Besuch aus ferner Zeit (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
576 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-27316-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Besuch aus ferner Zeit - Katherine Webb
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Liv Molyneaux ist gerade in das alte Haus ihres Vaters in Bristol gezogen. Er ist verschwunden und Liv glaubt nicht an die Theorie der Polizei, dass er Selbstmord begangen hat. Sie hofft, zwischen Martins Sachen in der Wohnung und der Buchbinderwerkstatt einen Hinweis zu finden. Neben der Trauer um ihr totgeborenes Kind wird Liv nachts immer wieder von seltsamen Geräuschen und dem Weinen eines Babys geweckt. Ist das alles Einbildung, oder steckt mehr dahinter?

Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im englischen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Später arbeitete sie mehrere Jahre als Wirtschafterin auf herrschaftlichen Anwesen. Auf ihr großes internationales Erfolgsdebüt »Das geheime Vermächtnis« folgten zahlreiche weitere SPIEGEL-Bestseller-Romane. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt und schreibt sie heute in der Nähe von Bath, England.

1

Heute

Liv stand vor dem Laden in den Christmas Steps, betrachtete die vertraute georgianische Fassade und fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte. Ihre hastig gepackte Tasche lastete schwer auf ihrer Schulter, und aus dem tief hängenden grauen Oktoberhimmel fiel ein kalter Nieselregen.

Gestern war ihr die Idee, zum Laden zu gehen, wie die perfekte Lösung erschienen; ein idealer Ort, um eine Weile dort zu bleiben – wie lange es auch dauern mochte. Liv war sich allerdings nicht sicher, was es eigentlich war. Doch die Fenster waren dunkel, das alte Eisengitter war heruntergelassen, in der Tür hing das Geschlossen-Schild, und obwohl Liv die Schlüssel in der Tasche hatte, fühlte sie sich abgewiesen.

Es war niemand da – natürlich nicht. Sie hatte es sich trotzdem wie früher vorgestellt, als der Laden hell und warm gewesen war und sie, umgeben von dem Geruch von Holz und altem Papier, hinten an dem großen Schreibtisch Kekse gegessen und mit der Fingerspitze die Krümel aufgetupft hatte. Der Laden war jetzt schon seit viereinhalb Monaten geschlossen, aber es fühlte sich noch viel länger an. Liv bemerkte ihr Spiegelbild in der Schaufensterscheibe – klein, blass, radikal kurz geschnittenes dunkles Haar, dunkle Augen, die durch die darunter liegenden Schatten riesig wirkten.

Martin hatte die Christmas Steps als Waisenkind bezeichnet. Im Krieg war im Stadtkern von Bristol so vieles zerstört und inzwischen saniert und wiederaufgebaut worden. Doch hier und da war eine alte Straße oder ein Haus übrig geblieben, lag einsam zwischen den Gewerbegebäuden aus Backstein und Glas, den trostlosen Sechzigerjahrebauten. Die Christmas Steps waren auch so eine Straße – eine steil ansteigende schmale Kopfsteinpflastergasse mit Narnia-Straßenlaternen, an der sich Läden mit Fassaden aus dem neunzehnten Jahrhundert und dem noch weitaus älteren Kern gegenüberlagen. Hier gab es ausgefallene Geschäfte – einen Whiskyspezialisten, einen alten Videoladen, Vintage-Brautkleider, Sammelpostkarten, einen hippen Herrenfriseur. Ganz oben befand sich Fosters Armenhaus, ein viktorianisches Backsteingebäude, das man in all seiner Pracht restauriert hatte. Die Nischen in den alten Steinen, in denen die Armen gesessen und gebettelt hatten, waren zu beiden Seiten der obersten Stufen bestehen geblieben. Martin hatte Liv aufgefordert, die abgetretenen Steine unter ihren Füßen genauer zu betrachten, ebenso wie die gebogenen Abwasserrohre aus Blei über ihr, in denen Farn und Flohkraut wuchsen. Du wandelst in der Vergangenheit, Livvy. Es hatte der Straße in ihren Augen etwas Magisches verliehen, doch heute war schlechtes Wetter, es war ein unbedeutender Dienstag, und die Gegend wirkte verlassen. Livs Finger waren taub geworden. Plötzlich ging hinter ihr eine Tür auf, und sie drehte sich abrupt um.

»Alles in Ordnung?«, fragte jemand – eine magere Frau mit einem zarten Goldring in der Nase, vielleicht Mitte dreißig, das helle Haar zu langen Zöpfen geflochten, die an den Enden blau gefärbt waren. Sie war aus dem gegenüberliegenden Laden getreten, dessen Schaufenster eine Mischung aus Vinylschallplatten, Kristallen und Wasserpfeifen präsentierte.

»Ja, ich wollte gerade …« Liv deutete auf den verlassenen Laden.

»Ach – der hat schon ewig geschlossen. Dann suchst du nach Martin?«

»Nein. Ich meine, ich weiß, dass er nicht da ist.«

»Okay«, sagte die Frau verwirrt. Liv spürte ihre Neugier.

»Danke«, sagte Liv und trat vor, um das Metalltor aufzustoßen – das Schloss war kaputt, solange sie denken konnte. Sie setzte ihre Tasche ab und holte den Schlüssel heraus. Das Holz war von der Feuchtigkeit aufgequollen, sodass beim Öffnen neben dem Läuten der Ladenglocke auch ein widerwilliges Quietschen ertönte. Liv hörte, wie die Frau hinter ihr in ihren Laden zurückging.

Das Innere kam ihr ganz und gar vertraut und zugleich vollkommen fremd vor – fremd durch die Dunkelheit, den abgestandenen feuchten Geruch und die deutlich spürbare Abwesenheit eines Menschen, den Liv gegen alle Wahrscheinlichkeit hier zu finden gehofft hatte. Die Auslagen im Fenster waren alle ansprechend arrangiert, und als Liv den Schalter betätigte, brachte das Licht alle Farben zum Vorschein. Die Rückwand des Ladens hatte er in einem tiefen Rotton gestrichen, die Seitenwände in Dunkelgrün. Es war alles noch so eingerichtet, wie sie es in Erinnerung hatte, auf die antiquierte Art, wie in den Büchern von Charles Dickens, die er gemocht hatte. In dem großen Schaufenster vorn neben der Tür hatte er einen antiken Mahagonitisch mit zwei Stühlen aufgebaut. Kunstvoll hatte er alte Papiere und Schriftrollen darauf arrangiert, dazu einen Federkiel in einem leeren Tintenfass. Ein bisschen kitschig, oder?, hatte Liv, damals ein zynischer Teenie, bemerkt. Martin hatte unbeeindruckt die Schultern gezuckt. Die Leute mögen es etwas kitschig.

Das Buch, an dem er gearbeitet hatte, lag noch auf dem Schreibtisch, umgeben von winzigen Papierstreifen, Tinte, Cuttern und Kalligrafie-Stiften, Töpfen mit Kleber und Lederfett, Pinseln in einem Einmachglas. Liv blickte auf das Buch hinab – eine Ausgabe von Die schwarze Tulpe von 1861, gut sechs Zentimeter lang und zweieinhalb Zentimeter breit. Nicht sonderlich viel wert, schätzte sie, aber etwas Erschwingliches für einen neuen Sammler oder jemanden, der ein bisschen stöberte. Durchgangsware. Sie stellte sich vor, wie Martins kräftige Finger mit überraschender Geschicklichkeit daran gearbeitet hatten, durch ihre Größe wirkten die winzigen Bücher in seinen Händen noch kleiner. Offensichtlich hatte er auch endlich auf bargeldlose Bezahlung umgestellt – das Kartenlesegerät stand neben der Kasse.

Liv stellte ihre Tasche ab und lauschte. Hier war es nie still gewesen – stets war das Radio gelaufen, von irgendwoher waren Schritte zu hören gewesen, ein Kessel hatte gesummt oder der Wind im Kamin gepfiffen. Abgesehen davon hatte sie irgendwie erwartet, dass das Holz in dem alten Laden knacken würde oder dass man von beiden Seiten die gedämpften Laute ahnungsloser Nachbarn hörte. Doch da war nichts als ihr eigenes leises Atmen. Denn er war nicht da. Ihr Vater war nicht da, und sie wünschte sich wieder einmal inständig, dass sie auf seine Anrufe reagiert oder zumindest eine seiner Nachrichten beantwortet hätte, die er ihr hinterlassen hatte, als alles auseinanderbrach. Er hatte ihr ein kleines handgearbeitetes Buch mit einem einzigen Gedicht geschickt, das er nur für sie abgeschrieben hatte. Eine Zeile pro Seite in seiner winzigen, sorgfältigen Kalligrafie – ein Gedicht, das genau wiedergegeben hatte, wie sie sich fühlte. Ein Gedicht, das ihr signalisierte, dass er sie verstand. Es befand sich jetzt in ihrer Tasche – sie trug es immer bei sich. Er hatte es in himmelblaues Leder gebunden und in Gold ihre Initialen auf die Vorderseite geprägt, OM. Doch sie hatte nicht reagiert. Sie konnte es einfach nicht. Und jetzt, wo er fort war, stellte sie unwillkürlich einen Zusammenhang her – sie war davon überzeugt, dass ihr Schweigen ihm den Rest gegeben hatte. Mit unsicherer Hand schaltete sie das Radio ein.

Der Laden war klein, ungefähr fünf Meter breit und vielleicht sechs oder sieben Meter tief. Auf der linken Seite befanden sich ein von einem Geländer umgebenes Podest mit einem Kamin sowie die Tür zum Treppenhaus, das in die darüberliegende Wohnung führte. Liv hatte diese Treppe immer geliebt, die sich von vorn nach hinten durch das Gebäude schlängelte und es irgendwie geschafft hatte, in all den Jahren nie gestrichen zu werden. Die Stufen und der Handlauf waren glatt von Jahrhunderten der Benutzung. Das Eichenholz schimmerte im durch das Fenster hereinfallenden Licht und knarrte bei jedem Schritt.

Hinten befanden sich eine Luke, die in den vollgestopften Kellerraum führte, und zwei nebeneinanderliegende Türen – eine ging hinaus in den Hof und die andere in die eingeschossigen Lagerräume im hinteren Bereich. Der letzte Raum beherbergte eine düstere Toilette mit einem braunen Ring aus Kesselstein in der Schüssel. Der Hof war mit Ziegeln gepflastert und bot nach Norden und Osten einen weiten Blick über die zusammengedrängten Dächer und belebten Straßen von Bristol. An klaren Tagen waren am fernen Horizont undeutlich grüne Hügel zu erkennen. Im ersten Stock befanden sich die Küche, das Wohnzimmer und ein Bad, im zweiten zwei kleine Schlafzimmer, und unter dem Dach gab es einen eiskalten Dachboden, den man über eine schmale Stiege erreichte. Martin hatte immer vorgehabt, ihn zu isolieren, einzurichten und zum Hauptschlafzimmer zu machen, doch Kosten und Zeitmangel hatten dem entgegengestanden.

Liv ging hinauf in die Küche, die mit billigen weißen Geräten eingerichtet war, und füllte den Kessel mit Wasser. Die Gewohnheit, eine Tasse Tee zu kochen, fühlte sich ebenso vertraut an wie das Treppenhaus. Auf der grauen Arbeitsplatte standen Einmachgläser mit Teebeuteln und Zucker, aber es gab keine Milch. War jemand hier gewesen und hatte alles ausgeräumt, das im Kühlschrank verderben könnte, oder hatte Martin das selbst erledigt? Nur ein paar verkrustete Einmachgläser mit Chutney waren noch da.

Der Wasserhahn ächzte und spuckte, nachdem er so lange nicht benutzt worden war. Liv ließ sich mit der Zubereitung des Tees viel Zeit. Dann setzte sie sich mit ihrem Becher ins Wohnzimmer, und automatisch glitt ihre Hand zur...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Übersetzer Babette Schröder
Sprache deutsch
Original-Titel The Visitors
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bristol • Christmas Steps • Depression • eBooks • England • Familiensaga • Frauenromane • Freundschaft • Gegenwart und Vergangenheit • Geister der Vergangenheit • Hafenstadt • Historische Romane • Liebesromane • Love and Landscape • Obdachloser • Sklavenhandel • Sklaverei • Sozialarbeiter • verschwundener Vater
ISBN-10 3-641-27316-1 / 3641273161
ISBN-13 978-3-641-27316-3 / 9783641273163
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