Hôtel Provençal (eBook)
240 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-19817-6 (ISBN)
Über dem Pinienwald des Seebads Juan-les-Pins thront seit 44 Jahren die verlassene Ruine des ehemaligen Luxushotels 'Le Provençal'. Hier logierten einst Gäste wie Winston Churchill, Lilian Harvey, Charlie Chaplin und Miles Davis; galt es doch zu seiner Eröffnung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Côte d'Azur. Lutz Hachmeister beschreibt in seinem außergewöhnlichen Buch das Schicksal dieses Gebäudes und zeichnet dabei den Aufstieg Juan-les-Pins zu einem einzigartigen Ort ausschweifenden Vergnügens nach. Auf dieser farbenprächtigen Tour de Force erweckt Hachmeister die Geister der intellektuellen und künstlerischen Prominenz, aber auch viele zwielichtige Gestalten wieder zum Leben. Das Buch ist eine faszinierende Kulturgeschichte und zugleich eine Einladung zu einer Reise an die Côte.
Lutz Hachmeister (1959-2024) war Publizist, Filmemacher und Kommunikationsforscher. Der ehemalige Chef des Grimme-Instituts zählte zu den bekanntesten deutschen Dokumentarfilmern. Er hat Produktionen wie »Das Goebbels-Experiment« (2005), »Ich, Reich-Ranicki« (2006) und »Auf der Suche nach Peter Hartz« (2011) realisiert, zuletzt produzierte er »Günter Wallraff, Rollenspieler« (2022). In der Penguin Random House Verlagsgruppe erschienen von ihm u.a. die Sachbücher »Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik« (DVA, 2007), »Hannover. Ein deutsches Machtzentrum« (DVA, 2016) und »Hôtel Provençal. Eine Geschichte der Côte d'Azur« (C.Bertelsmann 2021).
Diese besondere Küste
Amerikaner, Engländer, Franzosen, Deutsche, Schweden, Italiener. Liebeleien, Enttäuschungen, Streit, Versöhnung, Mord. Die Côte d’Azur erregte ihn, wie ihn kein anderer Ort der Welt, den er je kennengelernt hatte, erregen konnte. Und dabei war diese Biegung der Mittelmeerküste so winzig, an der die herrlichen Namen wie die Perlen einer Kette aufgereiht waren – Toulon, Fréjus, Saint-Raphaël, Cannes, Nizza, Menton und dann San Remo.
PATRICIA HIGHSMITH, Der talentierte Mr. Ripley
In Juan-les-Pins war ich zum ersten Mal im Februar 1989. Es war angenehm leer an den Stränden der Französischen Riviera. Graham Greene, dessen langjährige Geliebte Yvonne Cloetta in einer Villa oberhalb des Zentrums von Juan-les-Pins wohnte – er selbst bevorzugte von 1966 bis 1990 als Hauptwohnsitz ein unscheinbares Neubauappartement in Antibes – hatte über diese von allen Kundigen bevorzugte Nebensaison in einer Kurzgeschichte geschrieben:
Das war die Jahreszeit, die ich am meisten liebe, wenn Juan-les-Pins so schäbig wird wie ein Vergnügungspark, in dem alle Buden mit Brettern verschlagen sind, wenn am Pam Pam und am Maxim Karten mit der Aufschrift »Fermeture annuelle« angebracht sind, und wenn der »Concours International Amateur de Striptease« im Vieux Colombier wieder für eine Saison vorüber ist.
Das sanfte Mittelmeer war unvermutet böse, die einzige Lokalzeitung, der Nice Matin – damals weit mehr als heute ein Revolverblatt mit wildem Layout –, berichtete über einen Rentner, den eine Flutwelle von der Seepromenade in Menton in den Vorgarten eines Restaurants gespült hatte, wo er nur noch tot geborgen werden konnte. Es waren auch die letzten Monate der alten Weltordnung, aber das konnte damals keiner wissen. Kurze Zeit später fiel die Berliner Mauer, der »Ostblock« und der Warschauer Pakt brachen auseinander. Solche welthistorischen Umwälzungen kümmern die Côte d’Azur nicht, denn hier wechselt nur die Nationalität der vermögenden Investoren. Aktuell setzt man auf reiche Chinesen und Araber, in den 1990er Jahren dominierten unangefochten die russischen neureichen Oligarchen, »novarichs« wie Roman Abramowitsch mit seinem pompös renovierten Château de la Croë am Cap d’Antibes. Zuvor wohnten da Bauherr Sir Pomeroy Burton, Generaldirektor der Associated Newspapers, dann der Herzog und die Herzogin von Windsor sowie die griechischen Reeder-Tycoons Aristoteles Onassis und Stavros Niarchos.
Ich war – biografisch eher verspätet – zum ersten Mal an der Côte d’Azur. Sie erschien mir durch ihre filmischen Spiegelungen aber ziemlich vertraut: Über den Dächern von Nizza, Swimmingpool, Und Gott schuf die Frau, Der Gendarm von Saint-Tropez, Lautlos wie die Nacht, Sag niemals nie, Nur die Sonne war Zeuge, Bonjour Tristesse, Zwei hinreißend verdorbene Schurken und Hunderte von B-Movies mit deutschen Titeln wie Nimm’s leicht, nimm Dynamit oder Der Panther wird gehetzt. All die Filmpaare – Alain Delon und Romy Schneider, Grace Kelly und Cary Grant, Lino Ventura und Françoise Fabian, Sean Connery und Kim Basinger –, die sich wiederum bruchlos mit der inzwischen untergegangenen Playboy-Szenerie mischten – Aly Khan und Rita Hayworth, Gunter Sachs und Brigitte Bardot, Danielle Darrieux und Porfirio Rubirosa (jener Playboy-Diplomat aus der Dominikanischen Republik mit dem klingendsten Namen, der sich für diese fast ausgestorbene Spezies nur denken lässt) sowie Aristoteles Onassis, auch kein schlechter Name, mal mit Maria Callas, mal mit Jackie Kennedy. In keiner anderen Landschaft der Welt, auch nicht in Kalifornien oder in der Normandie, überlagern und durchdringen Literatur, bildende Kunst und Film alle unmittelbaren Eindrücke und Assoziationen derart. Es handelt sich hier um eine unmittelbar fiktionalisierte Wirklichkeit.
Zunächst verbrachte ich einige Tage in der französisch-italienischen Grenzstadt Menton mit dem kleinen Friedhof der früh verstorbenen tuberkulosekranken Adligen oben am alten Schloss und den gigantischen Hotelpalästen der Belle Époque mit so luxurierenden Namen wie »Winter Palace«, »Imperial«, »Hôtel d’Orient« – allesamt längst in Einzelappartements umgewandelt. Dann weiter nach Villefranche-sur-Mer zum Hotel Welcome, wo Jean Cocteau seinem Opiumkonsum frönte und die Rolling Stones als britische Steuerflüchtlinge in der Villa Nelcôte am gegenüberliegenden Cap noch härtere Drogen konsumiert und ihr Album Exile on Main Street komponiert hatten. Weiter nach Monaco, das mit seiner Mischung aus dem übermediatisierten Fürstenhaus und den Hochhausbatterien eher uninteressant schien, vorbei an Nizza, der Kapitale des Département Alpes Maritimes, die ich erst später en détail kennenlernen sollte, schnell vorbei auch an der Altstadt von Antibes getreu der alten, Alexandre Dumas zugeschriebenen Anekdote: »Wie fanden Sie Antibes?« – »Ich habe es überhaupt nicht gefunden.« Und dann Juan-les-Pins.
Juan-les-Pins, knapp 5000 ständige Einwohner, verwaltungstechnisch von jeher ein Teil von Antibes, seit seiner Gründung 1882 aber ein seltsamer Ort, eine Art Resort für Körperkult, Fun und Games mit ausgeprägtem Eigenleben, erwähnt in einem Popsong, der zu Beginn der 1970er Jahre weltweit von den Radiosendern immer wieder gespielt wurde: Peter Sarstedts »Where Do You Go To My Lovely«. Es geht darin um eine gewisse Marie-Claire, die aus der leeren Welt der Schönen und Reichen befreit werden soll. In der Juan-les-Pins betreffenden Stelle heißt es:
When you go on your summer vacation you go to Juan-les-Pins
With your carefully designed topless swimsuit
You get an even sun tan, on your back and on your legs1
Beim Hören des mit eingängigen Akkordeonklängen unterlegten Songs hatte ich mich des Öfteren gefragt, wie ein »carefully designed topless swimsuit« aussehen mochte – gemeint war wohl der von Rudi Gernreich erfundene Monokini –, und auch Sarstedts Refrain
But where do you go to my lovely
When you’re alone in your bed
Tell me the thoughts that surround you
I want to look inside your head, yes I do2
erschien mir etwas rätselhaft. Klang das nicht irgendwie nach einem unangenehmen und gefährlichen Stalker?
Aber der Name Juan-les-Pins war hängen geblieben, obwohl Sarstedt ihn kaum auszusprechen verstand – es klang irgendwie wie »Janlepon«, hatte aber etwas von Glamour, Verruchtheit und Luxus.3 Diese vage Verheißung war der eine Grund für meinen Aufenthalt in Juan-les-Pins, der andere und eher handfeste Christian Plumails Auberge de l’Esterel, ein kleines Restaurant mit einem Michelin-Stern und günstiger Übernachtungsmöglichkeit. Die Restaurantführer lobten das unschlagbare Preis-Leistungs-Verhältnis bei gleichzeitig ungewöhnlich kreativer Kochleistung. So war es auch, 150 Franc – auf heutige Verhältnisse umgerechnet 25 Euro – für vier Gänge mit einem umwerfenden Dessert schwerster Schokokompositionen.
Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf, den kleinen Ort zu erkunden, der seinen einzigartigen Aufstieg zum Vergnügungszentrum der Côte d’Azur im 20. Jahrhundert – lange vor Saint-Tropez – einem makellosen Sandstrand verdankte, über den Monaco oder Nizza nicht verfügen. Unbestrittener Mittelpunkt von Juan-les-Pins ist der Carrefour de la Joie, eine Straßenkreuzung, an der sich mit dem »Le Crystal« und dem »Pam Pam« zwei Bars der 1920er und 1930er Jahre bis heute gehalten haben. Davor, von Westen aus zum Strandboulevard verlaufend, eine Batterie von weniger exklusiven Snackbars und Boutiquen mit Namen wie »Hysterica«, »Weekend à la mer« oder »Interdit de me gronder«. Gegenüber die alte Pressebuchhandlung und das architektonisch schwer verunglückte, postmoderne Hotel Garden Beach, damals noch mit dem Spielcasino, einst angeblich das eleganteste an der gesamten Küste. Daneben das Pinienwäldchen, das dem Ort den seltsamen Namen gab, und darüber thronend ein riesiges weißes, offenbar leerstehendes Gebäude in einem undefinierbaren Architekturstil, einer Mischung aus Stahlbeton-Gigantismus und neoprovenzalischer Ornamentik. Kein Hinweis, kein Name an diesem Bauwerk, das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer.
© Privatsammlung Lutz Hachmeister
Das »Provençal«, 1927 eröffnet, war über fünf Jahrzehnte Geschäftsmotor und Kommunikationszentrum des Seebads Juan-les-Pins. Architekt Lucien Stable hatte 1920 die École des Beaux-Arts in Paris absolviert und war auch für die Konstruktion des Hotels Georges V. an der Croisette in Cannes verantwortlich. Die Fassade des »Provençal« hat zwar Art-déco-Anklänge, aber es war in seiner stilistischen Melange nicht resolut modern; in der Innenausstattung fanden sich provenzalische Lüster und Freskenmalereien des Genueser Künstlers David Dellepiane. Auffällig waren die im Vergleich zu den Belle-Époque-Palästen eher schlichten Zimmer; die mehr oder weniger betuchten Gäste sollten sich hauptsächlich am Strand und vor allem im Spielcasino aufhalten.
© Privatsammlung Lutz Hachmeister
Ich umrundete den rätselhaften Bau mehrfach und wandte mich schließlich an ortskundige Passanten. Es handele sich, so erfuhr ich, um das ehemalige Luxushotel Le Provençal, das nach seiner Einweihung 1927 als die modernste und...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Antibes • eBooks • Edith Piaf • Frankreich • französischer Charme • Französische Riviera • F. Scott Fitzgerald • Geschichte • Glamour • Juan-les-Pins • Provence • Reisen • Winston Churchill |
ISBN-10 | 3-641-19817-8 / 3641198178 |
ISBN-13 | 978-3-641-19817-6 / 9783641198176 |
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