Das zweite Geheimnis (eBook)
432 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-27067-4 (ISBN)
Zwölf Jahre nach dem Mauerbau führt Ria Nachtmann ein weitgehend angepasstes Leben in Ostberlin. Niemand würde vermuten, dass sie einst als Spionin für den Bundesnachrichtendienst aktiv war. Nur eines hat die Jahre überdauert: ihre Liebe zu Jens, einem westdeutschen Journalisten. Doch Verbindungen mit dem Klassenfeind sind streng verboten. Als Ria ein geheimes Treffen arrangiert, wird sie bereits beobachtet. Ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel beginnt ...
Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt.
1
Die Grenze nahe Großtöpfer, Kreis Heiligenstadt. Henning Nowak lag im nassen Gras und fror. Er hörte dem Gesang der Vögel zu, entdeckte seltene Vogelstimmen, einen Girlitz, einen Sprosser, einen Trauerschnäpper. Aus dem benachbarten Wald trotteten Wildschweine.
Nur wenige Schritte entfernt begann der Westen. Zwei Stacheldrahtzäune davor, ein paar Meter verbotenes Land. Neben ihm lag der Postenführer im Gras. Henning wusste über ihn, dass er die Zusage für einen Studienplatz erhalten hatte – Schiffsmaschinenbau in Rostock –, frisch verheiratet war und seine 18 Monate Dienstzeit fast vollständig abgeleistet hatte. Vom Maßband für die letzten 150 Tage, von dem er jeden Tag einen Zentimeter abschnitt, war nur noch ein kleiner Rest geblieben. Er würde bald nach Hause gehen und studieren und mit seiner jungen Frau leben. Er wollte keinen Ärger.
Der Postenführer stand auf und streckte sich. Er verlangte, dass Henning vor ihm lief. Sie gingen los. Als Henning sich umsah, winkte ihm der Postenführer mit der Maschinenpistole, er solle weitergehen.
Argwohn zwischen gemeinsam vergatterten Grenzsoldaten war normal, es gehörte zur üblichen Methode, die Soldaten jeden Tag in anderer Kombination loszuschicken. Bekam der Spieß mit, dass zwischen zweien von ihnen mehr als eine lockere Bekanntschaft zu entstehen drohte, wurden sie nie wieder gemeinsam eingeteilt.
Er kannte die Regeln. Er selbst war ja Spieß gewesen.
Sie liefen in Richtung der Straße nach Bebendorf, um einen neuen Beobachtungspunkt zu beziehen. Die kalte Morgenluft kroch durch die Uniform. Sechs Uhr erst, verdammt. Er hätte nicht auf die Uhr sehen sollen. Es war immer ein Fehler, auf die Uhr zu sehen. Hatte man einmal damit angefangen, guckte man dauernd, und dann verging die Zeit gar nicht mehr. Am besten war es, einfach darauf zu warten, dass der Himmel heller wurde und die Zeit zum Einrücken kam. Das waren die besten Nächte, wenn man es schaffte, vorher nicht auf die Uhr zu sehen.
Sie mussten unter der stillgelegten Bahnstrecke von Geismar nach Friede hindurch, der Postenführer ließ ihn vorgehen in den kleinen Tunnel, ließ eine Gewehrlänge Abstand zwischen ihnen, ihre Schritte knirschten, die Tunnelwände warfen den Hall zurück, dann kamen sie auf der anderen Seite wieder hinaus. Es ging einen schmalen unbefestigten Weg hoch, zur linken Seite dichter Wald, zur rechten der sechs Meter breite Kontrollstreifen und die Zäune aus Stacheldraht, dahinter das Gebiet der BRD. Zwischen den Zäunen waren Minen vergraben, aber nicht überall. Allmählich kam er dahinter, wo vermintes Gelände war und wo nicht.
Henning wusste, was über ihn geredet wurde. Er sollte was mit der Frau seines Kompanieführers gehabt haben. Oder er hatte gesoffen. Um vom Rang eines Hauptfeldwebels zum einfachen Soldaten degradiert zu werden, musste man sich einiges geleistet haben. Manche sagten, dass er das Ansehen der Grenztruppen geschädigt haben musste, Befehle nicht ausgeführt oder die Dienstpflichten vernachlässigt hatte. Dann wieder hieß es, er habe sicher gegen die Parteidisziplin verstoßen, grobe ideologische Verfehlungen, und sei anschließend aus der Partei geworfen worden. Wo er stationiert gewesen war, wussten sie nur gerüchtehalber. Und was er getan hatte, ging nur ihn selbst etwas an.
Er begutachtete wortlos den Kontrollstreifen, sechs Meter glatt geharkte Erde, eine kilometerlange Wunde im Boden. Ein Grenzverletzer musste hier seinen Fußabdruck hinterlassen, wenn er keine Flügel besaß, anders gelangte man nicht zum Stacheldrahtzaun.
Dort vorn die Spur eines Hasen. Der Postenführer sagte: »Nimm dir einen Ast, Henning, und mach das weg.«
Henning holte einen Ast aus dem Wald und verwischte die Hasenspur.
Der Postenführer rauchte.
Henning schwieg.
»Weiter«, sagte der Postenführer, schnippte seine weggerauchte Kippe auf den Wachpfad und trat sie aus. Er winkte Henning mit der Maschinenpistole.
»Gefällt mir nicht, wie du mit der Waffe wedelst«, sagte Henning.
»Hat dich keiner gefragt«, sagte der Postenführer.
Diese Jungspunde hatten keine Vorstellung davon, was man alles falsch machen konnte, wenn man mit der Maschinenpistole hantierte, dreißig Schuss scharfe Munition, er wusste, was die Kugeln anrichten konnten. Und er wusste, was die Minen taten, träumte immer noch von dem jungen Flüchtling, den er hatte abtransportieren müssen, ohne Beine, ein blutender Rumpf mit schlaff herabhängenden Armen.
Sie näherten sich der Hundelaufanlage. Der Postenführer sagte etwas versöhnlicher: »Halt dich von den Hunden fern. Das sind tückische Biester.«
»Ich bin nicht zum ersten Mal an der Grenze.«
»Hab schon gehört. Warst ein großer Ansager, hm? Was mich betrifft, bist du Soldat und nichts weiter.«
Zwischen zwei Böcken im Abstand von achtzig Metern war mannshoch das Stahlseil gespannt. Daran hing, mit einem Ring verbunden, die Laufleine eines kaukasischen Schäferhunds. Er näherte sich rasch, der Ring pfiff über den Stahl.
»Zurück«, befahl der Postenführer, aber Henning tat das Gegenteil, er ging auf den Hund zu. Der Postenführer warnte: »Willst du dir die Kehle zerfetzen lassen?«
Henning kauerte sich hin, holte seine Brotbüchse heraus und entnahm ihr ein Schinkenbrot. Jetzt erreichte ihn der Hund.
»Wie oft füttert ihr die?«, fragte Henning, während der Hund ihm das Schinkenbrot aus der Hand schnappte und es verschlang. Sein Fell war struppig und verklebt.
»Das ist Sache der Hundeführer, da mische ich mich nicht ein.« Der Postenführer spuckte aus. »Ich geb dir einen Rat. Hör auf, so zu tun, als wärst du noch Unteroffizier. Du bist nicht auf Kontrollstreife hier, du bist ein billiger Achtziger, du hast nichts mehr zu melden. Wenn der Kuchen spricht, haben die Krümel zu schweigen. Gewöhn dich daran.«
»Sechsmal die Woche Trockenfutter«, fragte Henning, »und Montag nur Wasser, als Stehtag?«
Der Hund wirkte abgemagert, das messingfarbene Fell zitterte über den Rippen. Henning fuhr ihm über den Kopf und kraulte ihm die Ohren. Der Kaukasier wedelte mit dem Schwanz. »Willst du Boy heißen, mein Kleiner?«, fragte Henning leise. Die Laufleine, die den Hund mit dem Drahtseil verband, erregte sein Mitleid. Kein Wunder, dass die Hunde hier draußen unberechenbar und böse wurden. Sie waren einsam. Tag und Nacht im Wald, angekettet und allein. Das musste ihnen auf die Seele schlagen.
Der Wassernapf vor dem hölzernen Unterstand war umgestoßen. Henning ging hin und stellte ihn wieder auf. Wie lange soff das Tier schon dreckiges Regenwasser aus den Pfützen? Er goss aus seiner Thermoskanne Tee hinein. »Koste das mal, Boy, mein Guter.«
Der Hund trottete heran und schleckte. Er musste großen Durst haben. Der Arme gehörte genauso zu Gottes Schöpfung wie die Menschen.
Der Postenführer sagte scharf: »Schluss jetzt. Spiel woanders Tierheim. Wir müssen Meldung machen.«
Er steuerte den nächsten Mast des Grenzmeldenetzes an, zog den Hörer aus der Tasche, koppelte ihn ans Meldenetz und sagte: »Hier Paula Paula drei an der vierzehn, Otto Anton einer Gustav Viktor.« Er presste sich den runden, mit Gummi ummantelten Hörer ans Ohr und behielt Henning im Blick.
Ob er wusste, dass man Westradio hören konnte, wenn man nur einen Kontakt des Hörers in die Buchse steckte und den anderen mit den Fingern berührte? In seiner alten Kompanie hatten sie das Buchstabieralphabet nachlässiger genutzt und sagten im Klartext »Postenpaar« statt »Paula Paula« und »ohne Anzeichen einer Grenzverletzung« statt »Otto Anton einer Gustav Viktor«.
Offenbar gab die Einsatzleitung neue Befehle. Der Postenführer sagte: »Verstanden, bewegen uns Richtung Berta Samuel.« Nachdem er den Hörer abgezogen hatte, warf er Henning »Beobachtungsstand« hin, für den Fall, dass er die Codierung nicht verstand.
Sie liefen durch den Wald. Dann ging es den Schlossberg hoch, vierhundert Meter. Als sie den Beobachtungsstand erreichten, schwitzte der Postenführer kräftig. Wäre er noch Spieß, er hätte dem Kerl und der ganzen Kompanie einen Tausend-Meter-Lauf in voller Ausrüstung verordnet und anschließend fünfzehn Kilometer Eilmarsch, davon sechs Kilometer unter der Gasmaske. Soldaten hatten körperlich fit zu sein.
»Hier oben«, erklärte der Postenführer, um seine Atemlosigkeit zu kaschieren, »hat es früher eine Ritterburg gegeben, da drüben, die Ruine.«
Henning hörte nicht zu. Er öffnete die Metalltür des Beobachtungsstands und stieg die Leiter hoch. Oben öffnete er die hölzerne Luke zur Kanzel und kletterte hindurch. Der Blick weitete seine Brust.
Er sah zur Kaserne des Bundesgrenzschutzes hinüber.
Der Postenführer, der hinter ihm die Kanzel erklommen hatte, sagte: »Eschwege. Durchs Fernglas erkennst du sogar einen, der vor der Kaserne Wache schiebt.« Er hängte sich die Maschinenpistole um, schraubte seine Thermoskanne auf und trank einige Schluck Kaffee. Dann angelte er ein kaltes Würstchen aus seiner Brotdose und aß es.
Henning blickte angestrengt in die Morgendämmerung.
»Hast du Familie?«
Er will mich auf die Probe stellen, dachte Henning. »Zwei Kinder. Und eine Frau.« Wer Frau und Kinder hat, will nicht abhauen.
»Nett. Ich bin verlobt.« Der Postenführer kaute. »Sind sie sauer, dass du hierherversetzt wurdest?«
»Kann man wohl sagen.« Er sprach leise über die Brüstung des Beobachtungspostens in die kühle Luft hinein, als ginge es um ein anderes Leben, nicht um seines.
»Tja, ist hart, sich nur alle paar Wochen zu sehen. Wem...
Erscheint lt. Verlag | 9.5.2022 |
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Reihe/Serie | Die Spionin-Reihe | Die Spionin-Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • Agententhriller • Alexander Schalck-Golodkowski • Berlin • Bestseller Autor • Bestseller-Autor • BND • DDR • deutsch-deutsche Geschichte • Die fremde Spionin • eBooks • Erich Honecker • Historische Romane Neuerscheinungen 2022 • John F. Kennedy • Kalter Krieg Roman • KGB • Krimi neu 2022 • Mauerbau • Neuerscheinung • Operation Rose • Ostberlin • Reinhard Gehlen • Ria Nachtmann • SED • Spiegel Bestseller Autor • Spionage • Staatssicherheit • Thriller • Walter Ulbricht • Weltfestspiel der Jugend • Westberlin • Willy Brandt • Wolf Biermann |
ISBN-10 | 3-641-27067-7 / 3641270677 |
ISBN-13 | 978-3-641-27067-4 / 9783641270674 |
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