Ein Stadtmensch im Wald (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
112 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30328-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Stadtmensch im Wald -  H.D. Walden
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Ein großes Waldgebiet, eine einsam gelegene Hütte und in ihr: ein Naturbanause aus der Stadt. H. D. Waldens Bericht über seinen unverhofften Neuanfang mit der Natur. Ein Schriftsteller zieht sich allein in eine Hütte zurück, irgendwo im Ruppiner Waldgebiet. Die Gegend ist so verlassen, dass seine Freundin behauptet, die Waldtiere wüssten nicht, was Menschen sind und würden meinen, es handele sich um verrückte Kühe. Doch auch der Schriftsteller muss sich eingestehen, dass er nicht besser Bescheid weiß als die Tiere: Vögel beispielsweise sehen für ihn alle gleich aus. Ein Stadtmensch eben. Da er sonst nichts zu tun hat, beginnt er mit Hilfe einer Vogelbestimmungs-App und Vogelfutter sich der Angelegenheit zu nähern. Und tatsächlich, sie kommen alle angeschwirrt: Kohlmeisen, Kleiber, Dompfaffen - wie er nun lernt. Und sie unterscheiden sich charakterlich stark: die Mönchsgrasmücke benimmt sich draufgängerisch wie Tom Cruise, während die Kleiber so überdreht wie Kokainisten wirken. Überhaupt: Von wegen nicht viel los im Wald. Jede Nacht, exakt um dieselbe Uhrzeit, knackt ein Waschbär sehr geschickt die Vogelfutterkiste auf, und ist auch sonst ziemlich dreist. Eine Maus macht Lärm für zehn. Und ein Fuchs hat ein echtes Problem. Und dann ist da noch der Igel-Hüne. Je länger der Autor die Tiere beobachtet und das wilde Fremde wie das nahe Vertraute in ihnen erkennt, desto stärker verändert sich seine ganze Wahrnehmung, sein Gefühl für Zeit, ja sogar das für Geborgenheit. »Während andere Home Office machten, machte ich Wood Office, und dazu gehörte das Vertreiben von Nebelkrähen mit Besenstielen.«

H. D. Walden ist das Alter Ego von Linus Reichlin, der von Natur keine Ahnung hatte. Nach monatelangem Aufenthalt in einer Hütte im Ruppiner Wald- und Seengebiet war es unvermeidlich, dass er lernte, einen Kleiber von einem Dompfaffen und einen Waschbären von einem Marder zu unterscheiden. Zu einem der genannten Tiere entwickelte sich sogar eine Freundschaft, die noch intensiver wäre, wenn dieses Tier Walden nicht dauernd austricksen würde.

H. D. Walden ist das Alter Ego von Linus Reichlin, der von Natur keine Ahnung hatte. Nach monatelangem Aufenthalt in einer Hütte im Ruppiner Wald- und Seengebiet war es unvermeidlich, dass er lernte, einen Kleiber von einem Dompfaffen und einen Waschbären von einem Marder zu unterscheiden. Zu einem der genannten Tiere entwickelte sich sogar eine Freundschaft, die noch intensiver wäre, wenn dieses Tier Walden nicht dauernd austricksen würde.

Erster Teil


Als die Seuche ausbrach, zog ich mich ins Ruppiner Wald- und Seengebiet zurück. Es ist eine Gegend voll stiller Vergangenheit, die sich weniger an historischen Baudenkmälern zeigt als an der Weite des Landes, durch das lange Alleen von ehrwürdigen Bäumen führen. Die einst – und nicht nur einmal – verwüsteten Landstriche hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm nach dem Dreißigjährigen Krieg mit Kolonisten aus der Schweiz peubliert. Deren Nachfahren leben heute in idyllischen Straßendörfern und verkaufen Eier an die vorbeifahrenden Touristen aus Berlin, die ihnen an Freundlichkeit nicht das Wasser reichen können. Weite, hügelige Äcker, deren Trockenheit portugiesische Ausmaße angenommen hat, und poetische Wälder prägen die Landschaft, in der man beim Wandern über Stunden keinem Menschen begegnet, was während einer Epidemie ein sorgloses Durchatmen erlaubt. In den Nächten spannt sich über die von strohgelbem, durstigem Gras bewachsenen Weiden ein grandioser Sternenhimmel, der in die Tiefe des Universums blicken lässt oder ließe, wenn es nachts wegen der sandigen Böden nicht fast immer saukalt wäre.

 

In diesem Land besitzt meine Freundin eine Hütte, eine sogenannte Datsche, die inmitten des eigentlichen Herrschers dieser Gegend steht: des großen Waldes. Er erstreckt sich von Oranienburg im Süden und Gransee im Westen über hundert Kilometer weit nach Norden und Osten. Abseits der Wege ist er stellenweise unzugänglich wegen der umgestürzten Bäume und des dichten Gestrüpps, nachts bekäme man ernsthafte Probleme, ins nächste Dorf zu finden. Doch kein Mensch ist hier nachts unterwegs.

 

Nachts hockte ich in der Hütte, und da es draußen absolut dunkel war, wurden die Fenster zu Spiegeln, in denen ich einen Mann sah, der mit einer lilafarbenen Wolldecke über den Schultern vor dem Gasheizer saß und mich angaffte. Es war völlig still bis auf das gelegentliche Fensterklopfen von Insekten, die mit der Erfindung des Glases haderten wie gewisse Menschen mit der Existenz von Impfstoffen. Meine Freundin ist übrigens Krankenschwester, sie musste sich in der Stadt um Leute kümmern, denen die Flucht aufs Land nicht gelungen war. Ich war also mit dem Kerl im Fenster allein. In der zweiten Nacht beschloss ich, mir Outbreak – Lautlose Killer mit Dustin Hoffman anzuschauen, um herauszufinden, wie dieser Seuchenfilm unter den veränderten Umständen auf mich wirkte. Doch während Dustin Hoffman im Labor das Motaba-Virus entdeckte, das durch eine Aerosolbombe des US-Militärs in die Welt gesetzt worden war, hörte ich über mir Geräusche, die unmöglich von der Aerosolbombe stammen konnten. Es klang eher nach einer Ratte, die zwischen Dach und Decke unablässig hin und her rannte wie meine Freundin auf der Notfallstation des Krankenhauses.

 

Meine Freundin hatte mich um drei Dinge gebeten:

  • a)

    Bitte verscheuch das Reh, wenn du es siehst. Es frisst die Rosenknospen.

  • b)

    Bitte füttere die Vögel mit dem Futter aus dem Plastikeimer im Geräteschuppen.

  • c)

    Leg Schinken für den räudigen Fuchs unter die Steineiche, beträufle den Schinken mit zehn Tropfen Steidlöl.

Nichts davon hatte ich bisher gemacht. Vögel, Rehe und Füchse waren für mich putzige Geschöpfe, auf die ich mich aber nicht näher einlassen wollte. Sie interessierten mich einfach nicht richtig. Deswegen konnte ich eine Kohlmeise nicht von irgendeiner Gold- oder Buntmeise oder wie sie alle hießen unterscheiden. Die einzigen Vögel, deren Namen ich kannte, waren Spatzen, Raben oder Krähen (den Unterschied kannte ich nicht), Hühner, Enten, Amseln, Gänse.

Wenn ich ein Reh sah, wusste ich nicht, ob das ein weiblicher Hirsch war. Einen Fuchs hätte ich als Fuchs erkannt. Aber wie ein Marder aussah, wusste ich nicht. Auch von Waschbären hatte ich nur undeutliche Vorstellungen. Einen Biber hätte ich erkannt. Aber ganz bestimmt hätte ich einen Fischmarder für einen Biber gehalten. Ich wusste, wie Frösche aussahen, aber nicht, ob es ein Grasfrosch oder Ochsenfrosch oder eventuell ein entlaufener Giftfrosch war. Einen Igel hätte ich auch noch ohne Tierbestimmungs-App erkannt. Aber damit waren meine Kenntnisse über die Natur bereits erschöpft. Ich wusste nicht mal, wie eine Linde aussah, kannte nur Steineichen (weil die schönste aller Steineichen vor der Hütte stand), Birken und Buchen. Robinien hielt ich ganz am Anfang noch für Espen, weil ihre Blätter wie Espenlaub zitterten. Aber ich hatte keine Ahnung, wie eine Espe überhaupt aussah und ob das, was ich für eine Espe hielt, nicht in Wirklichkeit eine Erle oder Ulme war. Kurz gesagt: Ich war mehr oder weniger naturblind. Und ich verband Natur, wenn es um Tiere ging, mit Zeckenbefall und Verwurmung. Meiner Meinung nach liefen Tiere oft mit offenen Wunden herum, an denen sie auch noch rumleckten. Ein einziger Vogel schiss mehr Bakterien und Viren vom Himmel als das US-Militär: »Wenn Vogelkot dich ins Auge trifft, kannst du erblinden«, las ich mal im Internet.

Nun gut, meiner Freundin zuliebe nahm ich mir trotzdem vor, den räudigen Fuchs irgendwann mal mit Steidlöl zu heilen und die Vögel irgendwann mal zu füttern. Aber mein Interesse galt vorerst allein der Ratte.

 

Am nächsten Tag regnete es, wie es in sandigen Gebieten regnet: als müsste man den Wolken jedes einzelne Tröpfchen abkaufen. Die Laubbäume des großen Waldes bekamen mehr Wind als Nässe und rauschten vor Durst. Die Birken waren am schlimmsten dran, jeden Tag kippte eine von ihnen um. Hohe Mortalitätsrate sozusagen. Ich inspizierte auf der Leiter das Dach, um das Einfallstor der Ratten zu lokalisieren und zu verstopfen. Die metallenen Seitenstreben der Pergola waren ideal, um auf ihnen in den Dachraum zu gelangen, deshalb observierte ich das Gestänge. Und dort kletterte eine Maus herum. Die vermeintliche Ratte war eine Maus. Wie konnte es sein, dass ein fast gewichtsloses Tierchen nachts im Dach einen Lärm machte, als wäre es eine fette Ratte?

 

Als ich es meiner Freundin am Telefon erzählte, sagte sie: »Tiere klingen nachts doppelt so laut, wie sie groß sind.« Ich erzählte ihr, die Maus habe sich von meinem »Huh!« und »Hau ab!« überhaupt nicht beeindrucken lassen. Sie sei erst geflüchtet, als ich einen Gummistiefel nach ihr geworfen hätte. Meine Freundin sagte, die meisten im Ruppiner Waldgebiet lebenden Tiere sähen in ihrem kurzen Leben nie einen Menschen. Sie wissen nicht, wo sie uns einordnen sollen. Sie begegnen vielen Kühen, und da Kühe groß, langsam und harmlos sind, halten sie Menschen für Kühe. So die Theorie meiner Freundin. Mir war am Vortag schon aufgefallen, dass eine Amsel, als ich mit dem Gartenschlauch die Blumenbeete meiner Freundin wässerte, mir ungewöhnlich nahe kam, sie hielt nicht den Social-Distancing-Abstand von anderthalb Metern ein. In der Stadt war mir noch nie eine Amsel so nahe gekommen. Vielleicht hielt diese Amsel mich tatsächlich für eine Kuh, die auf eine sehr komplizierte Art pisste, nämlich indem sie sich auf die Hinterbeine stellte und den Strahl zwischen den Vorderbeinen hindurch in hohem Bogen in ein Blumenbeet lenkte.

 

Um den Vögeln zu zeigen, dass ich ein bisschen mehr draufhatte als eine Kuh, begann ich mit der Fütterung. Die Speisekarte erstellte meine zoophile Freundin am Telefon: Mehlwürmer, zerstoßene Haselnüsse, Sonnenblumenkerne, Meisenknödel mit Kokosfett, Rosinen von Alnatura. Die Meisenknödel hängte ich an die Glyzinienäste, die sich um die Pergolastangen rankten, es sah aus wie der Christbaum eines Ornithologen. Das übrige Futter legte ich auf einem Marmortischchen aus, und danach setzte ich mich in fünf Metern Abstand in einen Korbstuhl und wartete auf die Vögel. Ich hatte alle Zeit der Welt, die Vögel aber auch. Sie ließen sich zunächst im Geäst der Steineiche nieder und beäugten von dort aus das Futter. Sie erinnerten mich an Touristen in einem griechischen Ferienort, die sich abends vor den Restaurants die vergilbten Fotos von Souflakispießen anschauen. Aber solche Vergleiche hinken, denn die Vögel zögerten nicht, weil sie wählerisch oder gelangweilt waren. Sie wussten, wo Futter ist, lauern meistens Feinde, und damit war nicht die Kuh gemeint, die in der Nähe des Futters in einem Korbstuhl saß. Sie beobachteten erst mal, ob es Anzeichen für die Anwesenheit von Mardern, Füchsen, Bussarden gab. Da ich mich durch die Seuche durchaus vom Tod bedroht fühlte, bekam ich zum ersten Mal eine Ahnung von der Lebenswelt dieser Vögel. Für sie war der Tod zu jeder Stunde eine noch sehr viel konkretere Gefahr als für mich das Virus. Bei allem, was sie taten, ging es ums Überleben, und ihre Mittel zur Prävention waren limitiert, nur eine geradezu kunstfertige Vorsichtigkeit stand ihnen zur Verfügung, um sich zu schützen.

 

Erst nach Stunden wagte sich ein erster Vogel auf das Marmortischchen. Da die anderen sahen, dass er lebend und mit einem Schnabel voll Futter wieder wegflog, gaben auch sie sich einen Ruck. Zunächst waren sie für mich alle einfach Vögel, wie wenn man zum ersten Mal nach China reist und gegen den Eindruck ankämpfen muss, dass alle sehr ähnlich aussehen. Aber nach zwei, drei Tagen fiel mir ein Muster auf in der Abfolge, in der die Vögel zum Fressen anflogen. Ich notierte die Beobachtungen:

  • a)

    Es kommt meistens zuerst einer der kleinen mit der schwarzen Gefiederkappe auf dem Kopf. Danach kommt...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Corona-Pandemie • Einsamkeit • Förster • Geschenk-Buch • Großstadt • Komik • Natur • Nature writing • Stadt • Thoreau • Vögel • Wald • Walden • Waschbär • Zivilisationskritik
ISBN-10 3-462-30328-7 / 3462303287
ISBN-13 978-3-462-30328-5 / 9783462303285
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