Spiegel unseres Schmerzes (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 2. Auflage
480 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12001-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Spiegel unseres Schmerzes -  Pierre Lemaitre
Systemvoraussetzungen
13,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Das große Finale der Romantrilogie von Goncourt- Preisträger Pierre Lemaitre Im April 1940 glaubt in Frankreich niemand mehr an den Krieg, weder die Soldaten in ihren Bunkern noch die Pariser in ihren Cafés, und erst recht nicht Lehrerin Louise Belmont. Fast wird es gemütlich - bis die deutsche Wehrmacht durch die Ardennen vorrückt und Louises Leben völlig aus den Fugen gerät. Pierre Lemaitre erweckt mit Louise Belmont eine außergewöhnliche Heldin zum Leben und erschafft ein unvergleichliches Panorama jener Zeit. In Frankreich scheint die Zeit stillzustehen. Schon im September 1939 haben Frankreich und Großbritannien dem  Deutschen Reich den Krieg erklärt, doch seitdem: nichts. Während sich an der Maginotlinie die feindlichen Truppen  gegenseitig belauern, geht für die Bewohner von Paris der Alltag weiter. Man sitzt im Café, plaudert und spekuliert  über die Zukunft. So auch bei Monsieur Jules, dem Restaurant in Montmartre, in dem die Lehrerin Louise an den Wochenenden kellnert. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse: Louise wird mit einer unliebsamen Enthüllung konfrontiert, die ihr Leben auf den Kopf stellt, während der junge Soldat Gabriel mit den Konsequenzen einer überraschenden Beförderung zu kämpfen hat. Überrumpelt wird auch der Rest Frankreichs - und zwar von der deutschen Wehrmacht, die die Maginotlinie durchbrochen hat und Kurs auf Paris nimmt. Dann bricht Chaos aus, und nichts ist mehr so, wie es einmal war ... Stimmen zum Buch:»Lemaitres Romane zählen zum Besten, was man an unterhaltender Literatur in die Hände bekommen kann.« Lena Bopp, FAZ

Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman »Spiegel unseres Schmerzes« in deutscher Übersetzung vor.

Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman »Spiegel unseres Schmerzes« in deutscher Übersetzung vor.

1


Alle, die mal gedacht hatten, der Krieg würde bald losgehen, waren der Sache schon lange überdrüssig geworden, Monsieur Jules als Allererster. Mehr als ein halbes Jahr nach der allgemeinen Mobilmachung hatte der Wirt der Petite Bohème entmutigt den Glauben daran aufgegeben. Die ganze Schicht über hatte Louise ihn sogar erklären hören, in Wahrheit habe »überhaupt niemand je wirklich an den Krieg geglaubt«. Seiner Ansicht nach war der Konflikt nichts anderes als ein gewaltiges, europaweites diplomatisches Komplott mit spektakulären patriotischen Reden und dröhnenden Ankündigungen, eine gigantische Schachpartie, bei der die allgemeine Mobilmachung nur ein zusätzlicher Effekt gewesen war. Sicher, hier und da hatte es ein paar Tote gegeben – »Ganz bestimmt mehr, als man uns sagt!« –, ein bisschen Aufregung an der Saar im September, die zwei- oder dreihundert Männer das Leben gekostet hatte, aber »so was ist doch kein Krieg!«, sagte er, wenn er den Kopf aus der Küchentür streckte. Die Gasmasken, die im Herbst ausgegeben worden waren und heute vergessen in einer Ecke der Anrichte lagen, hatten sich in Spottobjekte humoristischer Zeichnungen verwandelt. Schicksalsergeben begab man sich in die Schutzräume, wie um einem fruchtlosen Ritual Genüge zu tun, es waren Alarme ohne Flugzeuge, ein Krieg ohne Kämpfe, der sich in die Länge zog. Das einzig Greifbare war der Feind, immer derselbe, mit dem man sich nun zum dritten Mal in einem halben Jahrhundert gegenseitig abzuschlachten drohte, der aber seinerseits nicht gewillt schien, sich blindlings in den Kampf zu stürzen. So hatte es der Generalstab den Frontsoldaten im Frühling schließlich gestattet … (an dem Punkt nahm Monsieur Jules sein Geschirrtuch von der einen in die andere Hand und streckte den Zeigefinger gen Himmel, um die Ungeheuerlichkeit der Situation zu unterstreichen) … Gemüsegärten anzulegen! »Ich schwör’s dir …«, sagte er und seufzte.

Die tatsächliche Eröffnung der Kampfhandlungen hatte ihm daher wieder Schwung verliehen, auch wenn sie in Nordeuropa stattfanden, was für seinen Geschmack zu weit weg war. Jeder, der es hören wollte, bekam erklärt, »die Prügel, die Hitler gerade bei Narvik von den Alliierten bezieht, werden die Sache schnell beenden«, und da er der Ansicht war, das Thema sei vom Tisch, konnte er sich wieder seinen Lieblingsmeckerthemen zuwenden: der Inflation, der Zensur der Tageszeitungen, den Tagen ohne Aperitif, den kriegswichtigen Arbeitern, die doch alle nur Drückeberger waren, der Selbstherrlichkeit der Zivilschutzchefs (vor allem dieses alten Knackers de Froberville), den Zeiten der Ausgangssperre, den Kohlepreisen, nichts fand in seinen Augen Gnade, mit Ausnahme der seiner Ansicht nach unschlagbaren Strategie von General Gamelin.

»Wenn sie kommen, dann über Belgien, so ist das bekannt. Und da erwarten wir sie, das kann ich Ihnen versichern!«

Louise, die Teller mit Lauch in Vinaigrette und geschmorten Schafpansen raustrug, sah das zweifelnde Gesicht eines Gastes, der murmelte:

»Bekannt, bekannt …«

»Also wirklich!«, brüllte Monsieur Jules und kam zur Theke zurück. »Woher sollen sie denn kommen, deiner Ansicht nach?«

Mit einer Hand schob er die Drahtkörbe mit hartgekochten Eiern zusammen.

»Hier hast du die Ardennen: unüberwindbar!«

Mit dem feuchten Geschirrtuch zeichnete er einen großen Kreisbogen.

»Hier hast du die Maginot-Linie: unüberwindbar! Also, woher sollen sie kommen, deiner Ansicht nach? Bleibt nur Belgien!«

Nach beendeter Beweisführung zog er sich Richtung Küche zurück.

»Man muss doch kein General sein, um das zu kapieren, verdammt …«

Louise hörte ihm nicht länger zu, denn ihre Sorge galt nicht dem strategischen Herumfuchteln von Monsieur Jules, sondern dem Doktor.

So nannte man ihn, seit zwanzig Jahren kam er jetzt jeden Samstag und setzte sich an denselben Tisch am Fenster, und so lange sagte man »der Doktor«. Nie hatte er mehr als ein paar Worte mit Louise gewechselt, immer sehr höfliche, guten Tag, auf Wiedersehen. Er kam gegen Mittag, setzte sich mit seiner Zeitung. Wenn er auch nie etwas anderes als das Tagesdessert wählen musste, so legte Louise doch Wert darauf, seine Bestellung aufzunehmen, die er mit gleichmäßiger und sanfter Stimme äußerte, »den Kirschauflauf, ja«, sagte er, »das ist perfekt«.

Er las die Nachrichten, sah auf die Straße hinaus, aß, leerte seine Karaffe, und gegen vierzehn Uhr, wenn Louise Kasse machte, erhob er sich, faltete seinen Paris-Soir zusammen, den er auf dem Tisch zurückließ, legte sein Trinkgeld auf die Untertasse, grüßte und ging hinaus. Selbst im vergangenen September, als das Café-Restaurant durch die allgemeine Mobilmachung in Aufregung war (Monsieur Jules war an dem Tag in Hochform, man hatte wirklich das Bedürfnis, ihm die Führung des Generalstabs anzuvertrauen), hatte der Doktor sein Ritual nicht um ein Jota verändert.

Und plötzlich, vor vier Wochen, als Louise ihm seine Crème brûlée mit Anis brachte, hatte er gelächelt, sich zu ihr gebeugt und seine Bitte geäußert.

Hätte er ihr vorgeschlagen, mit ihr ins Bett zu steigen, so hätte Louise den Teller abgestellt, ihn geohrfeigt und in aller Ruhe wieder die Arbeit aufgenommen, Monsieur Jules hätte damit leben können, seinen ältesten Stammgast zu verlieren. Aber das war es nicht. Es war sexuell, ja, natürlich, aber es war … Wie soll man sagen …

»Sie nackt zu sehen«, hatte er ruhig gesagt. »Nur ein Mal. Sie nur ansehen, nichts anderes.«

Verblüfft hatte Louise nichts zu antworten gewusst; sie war errötet, wie ertappt, hatte den Mund aufgemacht, aber nichts war herausgekommen. Der Doktor hatte sich schon wieder seiner Zeitung zugewandt, und Louise war unsicher, ob sie nicht geträumt hatte.

Während sie weiter servierte, hatte sie an nichts anderes als das seltsame Angebot gedacht, hatte zwischen Unverständnis und Zorn geschwankt, aber unbestimmt gespürt, dass es jetzt ein bisschen spät war, dass sie sich sofort vor dem Tisch hätte aufbauen müssen, die Hände in die Hüften gestemmt, laut werden, die Gäste zu Zeugen anrufen, ihn hätte beschämen müssen … Wut stieg in ihr auf. Ihr fiel ein Teller hinunter und zerbrach auf den Fliesen, das war der Auslöser: Sie stürzte in den Gastraum.

Der Doktor war schon gegangen.

Seine Zeitung lag gefaltet auf dem Tisch.

Wütend griff sie nach ihr und warf sie in den Müll. »Also, Louise, was hast du denn?«, fragte Monsieur Jules empört, der den Paris-Soir des Doktors genau wie vergessene Schirme als Feldherrenbeute betrachtete.

Er zog die Zeitung wieder heraus, strich sie mit der flachen Hand glatt und sah Louise unschlüssig an.

Als Louise begonnen hatte, samstags als Kellnerin in La Petite Bohème zu arbeiten, dessen Besitzer und Koch Monsieur Jules war, war sie noch eine Heranwachsende gewesen. Monsieur Jules war ein kräftiger Mann mit langsamen Gesten, einer dicken Nase, einem Haardschungel in den Ohren, leicht fliehendem Kinn und einem graumelierten dichten Walrossschnauzer. Beständig trug er alterslose karierte Pantoffeln und eine runde schwarze Baskenmütze, die seinen Schädel umhüllte, niemand konnte sich rühmen, ihn barhäuptig gesehen zu haben. Er kochte für etwa dreißig Gedecke. »Pariser Küche!«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger, darauf legte er großen Wert. Und immer nur ein Gericht, »wie zu Hause – wenn die Gäste Auswahl wollen, brauchen sie nur auf die andere Straßenseite«. Seine Tätigkeit war von einem gewissen Geheimnis umgeben. Niemand begriff, wie es dem schweren, langsamen Mann, von dem man den Eindruck hatte, er stände permanent hinter dem Tresen, gelang, so viele Essen von solcher Qualität zuzubereiten. Der Andrang im Restaurant hatte nie nachgelassen, er hätte abends und sonntags bedienen und sogar vergrößern können, was er aber immer abgelehnt hatte. »Wenn man die Tür zu weit öffnet, weiß man nie, wer reinkommt«, pflegte er zu sagen und hinzuzufügen: »Ich weiß, wovon ich rede …«, ein rätselhafter Satz, der in der Luft hängen blieb wie eine Prophezeiung.

Er war es, der Louise einst angeboten hatte, ihm im Restaurant zu helfen, in dem Jahr, als seine Frau, an die sich kein Mensch mehr erinnerte, mit dem Sohn des Kohlehändlers aus der Rue Marcadet verschwunden war. Was als reiner Nachbarschaftsdienst begonnen hatte, ging weiter, als Louise an der Pädagogischen Akademie studierte. Danach hatte sie nichts an ihren Gewohnheiten geändert, da sie eine Stelle gleich nebenan bekommen hatte, an der städtischen Volksschule in der Rue Damrémont. Monsieur Jules bezahlte sie bar auf die Hand, rundete die...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2020
Übersetzer Tobias Scheffel
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affäre • Ardennen • Armee • Bunker • Cafés • Chaos • Deutsches Reich • Deutsche Wehrmacht • Familiengeheimnis • Farben des Feuers • Flucht • Flüchtling • Frankreich • Gasangriff • Hochstapler • Kriegserklärung • Liebesgeschichte • Luftangriff • Maas • Maginot-Linie • montmarte • Paris • Prix Goncourt • Propaganda • Restaurant • Schmuggelware • Soldaten • Uneheliches Kind • Wir sehen uns dort oben • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-608-12001-7 / 3608120017
ISBN-13 978-3-608-12001-1 / 9783608120011
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99