Was von Dora blieb (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
336 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
978-3-641-25253-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was von Dora blieb - Anja Hirsch
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Eine Dreiecksbeziehung in Künstlerkreisen der 20er Jahre, eine bürgerliche Ehe zur Nazizeit, eine moderne Beziehungsgeschichte - ein berührender Roman über das Leben und die Liebe in bewegten Zeiten
Isa steckt in einer Ehekrise. Tief verletzt flüchtet sie an den Bodensee. Im Gepäck alte Briefe und Tagebücher ihrer rätselhaften Großmutter Dora. Um den Schmerz zu verdrängen, befasst sie sich mit deren Geschichte: Dora studierte in den 1920er Jahren zusammen mit dem Bergarbeitersohn Frantek und der extravaganten Maritz am Bauhaus des Ruhrgebiets, der heutigen Folkwangschule. Aus einer intensiven Freundschaft entsteht ein Liebesdreieck. Später heiratet Dora einen Verwaltungsdirektor der I.G. Farben. Gesprochen wurde darüber in Isas Familie kaum. Welche Rolle spielte Isas Großvater im Zweiten Weltkrieg? Und warum besuchte ihr Vater eine der berüchtigten Napola-Schulen? Je tiefer Isa in ihre Familiengeschichte vordringt, umso klarer wird ihr Blick auf Dora - und auf sich selbst.

Ein ergreifender Roman über die Schwierigkeit der Kriegsenkelgeneration sich im eigenen Leben zu verankern und eine faszinierende Spurensuche, in der sich die Leserinnen und Leser immer wieder selbst begegnen.

Großmutter und Enkelin - und ein ganzes Jahrhundert in Deutschland

Anja Hirsch, geboren 1969 in Frankfurt am Main, studierte in Freiburg im Breisgau, Kanada und Bielefeld und wurde in Germanistik promoviert. Sie arbeitet als freie Journalistin für überregionale Medien (u.a. Deutschlandfunk, FAZ, WDR), war Mitglied in Fachjurys (Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium, Hotlistpreis der Unabhängigen Verlage) und lebt in Unna. »Was von Dora blieb« ist ihr Debüt.

ISA 2014

Der Sommer war schwül und zeigte seine Gewitterseite. Meine Nächte waren unruhig, was vor allem an der Kürze der Schlafphasen lag. Ich hatte einen inneren Wecker, der irgendwo zwischen Herz und Lunge saß und ansprang, sobald ich im Begriff war einzuschlafen. Im Traum war ich immer unterwegs und in Eile, weil ein Zug, ein Bus oder ein Flugzeug erreicht werden mussten. Doch heute Nacht hatten mich nicht Fluchtträume aus dem Schlaf gerissen; nicht der reale Sturm, der jetzt deutlich hörbar an den Jalousien rüttelte; auch nicht die Scheinwerfer, die wild vor dem Fenster kreiselnd Antwort erhielten von der Sturmwarnleuchte der gegenüberliegenden Insel.

In dieser Nacht, als der Wind endlich kühlere Luft durchs offene Fenster ins Zimmer ließ, war das Aufwachen mit einem körperlichen Schmerz verbunden. Ich konnte mich nicht bewegen. Meine gesamte Haut spannte und tat höllisch weh. Eine enorme Kraft hielt mich fest. Der Schmerz hing mir noch an, leise stechend, als ich längst aufgestanden war, herumlief, verzweifelt im Schlafnebel danach suchte, was ich denn genau geträumt hatte und was diesen körperlich in jeder Nervenfaser so spürbaren neuartigen Schmerz verursacht haben könnte. Aber ich kam nicht darauf. Es blieb schwarz in meinem Nachtgedächtnis, und ich gab auf, nach Bildresten zu suchen.

Als der Sturm abgeklungen war, trat ich hinaus auf den Balkon und besah mir den Schaden. Der gewaltige Riss im Himmel hatte sich geschlossen, aber die Wolken waren immer noch stark in Bewegung. Sogar die Morgensonne erschien für eine Sekunde und tauchte das Café und die Parklandschaft des Seegartens mitsamt dem ozeanartig weitem Wasser dahinter in zitronengelbes Licht. Die Stahlseile um die Kaffeehausbestuhlung hatten gehalten. Das Unwetter hatte aber alles umgeworfen, was unbefestigt gewesen war. Umgekippte Blumentöpfe rollten hin und her. Sogar einige der schweren Ständer, deren Sonnenschirme täglich mit einer Kurbel hochgezogen wurden, hatte es umgehauen. Wie Leichen lagen sie am Boden.

Ich hatte mich von der Sturmnacht gerade wieder erholt, als Gustav anklingelte. Während ich Espresso machte, räumte er die vielen Fotos und Unterlagen auf meinem Tisch beiseite.

»Ist das Dora?«, wollte er wissen, während er einen Bildstreifen hochhielt. Wie hereingeschneit aus einem sibirischen Winter wirkt sie darauf, mit Pelzkragen und einem weißen Schal. Eine einzelne Locke kräuselt sich am rechten Ohr. Sie guckt zur Seite. Ihr Grübchen ist hier besonders ausgeprägt, weil sie in diesem Moment wirklich bezaubernd lächelt.

»Fotoautomat«, sagte Gustav.

»Ja«, antwortete ich.

Eine Photomaton-Kabine, wie sie seit 1925 in Warenhäusern wie dem Essener Althoff aufgestellt wurden, musste es gewesen sein, in der Dora sich hatte ablichten lassen. Vermutlich waren es die Spontaneität und Doras spürbare Lust an dem versprochenen Schnellfotowunder, was mir so daran gefiel. Sicher war es noch zu Beginn ihrer Kunstschulzeit entstanden, in der ich mir Dora am glücklichsten dachte.

Gustav griff nach den vielen Fotografien aus den Jahrzehnten danach: Dora allein oder mit ihrem Ehemann, beim Wandern, beim Picknick oder zusammen mit ihren ordentlich zurechtgemachten Söhnen.

»Diese Hüte!«, sagte er.

»Sind doch sehr fantasievoll«, sagte ich.

»Sie wirkt zufrieden«, sagte Gustav.

Dora war eine elegante Frau mit einer auffällig hohen, jederzeit in Gänze sichtbaren Stirn. Bis auf die rebellische Kürzesthaarphase in Essen hatte sie stets Naturwellen, die aber oft wie zusätzlich mit dem Brenneisen onduliert wirkten. Und es stimmt, sie sieht auf fast allen Fotografien zufrieden aus. Sie lächelt oft und scheint entspannt.

Doch ich fand auch Aufnahmen aus späteren Jahren, auf denen sie nachdenklich wirkt, immer mit etwas in der Hand, als wäre sie kurz vor dem Aufbruch in ein anderes Leben. Es ist der gleiche Ausdruck, den Beerwald eingefangen hatte, als er sie porträtierte.

Zum Abschluss zeigte ich Gustav einen Schnappschuss, auf dem die ganze Familie zu sehen war: Dora, sichtlich älter, mit schlichtem weißem Pullover unter einem Blazer. Mein Vater, fünfundzwanzig Jahre jung, schon examinierter Jurist, gut aussehend in Sakko über weißem Hemd. Daneben Rudolf, sein Bruder. Und: Doras Ehemann Max, mit Hut und Anzug und einem Gewehr im Anschlag. Die Augen hat er zusammengekniffen, den Kopf an den Gewehrgriff gedrückt. Konzentriert nimmt er Maß auf Kimme und Korn. Das Foto entstand auf einem Volksfest in den bundesrepublikanischen Fünfzigern, ein Ausgehtag.

»Warum hält Doras Mann hier ein Gewehr in der Hand?«, fragte Gustav in das Brodeln des Espressos hinein.

»Weil er an einer Schießbude steht und das Foto gemacht wurde, als er traf«, sagte ich und goss die schwarze Flüssigkeit in die kleinen Tässchen.

»Sieht heftig aus, wie er da mit dem Gewehr auf uns zielt.« Gustav nahm Zucker und viel Sahne und rührte lange.

Ich hatte mir diese Jahrmarktszene auf dem Foto oft vorgestellt.

»Mach du«, will Max seinen Ältesten, meinen Vater, überreden. Der weicht zurück, steif in der Bewegung, er ist uneins mit sich, fixiert das Ziel aber genauso jägerhaft wie Max: eine Scheibe, deren Treffer der Auslöser einer Kamera ist. Nur wenn der Schütze trifft, gibt es für diesen als Gewinn das Polaroid des Schützen in Aktion und aller, die zufällig neben und hinter ihm stehen.

Der Schießbudenbesitzer wartet geduldig. Es ist Mittag, frühherbstlau und leicht bewölkt. Die Blaskapellen haben schon Stellung bezogen, von den Weinwiesen ziehen die immer gleichen Tonfolgen zur Haupttrasse auf dem Festplatz herüber. Manchmal hört es sich an, als sei ein Schlusspunkt erreicht, aber dann dreht die Musik doch wieder eine neue Runde, getragen vom stumpfen Paukenschlag, der monoton, aber verlässlich die Jauchzer der Menschen in den Fahrgeschäften begleitet. Die Schießbude steht strategisch gut, direkt zwischen »Taifun« und »Düsenspirale«, vor welchen sich lange Schlangen bilden. Mit Sicherheit sitzen schon die Ersten vor ihrem Schoppen Wein. Der Schießbudenbesitzer langweilt sich. Schon den siebten Tag steht er sich die Beine in den Bauch. Den siebten Festtag hätte man nicht erlauben dürfen, an dem durfte sogar Gott schlafen.

»Na, was ist nun?«, drängt er die kleine Familie vor sich und rückt seine Kappe zurecht, das Luftgewehr abwartend in der rechten Hand. Gewöhnlich reißen sich die Männer untereinander das Gewehr aus der Hand. »Der Herr Papa, damit er dem Sohn mal zeigt, wie man ordentlich trifft?«

Jetzt ist Max in der Bredouille und muss zugreifen. Dora klopft ihrem Mann auf die Schulter und lacht etwas zu laut.

Max aber ist ganz ruhig. Seitdem er im Ruhestand ist, war er mehr im Krankenhaus als bei Dora. Heute geht es ihm ausgesprochen gut. Die Waffe wirkt wie ein Apfel, frisch und vitaminreich, und anders als im Ersten Weltkrieg an der Front geht es hier um nichts. Die Geräusche ringsum, das Gekreische und Gegröle am hellen Tag, alles zieht sich auf einmal zurück. Max hat Wachs in den Ohren. Sogar seine operierten Augen machen heute gut mit.

In dieser konzentrierten Stille geht das Schießen verblüffend schnell. Den Körper ausrichten. Das Luftgewehr richtig halten. Die Mitte der Scheibe fokussieren. Dann führt er den Finger langsam an den Druckpunkt heran. Er spürt den kleinen Widerstand. Einatmen und ausatmen. Fünf Sekunden dazwischen siehst du scharf.

Es war das Foto mit der intensivsten Wirkung auf mich. So albern der Anlass gewesen war, so spektakulär bedrohlich richtete sich tatsächlich der Gewehrlauf meines Großvaters aus der Vergangenheit in meine Arbeitsküche.

Auch Gustav studierte das Foto. »Von deinem Großvater hast du mir noch gar nichts erzählt«, sagte er fast beleidigt.

»Er ist ja auch noch nicht aufgetreten«, sagte ich. »Aber er wird. Dora hat ihn in Baden kennengelernt.«

»Baden? Baden bei Wien?«

»Nein, Baden in Baden«, sagte ich. Erst einige Zeit nach Doras folgenschwerem Besuch, wurde der Kurort in »Baden-Baden« umbenannt. Gustav fragte, wie ich denn eigentlich recherchierte. Ich wies auf meine Unterlagen, gestand aber ein, dass ich Lücken mit viel Fantasie ausfüllte.

»Ach so?« Er schien überrascht.

»Auch Erinnerungen lügen«, verteidigte ich meine Methode.

An diesem Nachmittag erzählte mir Gustav von seinem Dachbodenfund vor einigen Jahren im Haus seiner Eltern. Der Klassiker: Er war eigentlich nur auf der Suche nach seiner alten Trompete gewesen, um zum Sankt-Martins-Umzug die örtlichen Schulinstrumentalisten zu unterstützen. Die Trompete fand sich – direkt neben einem Schuhkarton, der eine juristische Konversation enthielt, aus der hervorging, dass Gustavs Elternhaus schon zu Zeiten seiner Großeltern unrechtmäßig in den Besitz seiner Familie gelangt war. Seine Eltern als Erben hatten diese Fehde wohl zehn Jahre lang geführt. Abschließend bekamen sie recht. Der Kläger, Enkel eines Holocaust-Überlebenden, dem das Haus ursprünglich gehört hatte, unterlag.

»Es gibt Archive, Isa«, sagte Gustav, als ob ich ahnungslos wäre. »Du kannst sie alle befragen. Du musst sie befragen. Du stößt auf Fakten.«

»Aber?«, fragte ich in die Stille hinein.

»Nichts ›aber‹«, sagte Gustav. »Jeder von uns sollte das tun. Aber du solltest dich fragen, was es mit dir macht. Wie es dich verändert. Ob du durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit anders in die Welt siehst.«

So viel Ernst war ich von Gustav kaum gewohnt. Er wirkte für einen kurzen Moment unnahbar und starrte abwesend auf die Fotografien vor uns auf dem Tisch....

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anne Gesthuysen • Annette Hess • BASF • Die Gewitterschwimmerin • Dörte Hansen • eBooks • enkelgeneration • Essen • Familiensaga • Folkwangschule • Franziska Hauser • Ludwigshafen
ISBN-10 3-641-25253-9 / 3641252539
ISBN-13 978-3-641-25253-3 / 9783641252533
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