Im Park der prächtigen Schwestern (eBook)

Roman
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2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76663-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Park der prächtigen Schwestern -  Camila Sosa Villada
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Hass verjagt Camila von zu Hause. Sie geht in die Stadt, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie feiern kann, was sie ist: trans. Sie trifft ihresgleichen, wird Teil einer Wahlfamilie aus Prostituierten und Marginalisierten. Und gemeinsam feiern sie: die Liebe, den Rausch, im Widerstand gegen eine Gesellschaft, die sie verachtet. Lebensgeschichte, Roman, Märchen, Manifest - Im Park der prächtigen Schwestern erzählt von der Freude am Leben gegen alle Widerstände, von Zugehörigkeit, von Befreiung und der alles entscheidenden Macht der Fantasie.

Tief in der argentinischen Provinz ist es gefährlich, anders zu sein. Wer sich nicht einordnet, bekommt schnell Gewalt zu spüren, zuallererst vom eigenen Vater. Bei Camila war das nicht anders und es blieb nur die Flucht, nach Córdoba in die Anonymität der Stadt. Doch Camila will kein Opfer sein, sich nicht vorschreiben lassen, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Im Park Sarmiento begegnet sie eines Nachts einer Schar Gleichgesinnter, schillernde Paradiesvögel, mit denen Camila fortan alles teilt: den Schnaps, die Träume, die Freier, Drogen und Demütigungen. Sie werden zu Schwestern in einem Märchen, zu Verbündeten im scheinbar aussichtslosen Kampf um Selbstbestimmung und Lebensfreude als Transsexuelle in Lateinamerika.



<p>Camila Sosa Villada, geboren 1982 in der argentinischen Provinz Córdoba, arbeitete als Prostituierte, bevor ihrmit einem selbstproduzierten Theaterstück über ihr Leben als Transsexuelle der schauspielerische Durchbruch gelang. Seither spielt sie Rollen für Film, Fernsehen und Theater und gehört zu den prominentesten Gesichtern der Trans-Gemeinde in Lateinamerika.</p>

Tiefe Nacht, Frost liegt über dem Park. Die alten Bäume haben ihr letztes Laub verloren und erflehen vom Himmel etwas, das nicht zu entschlüsseln ist, für die Vegetation jedoch lebenswichtig scheint. Von den Bäumen beschirmt machen die Schwestern ihre Runde. Wie Teile eines einzigen Organismus sehen sie aus, Zellen desselben Tiers. Ihre Bewegungen die eines Rudels. Die Kunden cruisen in ihren Autos, werden langsamer, wenn sie die Gruppe entdecken, picken sich eine heraus und winken sie zu sich. Die Erwählte folgt dem Ruf. So geht das Nacht für Nacht.

Der Sarmiento-Park liegt im Herzen der Stadt. Eine große grüne Lunge mit Zoo und Vergnügungspark. Nachts wird der Park zur Wildnis. Die Schwestern warten unter den Bäumen oder vor den Autos, führen ihren Zauber an der Schwelle zur Dunkelheit spazieren, vor der Dante-Statue, dem alten Denkmal, das der Allee ihren Namen gibt. Jede Nacht steigen sie hinauf aus ihrem von niemand besungenen Inferno, um der Welt den Frühling zurückzubringen.

In der Gruppe ist auch eine Schwangere, nur sie wurde als Frau geboren. Alle anderen haben selbst dafür gesorgt, es zu werden. In diesem Teil des Parks, dem der Schwestern, ist sie die andere, diese schwangere Frau, die sich seit jeher denselben Scherz erlaubt: ihnen ohne Vorwarnung in den Schritt zu greifen. Gerade hat sie es wieder getan, und alle lachen überdreht.

Die Kälte hält den Zug der Schwestern nicht auf. Ein Flachmann mit Whisky geht von Hand zu Hand, Briefchen mit Kokain streifen jede Nase, einige davon gewaltig und naturbelassen, andere klein und operiert. Was die Natur dir nicht schenkt, kannst du dir von der Hölle leihen. Die Schwestern hier im Sarmiento-Park gleich beim Zentrum der Stadt haben sich den Zauber ihrer Körper dort geliehen.

Die Tía Encarna nimmt mit wilder Begeisterung an diesem Hexentanz teil. Das Koks hat sie aufgekratzt. Sie weiß, sie ist ewig, unverwundbar wie ein alter Götze aus Stein. Doch etwas, das aus der Nacht und der Kälte dringt, lässt sie aufhorchen und zieht sie fort von ihren Freundinnen. Aus dem Dickicht ruft etwas nach ihr. Hinter dem Gelächter und dem Whisky, der von einem bemalten Mund zum nächsten wandert, und dem Hupen derer, die auf der Suche nach einer Runde Glück mit den Schwestern herumfahren, hat die Tía Encarna ein Geräusch anderen Ursprungs erkannt, hervorgebracht von etwas oder von jemand, der nicht wie die Übrigen ist, die man hier zu sehen bekommt.

Die Schwestern ziehen weiter und achten nicht darauf, wie Encarna ausschert. Die Tía ist vergesslich geworden, sie erzählt immer wieder dieselben alten Geschichten. Was gerade eben und in ihrer Nähe vorgeht, dafür ist in ihrem Gedächtnis kein Platz. Es kommt im Leben ein Moment, da ist keine Erinnerung mehr sicher. Inzwischen schreibt sie alles in kleine Hefte, klebt Zettel an die Kühlschranktür, um das Vergessen auszutricksen. Manche denken, sie verliert den Verstand, andere glauben, sie hat aus Müdigkeit aufgehört, sich zu erinnern. Viele Schläge hat die Tía Encarna eingesteckt, Stiefeltritte von Polizisten und von Kunden gegen ihren Kopf und in die Nieren. Wegen der Tritte in die Nieren pisst sie Blut. Deshalb ist keine beunruhigt, als sie geht, das Rudel verlässt und dem Sirenengesang ihres Schicksals folgt.

Sie entfernt sich etwas unschlüssig, gepeinigt von den Pumps aus Acryl, die sich für sie mit ihren hundertachtundsiebzig Jahren anfühlen wie Nagelbretter. Sie stakst über die trockene Erde und das wuchernde, ungepflegte Gras und huscht über die Dante-Allee auf den Teil des Parks zu, wo es dornige Hecken gibt und Böschungen und eine Höhle, in der die Schwulen einander küssen und Trost spenden und die sie die Bärenhöhle nennen. Ein paar Meter weiter liegt das Hospital Rawson, wo die Infektionen behandelt werden: unser zweites Zuhause.

Gräben, Abgründe, Gestrüpp, das einem wehtut, masturbierende Säufer. Während sich die Tía Encarna zwischen den Büschen verliert, vollzieht sich die Magie: Die Huren, die erhitzten Pärchen, die zufällig Aufgegabelten, alle, die in diesem behelfsmäßigen Wald zueinandergefunden haben, in ihren hastig abgestellten Autos oder ausgestreckt im Gras oder an einen Baum gelehnt, sie alle geben und empfangen Lust. Um diese Zeit ist der Park eine Brutstätte der Gelüste, ein Biotop für Sex ohne Scham. Es macht keinen Unterschied, woher das Streicheln stammt oder das Lecken. Um diese Zeit, an diesem Ort wird gevögelt.

Doch die Tía Encarna ist einem Geräusch oder einem Geruch auf der Spur. So genau kann man das nicht erkennen, wenn sie hinter etwas her ist. Nach und nach offenbart sich, was sie auf den Plan gerufen hat: das Schreien eines Säuglings. Ihre Schuhe in der Hand, tastet die Tía Encarna sich ohne Halt vorwärts, wühlt sich in das mitleidlose Gelände, um ihn mit eigenen Augen zu sehen.

Großer Hunger und großer Durst. Das ist dem Säuglingsgeschrei anzuhören und der Grund für Encarnas Beklemmung, als sie jetzt verzweifelt ins Unterholz vordringt, weil sie weiß, dass dort irgendwo ein Kind ist, das leidet. Und im Park ist Winter und der Frost so streng, dass die Tränen gefrieren.

Encarna nähert sich den Gräben, in denen die Huren sich verbergen, wenn die Lichter der Polizeistreife auftauchen, und schließlich findet sie es. Dornige Zweige bedecken das Kind. Es weint verzweifelt, der Park scheint mit ihm zu weinen. Die Tía Encarna wird hektisch, das ganze Grauen der Welt legt sich ihr in diesem Moment auf die Kehle.

Das Kind ist in die Jacke eines Erwachsenen gewickelt, eine grüne Steppjacke. Ein Papagei mit kahlem Kopf. Beim Versuch, es aus seinem Grab unter den Zweigen zu heben, bohren sich Dornen in ihre Hände, aus den Schrammen quillt Blut und färbt die Ärmel ihres Kleids. Wie eine Geburtshelferin, die ihre Hände in die Stute schiebt, um das Fohlen herauszuziehen. Sie spürt keinen Schmerz, hält sich nicht auf mit den Schnitten, die diese Dornen ihr verpassen. Sie drückt weiter Zweige zur Seite und birgt endlich das Kind, das in die Nacht brüllt. Es ist völlig zugeschissen, der Gestank unerträglich.

Würgend und blutend presst die Tía Encarna es gegen ihre Brust und ruft aus vollem Hals nach ihren Freundinnen. Ihr Rufen muss auf die andere Seite der Allee gelangen. Unwahrscheinlich, dass sie gehört wird.

Aber die Hündinnen des Rudels im Sarmiento-Park der Stadt Córdoba hören weit mehr als jeder gewöhnliche Mensch. Sie hören den Ruf der Tía Encarna, weil sie die Angst in der Luft wittern. Sie spitzen die Ohren, ein Schaudern überläuft sie, das Fell gesträubt, die Nüstern geweitet, die Lefzen gespannt.

»Schwestern des Parks! Hierher! Hierher, ich hab was gefunden!«, ruft sie.

Ein etwa drei Monate altes Kind, verlassen im Park. Mit Zweigen bedeckt, zurechtgelegt für den Tod, der mit ihm tun kann, was ihm beliebt. Oder auch für die Hunde und Wildkatzen, die hier leben: Kinder sind überall auf der Welt ein Festessen.

Die Schwestern nähern sich neugierig, steuern wie ein Trupp hungriger Zombies auf die Frau mit dem Kind im Arm zu. Eine schlägt die Hände vor den Mund, Hände, so groß, dass sie die Sonne verdunkeln könnten. Eine ruft, das Kind sei niedlich, ein Goldschatz. Eine macht auf dem Absatz kehrt und sagt:

»Damit habe ich nichts zu tun, ich habe nichts gesehen.«

»So sind sie«, erwidert eine andere, was so viel heißen soll wie: So sind diese schnauzbärtigen Wichser, sobald irgendwo der Schuh drückt.

»Wir müssen die Polizei rufen«, sagt eine.

»Nein!«, schreit die Tía Encarna. »Auf keinen Fall die Polizei! Ein Kind kann man niemals der Polizei überlassen. Das wäre die schlimmste Strafe!«

»Aber wir können es nicht behalten«, appelliert eine Stimme an die Vernunft.

»Das Kind bleibt bei mir. Wir bringen es nach Hause.«

»Aber wie willst du es tragen, so voller Scheiße und Blut?«

»In der Handtasche. Dort passt es hinein.«

Die Schwestern gehen in einem erstaunlichen Tempo aus dem Park auf die Gegend um den Busbahnhof zu. Ein katzenhafter Trupp jetzt, durch die Umstände in Eile versetzt, ...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2021
Sprache deutsch
Original-Titel Las Malas
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Argentinien • Ausgrenzung • Aussenseiter • Außenseiter • Diskriminierung • dragqueen • Frauen • Geschlecht • Lebensfreude • LGBTQ • Pedro Almodóvar • Prostitution • Queer • ST 5118 • ST5118 • suhrkamp taschenbuch 5118 • Transvestit • Travestie • Zugehörigkeit
ISBN-10 3-518-76663-5 / 3518766635
ISBN-13 978-3-518-76663-7 / 9783518766637
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