Hamster im hinteren Stromgebiet (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 5
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30130-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hamster im hinteren Stromgebiet -  Joachim Meyerhoff
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Was passiert, wenn man durch einen gesundheitlichen Einbruch auf einen Schlag aus dem prallen Leben gerissen wird? Kann das Erzählen von Geschichten zur Rettung beitragen? Und kann Komik heilen? Nachdem der Erzähler Joachim Meyerhoff aus so unterschiedlichen Lebenswelten berichtet hat wie einem Schüleraustausch in Laramie, Amerika, dem Aufwachsen auf einem Psychiatriegelände, der Schauspielschule und den liebesverwirrten Jahren in der Provinz, gerät der inzwischen Fünfzigjährige in ein Drama unerwarteter Art. Er wird als Notfall auf eine Intensivstation eingeliefert. Er, der sich immer durch körperliche Verausgabung zum Glühen brachte, die »blonde Bombe«, für die Selbstdetonationen ein Lebenselixier waren, liegt jählings an Apparaturen angeschlossen in einem Krankenhausbett in der Wiener Peripherie. Doch so existenziell die Situation auch sein mag, sie ist zugleich auch voller absurder Begebenheiten und Begegnungen. Der Krankenhausaufenthalt wird zu einer Zeit voller Geschichten und zu einer Zeit mit den Menschen, die dem Erzähler am nächsten stehen. Er begegnet außerdem so bedauernswerten wie gewöhnungsbedürftigen Mitpatienten, einer beeindruckenden Neurologin und sogar wilden Hamstern. Als er das Krankenhaus wieder verlassen kann, ist nichts mehr, wie es einmal war. Joachim Meyerhoff zieht alle literarischen Register und erzählt mit unvergleichlicher Tragikomik gegen die Unwägbarkeiten der Existenz an.

Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.

Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.

Inhaltsverzeichnis

Und der Gewänder flatternde Bänder


Schaukelnd, mit schlackernden Gliedern, ging es die Treppe hinunter. Intensiv vertont vom Schnaufen der Sanitäter. Ihr Keuchen klang wie ein Vorwurf: Patient zu groß, Patient zu schwer, zu viele Treppen. Sie atmeten mir sozusagen direkt ins schlechte Gewissen. Die Klappen des Krankenwagens standen bereits offen, standen eigenartig schräg in der Luft. Ich machte mir sogleich Sorgen um deren Aufhängung, wies die Sanitäter auf die Fehlstellung der Scharniere hin. »Da stimmt doch was nicht mit Ihren Türen.« Meine Tochter sah mich fragend an und ich begriff, wie verschroben meine Beobachtung klang. Sie hievten mich in das geöffnete Maul. Abtransport einer gekappten Marionette. Im Inneren wurde ich – eins, zwei, drei, hau ruck – in einen anderen Stuhl hinübergewuchtet und abermals angeschnallt. Auf der tauben Nackenseite verkrampfte sich meine Muskulatur und zog mir den Schädel Richtung Schulter. Der eine Sanitäter war völlig außer Atem hinter dem Steuer verschwunden, der andere nahm einen Telefonhörer von der Wagenwand. »Wir bringen Sie in eine Stroke-Unit-Ambulanz. Wir brauchen jetzt nur noch die Zuweisung, dann geht’s auch schon los.« »Wie lange wird das dauern?«, fragte ich. Meine Übelkeit dehnte sich immer weiter aus. »Zwei, drei Minuten. Maximal.« Meine Tochter hatte sich nah zu mir gesetzt und beruhigte mich. »Sehe ich irgendwie komisch aus?«, fragte ich. »Nein, null, Papa. Du siehst aus wie immer.« »Spreche ich undeutlich?« »Nein, kein bisschen.« Ich war mir nicht sicher, ob sie mir die Wahrheit sagte. Meine Zunge steckte in einer gefühllosen Hülle, wie in einem pelzigen Präservativ, und wenn ich sie im Mund herumschob, fühlten sich meine Zähne weich an. So als könnte ich sie mit der Zunge linksseitig aus dem Zahnfleisch herausdrücken. Wir warteten. Auf der Straße fuhr eine der für Wien so typischen Kutschen vorbei, deren Hufgetrappel mir immer schon ein wenig zu kitschig geklungen hatte. Unglaubwürdig laut, so als hätten die Fiaker verborgene Lautsprecher integriert, die den perfekten Hufsound verstärken, knallten die traurigen Gäule ihre Eisen aufs Pflaster. Ich hörte das Getrappel und war für einen Augenblick heilfroh, dass ich gleich mit einem Krankenwagen davonbrausen und nicht mit einer Krankenkutsche in ein vorsintflutliches Spital verfrachtet werden würde, wo die Ärzte Leichengift unter den Fingernägeln hatten und ein Aderlass das Nonplusultra aller medizinischen Weisheit war. Besser Gaspedal als Galopp. Mein Zeitgefühl war ebenso wie mein Raumgefühl verrutscht und eine aberwitzige Wahrnehmung streifte mich. Was, wenn das taube Fleisch in kribbelnder Schwerelosigkeit konserviert werden würde? Denk nicht so einen Blödsinn, befahl ich mir, fang nicht an, verrücktzuspielen. Es kostete mich mehr und mehr Mühe, den Kopf aufrecht zu halten. Ich kämpfte sehr darum, nicht zu weinen. Ich konzentrierte mich ganz bewusst darauf, zu atmen, ein, aus, ein, aus, und die Fragen zu beantworten, die mir sporadisch vom Sanitäter gestellt wurden. Beim ersten Durchgang dachte ich tatsächlich noch, dass es um das Abklären wichtiger Informationen ginge, doch dann wiederholten sich die Fragen. »Wie heißen Sie?« »Wann sind Sie geboren?« »Wie alt sind Sie?« »Wie ist Ihre Adresse?« Da begriff ich, dass es um nichts anderes ging als darum, mich in gedanklicher Bewegung zu halten, mich nicht wegdriften zu lassen. Mir ging die Fragerei auf die Nerven. Das Blaulicht rotierte tonlos über die Hausfassaden. Ich hatte damit gerechnet, dass mit dem Eintreffen der Sanitäter meine Rettung beginnen würde, aber da hatte ich mich gründlich geschnitten. Es gab Probleme bei der Zuteilung. »Bitte, wir müssen jetzt mal los. Es ist doch wichtig, dass ich schnell ins Krankenhaus komme.« Ich bemühte mich redlich, nicht vor Angst zu kollabieren, und drückte eine der Töchterhände, die bei Kälte sehr rau werden. Sie hat ihre Salben-, Creme- und Sonnenmilch-Abscheu nie ganz überwunden. Was waren das für Kämpfe am Ostseestrand mit ihr als Kind! Das gegen seinen Willen eingecremte Mädchen schmeißt sich in den Sand, wälzt sich und rast als panierter Derwisch auf und davon. Meine Kraft entwich den Muskeln und zu einem Häuflein Elend zusammengeschrumpft saß ich im Krankenwagen. Ich versuchte, meine linken Finger zu bewegen, mit aller Gewalt, und als es gelang, war es, als liefe Elektrizität durch die Hand. Ein heftiger Stromschlag, der die Glieder meiner Finger wie frisch geköpfte Aale zucken ließ. Unter größter Anstrengung machte ich eine Faust und der Stromkreis schloss sich. Meine Hand war wie ein Käfig voller irregeleiteter Impulse. So als hielte ich in ihr eine Brut ungestümer frisch geschlüpfter Blitze verborgen. Wie das zappelte und zuckte. Die drohende Ohnmacht tanzte um mich herum, war mal vor mir, mal hinter mir, umkreiste meine Stirn und schoss mir im Sturzflug mit zusammengefalteten Schwindelschwingen in die Magengrube. Meine Tochter forderte den Sanitäter auf, noch einmal in der Zentrale anzurufen. »Es tut mir leid, ich kann da nichts machen. Wir brauchen einen Platz für ihn in der Stroke.« »Aber verdammt, warum dauert das so lange?«, rief sie schon lauter. »Sie sehen doch, wie es meinem Vater geht.« »Ich müsste jeden Moment die Zuteilung bekommen.« Wir warteten. Ausnahmezustand im Stillstand. Ich schützte meine Augen mit der rechten Hand vor dem Neonlicht im Wagen und flüsterte: »Das kann doch nicht sein, dass wir hier jetzt ewig rumstehen.« »Es geht sicher gleich los, mein liebster Papa.« Es roch nach Zigarettenrauch und ich vermutete, dass sich der wieder zu Atem gekommene Sanitäter hinter dem Steuer eine angesteckt hatte. Päuschen und Panik, Luftlinie nur einen Meter voneinander entfernt. Ich versuchte, am Gestank vorbeizuatmen. Doch da sah ich einen paffenden Chinesen durch das schmale Heckfenster blicken. Ich erkannte ihn sogleich als den Besitzer und Koch des Restaurants im Erdgeschoss. Er machte die Daumen-hoch-Geste, als stünde eine Spaceshuttle-Mission bevor, und grinste ein schwarzlöchriges Lächeln. Meine kleine Tochter verbrachte in seinem Restaurant gerne Zeit, da er ebenfalls eine Tochter hatte und sie umsonst Eierreis futtern durfte, so viel sie wollte. Einmal hatte sie gesehen, wie der Besitzer seiner Tochter mehrmals ins Gesicht geschlagen und sie auf Chinesisch angeschrien hatte. »Die ist sechs Jahre alt und hat nicht mal geweint, Papa. Kerzengerade ist sie dagestanden und der hat zugeschlagen. Und ich weine schon, wenn du zu mir sagst: ›Bürste mal deine Haare, du siehst aus wie Catweazle.‹ Dabei weiß ich nicht mal, wer das sein soll.« Meine ältere Tochter hingegen hasste das Restaurant, da die Gäste im sogenannten Schanigarten herumgrölten. Das markant zerfurchte Gesicht des Restaurantbesitzers hing wie ein zerknitterter Lampion im Krankenwagenfenster und leuchtete gespenstisch im Blaulicht. Um ihn loszuwerden, machte auch ich die Daumen-hoch-Geste. Er nickte und verschwand. Meine Tochter flüsterte ihren momentanen Wortfavoriten, der eigentlich immer passte: »Absurd.« »Dieses Warten macht mich mürbe«, sagte ich und mehrmals: »Mir geht’s nicht gut, Mumme.« Abermals hörte ich das Schlagen von Hufeisen und während ich meine linke Hand mit der Rechten knetete und mein anarchischer Fuß seine nervöse Choreografie abhüpfte, dachte ich an eine Kutsche, die ich eines Morgens mit meiner älteren Tochter zusammen gesehen hatte. Wir hatten, wie eigentlich immer an Sonntagen, die Wohnung gleich nach dem Aufwachen leise verlassen und ihre Mutter schlafen lassen. Wir spazierten durch das menschenleere Wien, als wir aus der Ferne wildes Hufgeklapper vernahmen. Wir sahen die schnurgerade Straße hinab. Eine schwarze Kutsche, gezogen von schwarzen Pferden mit weißen Gamaschen, kam herangeprescht. Noch nie hatte ich einen der Fiaker in solchem Tempo gesehen. Die oft erbärmlich abgehalfterten Tiere waren normalerweise in ihrem Trott gefangen und die Scheuklappen wiesen den müden Blick um die ewig gleichen historischen Ecken. Doch diese Pferde galoppierten mitten durch den dritten Bezirk. Die Kutsche kam näher und ich sah, dass niemand auf dem Kutschbock saß. Keine Melone weit und breit über dem vom vielen Warten dick gewordenen Fiakerfahrergesicht. Ich nahm meine damals noch kleine Tochter an den Schultern und zog sie von der Straße weg in einen Hauseingang. Die Kutschpferde dampften vorbei, entfesselt, schwarz glänzend und schäumend, die Hufeisen in die sonntägliche Morgenstille knallend. Bei der kleinsten Unebenheit des Asphaltes hüpfte der Fiaker und hob ab, so schnell war er. Meine Tochter und ich waren überwältigt vom höllischen Gefährt und sahen ihm, vorsichtig aus dem Eingang tretend, hinterher. »Wow!«, staunte meine Tochter. Am nächsten Tag stand die Geschichte in der Zeitung. Der restalkoholisierte – oder wie es im Wiener Idiom heißt: »restfette« – Fiakerfahrer war direkt nach dem Aufschirren vom Kutschbock gefallen und hatte seine Tiere dadurch dermaßen aufgescheucht, dass sie den gesamten Weg vom außerhalb der Stadt gelegenen Stall bis zum Stephansdom durchgaloppiert waren. In den engen Gassen der historischen Altstadt war der Fiaker umgestürzt, was die Tiere aber nur weiter aufgestachelt hatte. Mit Vollspeed ging es durch die weltberühmte Wollzeile. Seitlich hin und her rutschend demolierte die Kutsche über fünfundzwanzig Autos. Doch die Pferde ließen sich nicht irritieren und rasten bis zum Ziel, wo sie schnaubend mit zertrümmerter Kutsche stehen blieben und auf Touristen zu warten begannen. Als Erste in der Reihe!

Der Sanitäter sah auf die Uhr und wurde selbst allmählich unruhig. Er stand auf, klopfte an eine kleine...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2020
Reihe/Serie Alle Toten fliegen hoch
Alle Toten fliegen hoch
Alle Toten fliegen hoch
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ach diese Lücke diese entsetzliche Lücke • Alle Toten fliegen hoch • Amerika • Berliner Schaubühne • Die Zweisamkeit der Einzelgänger • Entschleunigung • Joachim Meyerhoff Reihe • Krankenhaus-Aufenthalt • Meyerhoff Autobiografie • Schauspieler • Schicksalsschlag • Schlaganfall • SPIEGEL-Bestseller • Wann wird es endlich wieder so wie es nie war? • Wiener Burgtheater
ISBN-10 3-462-30130-6 / 3462301306
ISBN-13 978-3-462-30130-4 / 9783462301304
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