»Lieber, lieber Vogel« (eBook)

Briefe an Hermann Hesse

(Autor)

Gisela Kleine (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
619 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75312-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Lieber, lieber Vogel« - Ninon Hesse
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Am 23. Januar 1965 notierte Ninon Hesse,»... wie durch eine laufende Brieffolge nicht so sehr ein Bild des Schreibers entsteht, als ein Bild des Empfängers«. Das gilt auch für ihre eigenen, bisher unveröffentlichten Briefe an Hermann Hesse. Die wie ein Tagebuch zu lesende Brieffolge beginnt 1910 mit einem Schreiben der 14 jährigen Gymnasiastin aus Czernowitz an den Verfasser des »Peter Camenzind« - 20 Jahre später wurde sie seine Frau.

Die Briefe schildern den abenteuerlichen Weg, den die in Wien Medizin, Kunst und Archäologie studierende und seit 1918 mit dem bekannten Karikaturist B.F. Dolbin verheiratete junge Frau einschlug. 1927 brach sie alle Brücken hinter sich ab, verkaufte ihr Elternhaus, löste ihren Wiener Hausstand auf und beschloß, den Dichter des Steppenwolf aus einer lebensbedrohenden Krise zu retten.

Die Auswahl der Herausgeberin stellt nicht nur eine spannungsreiche Liebesbeziehung dar, sondern vermittelt auch die Lebensgeschichte dieser hochgebildeten Frau, der es glückte, Eigenständigkeit und Hingabe zu verbinden und Hesse die Ausgewogenheit seines Spätwerks zu ermöglichen.



Gisela Kleine promovierte nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Publizistik bei Benno von Wiese mit der Dissertation 'Das Problem der Wirklichkeit bei Hermann Hesse' an der Universität Münster; Korreferent war Joachim Ritter, dessen Collegium philosophicum sie angehörte. Da ihre Doktorarbeit Hesse gefiel, wurde sie von ihm nach Montagnola eingeladen, lernte dort auch Ninon Hesse, die dritte Frau des Dichters, kennen und führte danach mit beiden einen Briefwechsel. <br />Ihre Erfahrungen als Chefredakteurin der Monatsschrift ' Der leitende Angestellte' bildete die Grundlage für Publikationen in allen Medien und für literatur- und medienwissenschaftliche Lehraufträge, u.a. an den Universitäten Dortmund, Bochum und der Fernuniversität Hagen. Familienpflichten bedingten eine berufliche Zäsur, die sie für ein Studium der Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität Bochum nutzte. Ihre Ehebiographie über Ninon und Hermann Hesse, die Archäologin und den Dichter, eröffnete, wie viele Kritiker hervorhoben, ein neues literarisches Genre, es war die erste der heute so beliebten Paar- oder Doppelbiographien. Für ihre 'Frauenforschung' - Grundlage der von ihr verfassten Biographien - erhielt sie einen Literaturpreis der Stadt München, wo sie als freie Autorin lebt. Gisela Kleine promovierte nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Publizistik bei Benno von Wiese mit der Dissertation 'Das Problem der Wirklichkeit bei Hermann Hesse' an der Universität Münster; Korreferent war Joachim Ritter, dessen Collegium philosophicum sie angehörte. Da ihre Doktorarbeit Hesse gefiel, wurde sie von ihm nach Montagnola eingeladen, lernte dort auch Ninon Hesse, die dritte Frau des Dichters, kennen und führte danach mit beiden einen Briefwechsel. <br />Ihre Erfahrungen als Chefredakteurin der Monatsschrift ' Der leitende Angestellte' bildete die Grundlage für Publikationen in allen Medien und für literatur- und medienwissenschaftliche Lehraufträge, u.a. an den Universitäten Dortmund, Bochum und der Fernuniversität Hagen. Familienpflichten bedingten eine berufliche Zäsur, die sie für ein Studium der Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität Bochum nutzte. Ihre Ehebiographie über Ninon und Hermann Hesse, die Archäologin und den Dichter, eröffnete, wie viele Kritiker hervorhoben, ein neues literarisches Genre, es war die erste der heute so beliebten Paar- oder Doppelbiographien. Für ihre 'Frauenforschung' - Grundlage der von ihr verfassten Biographien - erhielt sie einen Literaturpreis der Stadt München, wo sie als freie Autorin lebt.

1913


1. Februar 1913

Im August schrieb ich Ihnen das letzte Mal, und Sie antworteten mir mit ein paar lieben Zeilen, für die ich Ihnen erst heute danke. Denn ich wollte doch die Erlaubnis, Ihnen manchmal schreiben zu dürfen, nicht missbrauchen.

Aber heute – nach beinah sechs Monaten – da ist es doch wohl kein Missbrauch mehr – und ich sehne mich so sehr danach, in Gedanken mit Ihnen zu sprechen.–

Und wenn ich mir hundertmal sage: es ist töricht und lächerlich, was ich tue – ich tu’s doch! Ich schreibe doch!

Gewiss nicht deshalb, weil ich »unverstanden« oder so was Ähnliches bin. Im Gegenteil. Wenn ich so mein Leben betrachte, sehe ich, dass ich eigentlich sehr glücklich bin!

Eltern – nun Eltern[12] sind ja immer unvergleichlich! Papa – ernst, ruhig, furchtbar klug und der beste Mensch, den es gibt. Mama zierlich, lustig, geistvoll – ach, wenn ich so sprühend gescheit wäre! Dann zwei jüngere Schwestern[13], 10- u. 14jährig, die »erziehe« ich manchmal ein bischen zu ihrem grössten Leidwesensonst überlasse ich das lieber Mademoiselle – ich habe zu wenig Zeit dazu! Und Freundinnen habe ich auch viele, eine, die viel älter als ich und verheiratet ist und die ich am liebsten habe, und viele andere. [...]

Die drei Schwestern Toka, Ninon und Lilly Auslaender (von links nach rechts)

Ich muss Ihre lieben schönen Worte, die Sie mir schrieben, noch einmal hervornehmen und nochmals lesen. Es kommt mir sonst zu wunderlich, zu unwahrscheinlich vor, dass ich Ihnen wirklich schreiben, von mir erzählen darf.

Wir führen kein grosses Haus, haben wenig Verkehr, unser Leben verläuft still und gleichförmig[14]. Theater, manchmal ein Konzert, selten ein Vortrag oder eine Vorlesung unterbrechen die Eintönigkeit.

Jours, Tanzabende, Wohltätigkeitsfeste – das ist mir ein Greuel, und ich sage fast immer ab! Ich kann mir nicht helfen, aber die jungen Leute sind so langweilig und abgeschmackt mit ihren Hofmachereien und Gesprächen! Ich ziehe mich davon zurück, so weit ich nur kann.

Das Leben, wie ich es führe, ist mir gerade recht: Sehr viel Arbeit (ich bin in der 8. Gymn.-Kl., treibe daneben noch Französisch, Englisch, sehr viel Kunstgeschichte und lese sehr viel), zum Ausruhen im Sommer Tennis, sonst ein langer Spaziergang. Abends meist zu Hause.

Indes – bei aller Zufriedenheit mit meinem jetzigen Leben überkommt mich doch zuweilen eine plötzliche furchtbare Angst, dass ich über all dem, was ich tue und »leben« nenne, vielleicht das wirkliche Leben versäume. Und wenn ich wieder einmal irgendwo abgesagt habe und Mama mich warnt, dass ich meine schönsten Jugendjahre bei den Büchern versitze und es einmal bereuen würde, die Jugend nicht genossen zu haben, dann werde ich manchmal doch stutzig und frage mich, ob Mama nicht recht hat! Und dann – dann unternehme ich bisweilen einen kleinen Ausflug ins Reich der Geselligkeit, ins Reich des Flirts, nur um mich zu vergewissern, dass ich nicht ganz u. gar Einsiedlerin geworden bin, und um zu prüfen, ob wirklich gesellschaftliche Erfolge das Leben reicher und glücklicher gestalten. Aber nach solch einem Ausflug kehre ich mit verdoppelter Lust wieder zu meinen Büchern zurück.

Und trotzdem ich nun ein Leben führe, wie ich es mir kaum anders wünsche, kenne ich doch keine Befriedigung. Nie, niemals noch habe ich mich am Abend hingelegt, ohne mit mir, mit meinen Leistungen unzufrieden zu sein.

Am nächsten Tag wollte ich’s dann besser machen, stand noch früher auf, ging noch später zu Bett, arbeitete noch intensiver – immer umsonst! Ich denke doch immer, dass ich noch mehr hätte leisten können! Und wenn ich so weit bin, dass ich erkenne, »dass ich trotz allen Lernens doch eigentlich nichts weiss«, dann lese ich Plato[15]. Ich habe das Gefühl, als ob ich da Antwort auf alle Fragen finde.

Obwohl ich ganz genau weiss, dass man Antwort auf diese Fragen nur in sich selbst findet – und dennoch – was mir Plato ist, kann ich gar nicht sagen! Ein wenig nur stört mir den vollkommenen Genuss seiner Werke die Sprache, die ich nicht vollkommen genug (gelinde ausgedrückt!) beherrsche, um so schnell wie ich möchte, lesen zu können. Doch träume ich davon, dass ich einmal sehr gut Griechisch können und Plato voll und ganz verstehen und geniessen werde. Wenn ich ein Werk von Plato lese, fühle ich mich so gefestigt, sehe alles so klar und rein und schön – während ich sonst ganz das Gegenteil von dem bin, was mein Ideal ist: Denn ich möchte so gerne unbeirrt und fest nach einem grossen Ziele schreiten, möchte still und mit mir selber fertig sein – und bin doch heftig in der Freude und im Zorne, sprunghaft in den Gedanken und schwanke oft, ob auch der Weg, den ich gehe, der richtige sei.

Dies mag auch zugleich die Erklärung dafür sein, dass ich gerade Ihnen schreibe. Denn in Ihren Büchern – besonders in den letzten – da klingt und singt es wie lauter seliger Friede und ich finde neuen Mut und Glauben wenn ich sie lese. ––

Und jetzt sollte ich eigentlich wie das letzte Mal schreiben, dass ich auf Antwort keinen Anspruch machen darf und will. Doch tu ich’s nicht, weil dies – letzteres wenigstens – nicht die Wahrheit wäre, denn wenige Worte nur von Ihnen würden mich unsagbar froh machen – wär’ es auch nur die Bestätigung, dass Sie meinen Brief erhalten – und gelesen haben!

Ninon Auslaender
Czernowitz (Bukowina), Dr. Rottgasse 13

St. Moritz, 8. August 1913

Wieder ist eine lange Zeit vergangen, seit ich Ihnen zum letzten Male schrieb. Bevor ich aber von mir zu erzählen beginne, will ich Ihnen für Ihre lieben Zeilen herzlichst danken. Ich hatte keine Antwort mehr erhofft, da doch ein so langer Zeitraum zwischen meinem Brief und Ihrer Antwort lag.

In dieser Zeit habe ich wieder einiges Neue von Ihnen gelesen: Das wundervolle Indienbuch[16] natürlich, auf das ich so lange gewartet hatte und das noch viel, viel schöner ist, als ich es mir dachte. Nur der »Robert Aghion«[17], der hätte eigentlich in die »Umwege« gehört, nicht?

Dann las ich einige Novellen von Ihnen: Das einzig schöne »Fragment aus der Jugendzeit«[18] und den »Zyklon«[19]. (Sind nicht beide Novellen noch in der Camenzind-Periode entstanden? Sie klingen ganz anders als die »Umwege« z. B.!)

Jetzt lese ich »Rosshalde«[20], das heisst, den 1. Teil habe ich gelesen und warte nun voll Ungeduld auf den Schluss.

Ich kann mir nicht helfen – die »Umwege« erscheinen mir ein »Umweg« auch für Sie gewesen zu sein. Reif und abgeklärt darin ist eben doch nur die Sprache, die ist gross und stark.

»Rosshalde« scheint mir wieder ein Schritt nach vorwärts zu sein. Die wundervolle Innigkeit, die in Ihren früheren Romanen und Novellen lag, finde ich hier wieder, und doch ist die Sprache gross und stark, nicht mehr rein lyrisch wie früher.–

Es ist anmassend von mir, Ihnen das alles zu sagen. Sie sehen das selber viel klarer und auch richtiger als ich.

Aber ermutigt durch Ihre lieben Worte, tu ich nicht nur dies, sondern ich will Ihnen sogar wiederum von mir erzählen.

In den letzten Monaten habe ich wenig für mich gearbeitet. Plato las ich gar nicht, hingegen viel Horaz[21], mit dem ich mich aber gar nicht befreunden konnte. Auch sonst las ich wenig: Muther[22], Geschichte der Malerei von den Anfängen bis zur Gegenwart, doch bin ich vorläufig erst bis zum 19. Jahrhundert gekommen. Dann Bielschowskis Goethe-Biographie[23], auch erst den 1. Teil. Dann »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« [24] und sonst meist Zeitschriften, besonders die »Rundschau« und »Velhagen und Klasings Monatshefte«[25]. In der »Rundschau« war es nebst anderem besonders der Roman, der mich stark fesselte: »Das Exemplar« von Annette Kolb[26]. Ich möchte – ach so sehr wünsch’ ich mir das – Ihr Urteil, Ihre Meinung über »Mariclée« wissen!

Mit den Büchern, die ich lieb habe, geht es mir eigen. Ich habe das Gefühl, als hätte nie zuvor noch jemand sie gelesen, als wäre ich die erste und einzige, die sie liest. So geht es mir mit unendlich vielen Büchern. Mit »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« z. B., mit Jacobsens Novellen, mit »Niels Lyhne« und »Maria Grubbe«[27], und mit »Goethes Gesprächen mit Eckermann«[28] und mit Gottfried Keller[29] und – und – ach mit so unendlich vielen! Ich kann es mir gar nicht vorstellen, dass Herr X. und Frau Y. das lesen können und trotzdem Herr X. und Frau Y. bleiben! Dass man überhaupt nur eines unedlen oder unschönen Gedankens fähig sein kann, wenn man das gelesen hat.

Als ob ich selbst durch diese Bücher geläutert und veredelt...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2020
Einführung Gisela Kleine
Zusatzinfo mit zahlreichen Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Autobiografie • Beziehung • Briefe • Briefwechsel • Deutschland • Ehefrau • Gefühle • Hermann Hesse • Liebe • Liebesbeziehung • Literaturnobelpreis • Ninon Hesse • Partnerschaft • Sammlung • Schriftsteller • ST 3373 • ST3373 • suhrkamp taschenbuch 3373
ISBN-10 3-518-75312-6 / 3518753126
ISBN-13 978-3-518-75312-5 / 9783518753125
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