eine Weile erhalten, auch wenn immer mehr Zechen schließen.«

Danach verstummte sie, und zu ihrer Erleichterung hörte der Klüngelskerl auf, sie über ihr Leben auszufragen. Stattdessen fing er an, von sich selbst zu erzählen. Warum er am Silvesterabend noch unterwegs war, wo doch alle anderen Leute längst ins neue Jahr reinfeierten (er hatte sich den Metallschrott aus einer großen Haushaltsauflösung sichern können, das durfte er sich nicht entgehen lassen), und dass im letzten Jahr seine Frau gestorben war. Unterleibskrebs, die Ärzte hatten alles versucht, leider vergeblich. Seine jüngste Tochter, die genauso alt war wie Bärbel, stand kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes, vielleicht kam es sogar schon morgen auf die Welt, er konnte es kaum erwarten. Endlich ein Enkelkind, darauf freute der Klüngelskerl sich unendlich, und der einzige Wermutstropfen bestand darin, dass seine Frau das nicht mehr erleben durfte. Sie hatten noch zwei ältere Töchter gehabt, Zwillinge, aber die waren als kleine Mädchen gestorben. Beide innerhalb von acht Tagen, an Polio, wie er Bärbel berichtete, mit einer Stimme, aus der immer noch der alte Schmerz herausklang.

Spontan bekundete sie ihr Mitgefühl. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die frühen Fünfzigerjahre, als diese furchtbare Seuche noch ungebremst über das Land hinweggezogen war. Einmal, da war sie elf...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2021
Reihe/Serie Die Ruhrpott-Saga
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 60er Jahre • Arbeiterbewegung • Contergan • Drama • Emanzipation • Essen • Familie • Familiensaga • Humor • Jugendliebe • Liebe • Loyalität • Pütt • Ruhrgebiet • Saga • Springer • Studentenrevolution • Zechensterben • Zusammenhalt
ISBN-10 3-7517-0740-9 / 3751707409
ISBN-13 978-3-7517-0740-4 / 9783751707404
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