Tagebuch vom Ende der Welt (eBook)

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2023 | 1. Auflage
167 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77678-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tagebuch vom Ende der Welt -  Natalja Kljutscharjowa
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Der Morgen des 24. Februar 2022 beginnt für Natascha wie jeder andere Tag. Und dann steht am Schultor die Deutschlehrerin ihrer Kinder und weint. Seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine führt Natascha ein Tagebuch und notiert, was sich in ihr und um sie herum abspielt. Wie sich in ihr lähmende Angst, Scham und Entsetzen breitmachen, während ringsum das Leben weitergeht, als sei nichts geschehen. Wie Einzelne sich trotz drohender drakonischer Strafen zum Protest auf die Straße wagen. Wie das Leiden der Ukraine wahrgenommen wird (oder auch nicht). Und wie die Sprache, das Gespräch unter Druck gerät - wie kann man noch reden und miteinander sprechen in einem Land, das den Gebrauch von immer mehr Wörtern verbietet?

Mit feinem Ohr kartographiert Kljutscharjowa die Sphäre des Inoffiziellen in Russland - das Tagebuch vom Ende der Welt ist ein mutiges Zeugnis, das uns Einblick in eine mittlerweile geschlossene Gesellschaft gewährt.



Natalja Kljutscharjowa, geboren 1981, lebt in Jaroslawl, Russland. Zuletzt auf Deutsch erschienen <em>Endstation Russland</em> (Suhrkamp nova 2010) und <em>Dummendorf</em> (es 2610).

9Februar 2022


Am Tag, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, trank mein Vater einen Schluck Hirschhorngeist und tanzte auf der Straße zu Ziehharmonikaklängen. An den ersten Kriegstag hatte er keine Erinnerung. Er war ein Kind, und ihm kam es vor, als wäre immer Krieg gewesen.

Ich hätte nie gedacht, dass es auch in meinem Leben einmal einen ersten Kriegstag geben würde. Aber ich erinnere mich daran. Am Tag davor las ich hundert Kindergeschichten – ich gehörte zur Jury eines Literaturwettbewerbs. Mit brummendem Schädel sank ich ins Bett, erleichtert, dass ich diesen schweren Tag hinter mir hatte.

In der Nacht träumte ich von einer vollkommen menschenleeren Stadt, wo anstelle von Häusern alte Waggons standen, provisorische Unterkünfte, die Bauwagen ähnelten. Vor der Tür einer solchen Behausung saß ein angekleidetes Skelett. Als ich vorbeikam, fiel ein Bein ab. Ich versuchte, es wieder zu befestigen. Aber es fiel immer wieder ab.

Am Morgen des 24. Februar brachte ich meine Kinder zur Schule und traf am Tor ihre Deutschlehrerin Lisa, eine junge Frau mit dem Gesicht und dem 10Charakter eines Engels. Ich schaute sie an und erschrak. Sie sah aus wie jemand, der gerade einen Angehörigen verloren hat. Oder wie jemand, der schwer krank ist.

»Alles in Ordnung bei Ihnen, Lisa?«

»Das war es, bis ich heute früh die Nachrichten gelesen habe.« Damals hatte ich noch nicht die Angewohnheit, am Morgen gleich Nachrichten zu lesen. Erst danach würden wir alle, kaum dass wir aufgewacht waren, nach dem Telefon greifen.

»Was ist denn da in den Nachrichten?«

Sie winkte ab – lesen Sie selbst. Und begann zu weinen. Dieselbe Lisa, die immer so beherrscht war, ein Muster an Ruhe und Ausgeglichenheit.

Ich ging ins Internet. Meine Augen huschten über die Worte.

»… erklärte den Beginn einer militärischen Spezialoperation … Konvoi hat die Grenze überschritten … Militärtechnik …«

Ich begriff nicht gleich, worum es ging. Wieder irgendeine Übung? Proben für eine Parade? Mein Gehirn weigerte sich zu akzeptieren, dass es ernst war.

Wir haben die Ukraine überfallen? Ach was! Das kann einfach nicht sein.

Doch neben mir steht noch immer die Lehrerin meiner Kinder und weint. Sie weint wirklich. Also ist alles andere auch wirklich?

Eben noch hatte ich Pläne, Gedanken und diverse Vorhaben. Und plötzlich ist alles weg.

11Ich stehe vor dem Schultor. Im Halbdunkel des Februarmorgens leuchtet das Display des Telefons. Ich schaue daran vorbei nach unten, auf das schmutzige Eis unter meinen Füßen. Im Winter sind unsere Straßen immer vereist. Doch nun wird das Eis plötzlich zu einem düsteren Symbol. Einige Sekunden lang kann ich mich nicht entschließen, aufzusehen. Mir scheint, während ich auf mein Telefon blickte, hat sich die Welt wahrscheinlich so verändert, dass ich sie nicht wiedererkennen werde. Lisa berührt meinen Arm. Ich blicke auf. Ringsum ist alles wie immer. Eintönige graue Hochhäuser. Krähen auf kahlen schwarzen Bäumen.

Ich habe einen Traum. Dass ich eines Tages aufwache, und nichts davon ist mehr da. Nicht, dass es zu Ende ist, nein, dass es überhaupt nie stattgefunden hat. Ich möchte am 23. Februar aufwachen. Und hundert Kindergeschichten durchsehen. Oder meinetwegen tausend. Und dann bricht ein anderer Tag an. Der soundsovielte Februar. Und der Zug der Wirklichkeit fährt auf einem anderen Gleis weiter.

Lisas Mann stammt aus einem afrikanischen Land. Er ist ihretwegen hergezogen. Erst vor kurzem, nach 12langen bürokratischen Schikanen, hat er die russische Staatsbürgerschaft bekommen. Er kann also zum Militär einberufen werden. Seit dem Morgen des 24. Februar rufen seine zahlreichen Verwandten ständig bei ihm und Lisa an: »Kauft Tickets für den nächsten Flug, rettet euch und bringt die Kinder raus.«

Am Abend des 24. Februar schickte der Organisator des Kinderliteratur-Wettbewerbs allen Jurymitgliedern die Namen der Gewinner. Das war seltsam. Wie eine Nowgoroder Urkunde auf Birkenrinde. Eine Nachricht aus der fernen Vergangenheit. Obwohl wir alle aus Gewohnheit mit den Dingen weitermachten, die wir angefangen hatten, und uns ständig dafür entschuldigten und rechtfertigten. Obwohl später klar wurde, dass dies die einzige Möglichkeit war, nicht verrückt zu werden. Weiterzumachen mit dem, was wir vorher getan hatten.

Der Rest der E-Mail war keine Urkunde auf Birkenrinde. Der Organisator schrieb: »Ich gehe auf die Straße.« Und schrieb uns das Administratorpasswort, damit wir die Ergebnisse selbst ins Netz stellen konnten, falls er nicht zurückkehrte von der Kundgebung.

In der Nacht schickte er noch eine Nachricht. Sie war kurz: »Ich bin zurück.«

13

Am 24. Februar schrieb eine Journalistin auf Facebook: »Jetzt weiß ich, wie sich die deutschen Antifaschisten am 1. September 1939 fühlten.«

Ich dachte daran, wie ich bei meiner ersten Reise nach Deutschland beim Klang der deutschen Sprache zusammenzuckte. Obwohl jener Krieg mich gar nicht berührt hatte, bei meiner Geburt lag sein Ende 35 Jahre zurück. Das Feindbild aber trug ich noch immer in mir.

Krieg wirkt lange nach.

Ich wollte nicht beim Klang der deutschen Sprache zusammenzucken. Also las ich Heinrich Böll. Der von Menschen erzählt, die dagegen waren. Die nicht »vom Sakrament des Büffels« kosteten.

Dank Böll zuckte ich beim Klang der deutschen Sprache nicht mehr zusammen.

Nun werden viele Menschen beim Klang der russischen Sprache zusammenzucken. Auch ich selbst zucke zusammen, wenn ich höre: »Wir lassen unsere Leute nicht im Stich!«, oder beim ausdruckslosen Gemurmel des Alten im Kreml, das klingt wie das monotone Gebrabbel eines Verrückten.

Aber ich höre auch andere Stimmen. Die gibt es. Sie sagen auf Russisch: »Nein zum Krieg.«

14Heute Morgen habe ich zum ersten Mal ein Anti-Kriegs-Flugblatt gesehen. Ich hätte am liebsten den Laternenpfahl geküsst. Es gibt also noch lebendige Menschen in dieser Stadt.

Jetzt sagen viele: Es ist eine Schande, Russe zu sein. Im Internet bin ich auf amüsante Spottzeilen zu diesem Thema gestoßen:

Ich schäme mich nicht, dass ich Russe bin.

Genauso wenig wie dafür, dass ich klein bin.

Ich wäre ja lieber groß,

Aber ich hatte eben Pech.

Ich hätte als Schnecke zur Welt kommen können

Oder als Angorakatze,

Doch ich stamme eben aus Taganrog

Und bin nun das absolute Böse.

Kurz vor dem Krieg habe ich ein dokumentarisches Buch geschrieben nach Erinnerungen alter Arbeiter einer Fabrik. Viele von ihnen haben den Krieg als Kinder erlebt und davon erzählt.

Am 24. Februar las ich diese Kriegserinnerungen noch einmal, obwohl ich sie nach der Arbeit an meinem Buch fast auswendig kannte. Plötzlich waren es ganz andere Texte, sie erzählten von etwas anderem.

15In denselben Worten.

An einem einzigen Tag hatte sich alles umgekehrt.

Im Buch gibt es eine Episode, in der ein Mädchen in einem Straßengraben Schutz sucht vor einem Bomber. Hatte ich früher immer mit diesem Mädchen im Straßengraben gelegen, so fühlte ich mich jetzt, als hätte man mich gewaltsam in dieses Bombenflugzeug gesetzt.

Als ich diesen Auszug aus meinem Buch auf Facebook stellte, schrieb eine dieser alten Frauen:

»Benutzen Sie unsere Erinnerungen nicht, um damit Ihre falsche politische Haltung zu kaschieren!«

Meine falsche politische Haltung: Ich will keinen Krieg.

Vor Schreck habe ich sogar vergessen, welche alte Frau das war. Diejenige, die von ihrer Großmutter bei Bombenangriffen unterm Rock versteckt wurde? Oder diejenige, die vor Hunger bei den Nachbarn um Kartoffelschalen bettelte? Oder diejenige, deren Haare am Kissen festfroren?

Ich dachte immer, jemand, der aus eigener Erfahrung weiß, was Krieg...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2023
Übersetzer Ganna-Maria Braungardt
Sprache deutsch
Original-Titel Angabe fehlt
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Angriffskrieg • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • edition suhrkamp 2781 • ES 2781 • ES2781 • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Opposition in Russland • Propaganda • russische Zivilgesellschaft • Russland • Ukraine-Krieg • Wladimir Putin
ISBN-10 3-518-77678-9 / 3518776789
ISBN-13 978-3-518-77678-0 / 9783518776780
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