Das blinde Licht (eBook)

Irrfahrten der Wissenschaft | Lieblingsbuch von Barack Obama 2021
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
187 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76469-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das blinde Licht -  Benjamín Labatut
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Benjamín Labatut erzählt vom schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn, von der zwiespältigen Kraft der Wissenschaft und dem verhängnisvollen Moment, an dem wir aufhören, die Welt zu verstehen.

Sie sind Pioniere und Verdammte. Eroberer von Raum und Zeit. Träumer des Absoluten. Sie verändern den Lauf der Geschichte und verzweifeln an sich selbst: Werner Heisenberg, dessen Gleichungen - im Wahn auf der Insel Helgoland entstanden - zum Bau der Atombombe führen. Der Mathematiker Alexander Grothendieck, der es vorzieht, seine Formeln zu verbrennen, um die Menschheit vor ihrem zerstörerischen Potential zu schützen. Oder Fritz Haber, dessen physikalische Verfahren eine Hungerkrise vermeiden und zugleich das diabolischste Werkzeug der Nationalsozialisten hervorbringen werden ...



<p>Benjam&iacute;n Labatut, geboren 1980 in Rotterdam, wuchs in Den Haag, Buenos Aires und Lima auf. Er ver&ouml;ffentlichte zwei preisgekr&ouml;nte Romane und Kurzgeschichten in Letras Libres. <em>Das blinde Licht</em> erschien in &uuml;ber 30 L&auml;ndern, stand auf der Shortlist des International Booker Prize, des National Book Award, auf der Summer Reading List von Barack Obama und war eines der 10 Best Books of 2021 laut New York Times Book Reviews. <em>MANIAC </em>ist Labatuts neuer Roman. Der Autor lebt mit seiner Familie in Santiago de Chile.</p>

Am 24. Dezember 1915saß Albert Einstein


Am 24. Dezember 1915 saß Albert Einstein in seiner Berliner Wohnung gerade bei einer Tasse Tee, als er Post aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs erhielt.

Der Umschlag hatte einen Kontinent in Flammen durchquert, er war schmutzig, zerknittert, lehmverschmiert. Eine Ecke war zerfetzt, der Name des Absenders verdeckt von einem Blutfleck. Einstein zog sich Handschuhe über und öffnete ihn mit einem Messer. Darin steckte ein Brief mit dem letzten Geistesblitz eines Genies: Karl Schwarzschild, Astronom, Physiker, Mathematiker und Leutnant des deutschen Heeres.

»Wie Sie sehen, meint es der Krieg freundlich mit mir, indem er mir trotz heftigen Geschützfeuers in der durchaus terrestrischen Entfernung diesen Spaziergang in Ihrem Ideenlande erlaubt«, schloss der Brief, den Einstein perplex las, aber nicht, weil einer der angesehensten Wissenschaftler Deutschlands eine Artillerieeinheit an der russischen Front befehligte, auch nicht wegen der kryptischen Andeutungen, mit denen sein Kollege vor einer heraufziehenden Katastrophe warnte, sondern wegen einiger wahrlich außergewöhnlicher Zeilen auf der zweiten Seite des Briefs. Geschrieben in einer so winzigen Schrift, dass Einstein eine Lupe nehmen musste, um sie zu entziffern, hatte Schwarzschild ihm die erste exakte Lösung für die Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie geschickt.

Er musste sie mehrmals lesen. Wann hatte er seine Theorie veröffentlicht? Vor einem Monat? Weniger als einem Monat? Unmöglich, dass Schwarzschild derart komplexe Gleichungen in so kurzer Zeit gelöst haben konnte, schließlich fand selbst er, Einstein, der sie erdacht hatte, nur zu annähernden Lösungen. Die von Schwarzschild war exakt – sie beschrieb perfekt, wie die Masse eines Sterns den Raum und die Zeit ringsum verformt.

Doch selbst mit der Lösung in Händen konnte Einstein es nicht glauben. Er wusste, dass diese Ergebnisse ganz wesentlich waren, um das Interesse der Wissenschaftsgemeinde an seiner Theorie zu befeuern, einer Theorie, die bislang nur wenig Begeisterung geweckt hatte, ihre Komplexität stand dem im Wege. Er hatte sich bereits damit abgefunden, dass niemand in der Lage wäre, seine Gleichungen auf zufriedenstellende Weise zu lösen, zumindest nicht zu seinen Lebzeiten. Dass Schwarzschild es unter Mörserbeschuss und Wolken von Giftgas geschafft hatte, war ein echtes Wunder. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach wäre!«, antwortete er Schwarzschild, kaum dass er sich wieder gefasst hatte, und er versprach ihm, seine Arbeit baldmöglichst der Akademie vorzustellen. Nur konnte er nicht ahnen, dass er einem Toten schrieb.

Der Trick, zu dem Schwarzschild gegriffen hatte, war tatsächlich ein einfacher: Er untersuchte einen idealisierten, vollkommen runden, nichtrotierenden und elektrisch ungeladenen Stern und berechnete dann mit Einsteins Gleichungen, wie diese Masse die Form des Raums veränderte, ähnlich einer Kanonenkugel, die, auf ein Bett gelegt, die Matratze eindellt.

Seine Metrik war so exakt, dass man sie noch heute benutzt, um die Bewegung der Sterne zu beschreiben, die Umlaufbahnen der Planeten und die Verzerrungen der Lichtstrahlen, sobald sie in die Nähe eines Körpers mit hohem Gravitationseinfluss gelangen.

Aber da war etwas zutiefst Merkwürdiges an Schwarzschilds Ergebnissen.

Sie galten für einen gewöhnlichen Stern, dort krümmte sich der Raum leicht, so wie Einstein es vorausgesagt hatte, und der Himmelskörper hing nun in dieser Senke wie ein Kinderpaar, das sich in eine Hängematte kuschelt. Problematisch wurde es, wenn sich eine zu große Masse auf kleinem Gebiet sammelte, bei einem Riesenstern etwa, dem der Brennstoff ausgeht und der kollabiert. Nach Schwarzschilds Berechnungen verzerrten sich Raum und Zeit dort nicht, sie zerrissen vielmehr. Der Stern wurde immer kompakter, und seine Dichte nahm unaufhörlich zu. Die Anziehungskraft wurde so stark, dass der Raum sich unendlich krümmte und um sich selber schloss. Das Ergebnis war ein Abgrund, aus dem es kein Entkommen gab, vom Rest des Universums für immer geschieden.

Man nannte es die Schwarzschild-Singularität.

Schwarzschild selbst hatte ein solches Ergebnis zunächst als mathematische Abweichung verworfen. Letzten Endes ist die Physik voller Unendlichkeiten, die nicht mehr sind als Zahlen auf dem Papier, Abstraktionen, die keine Gegenstände der realen Welt abbilden, oder man hat es lediglich mit einem Fehler in den Berechnungen zu tun. In seiner Metrik war die Singularität zweifellos genau das: ein Irrtum, eine Merkwürdigkeit, metaphysischer Mumpitz.

Denn die Alternative war schlicht undenkbar: Ab einer bestimmten Entfernung zu seinem idealisierten Stern spielte Einsteins Mathematik verrückt; die Zeit blieb stehen, und der Raum rollte sich zusammen wie eine Schlange. Im Zentrum eines toten Sterns konzentrierte sich die gesamte Masse in einem unendlich dichten Punkt. Dass es so etwas im Universum geben könnte, war für Schwarzschild unvorstellbar. Es forderte nicht nur den Menschenverstand heraus, zog nicht nur die Gültigkeit der allgemeinen Relativität in Zweifel, es kratzte auch an den Fundamenten der Physik – allein schon die Begriffe von Raum und Zeit ergaben in der Singularität nicht länger einen Sinn. Karl suchte nach einem logischen Ausweg für das Rätsel, das er aufgedeckt hatte. Vielleicht hatte ihm sein Genius ja einen Streich gespielt. Schließlich gab es keine Sterne, die vollkommen rund waren, ganz und gar reglos und ohne elektrische Ladung. Die Anomalie rührte zweifellos von den idealen Bedingungen her, die er der Welt angedichtet hatte, in der Wirklichkeit fanden sie keine Entsprechung. Seine Singularität, sagte er sich, war ein schreckliches, aber imaginäres Monster, ein Papiertiger, ein chinesischer Drache.

Und doch konnte er sie sich nicht aus dem Kopf schlagen. Sosehr der Krieg um ihn herum tobte, breitete sich die Singularität vor seinen Augen aus wie ein Fleck, schob sich über die Hölle der Schützengräben, er sah sie in den Schusswunden seiner Kameraden, in den Augen der toten Pferde im Matsch, in den sich spiegelnden Gläsern der Gasmasken. Seine ganze Vorstellungskraft hing am Haken seiner Entdeckung, und entsetzt wurde ihm klar, dass diese Singularität, wenn es sie denn je gab, so lange währte, wie das Universum existierte. Ihre idealen Bedingungen machten sie zu einem ewigen Objekt, das weder anwuchs noch schrumpfte, sie blieb sich selbst stets gleich. Im Gegensatz zu allem anderen veränderte sich die Singularität nicht mit dem Werden und war auf zweifache Weise unentrinnbar, denn innerhalb der seltsamen Raumgeometrie, die sie schuf, befand sie sich an beiden Enden der Zeit, man konnte vor ihr in die tiefste Vergangenheit fliehen oder in die fernste Zukunft reisen, man fand sie dort immer wieder. In dem letzten Brief, den Karl seiner Frau aus Russland schickte, geschrieben am selben Tag, als er beschloss, seine Entdeckung Einstein mitzuteilen, beklagt er sich über etwas Seltsames, was in ihm zu wachsen begonnen habe: »Ich kann es weder benennen noch erklären, aber es besitzt eine unaufhaltsame Kraft und verdunkelt all meine Gedanken. Es ist eine Leere ohne Form noch irgendeine Dimension, ein Schatten, den ich nicht sehen kann, den ich aber mit meiner ganzen Seele spüre.«

Kurz darauf befiel dieses Unwohlsein seinen Körper.

Die Krankheit begann mit zwei Blasen am Mundwinkel.

Nach einem Monat bedeckten sie seine Hände, die Füße, die Lippen, den Hals und die Genitalien. Nach zwei Monaten war er tot.

Die Diagnose der Feldärzte lautete auf Pemphigus, eine unter aschkenasischen Juden häufiger auftretende Krankheit, bei der der Körper seine eigenen Zellen nicht erkennt und sie mit Macht attackiert. Die behandelnden Mediziner sagten ihm, womöglich sei sie von dem Gas ausgelöst worden, dem er Monate zuvor bei einem Angriff ausgesetzt war. Schwarzschild beschrieb ihn in...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2020
Übersetzer Thomas Brovot
Sprache deutsch
Original-Titel Cuando dejamos de entender el mundo
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Albert Einstein • Alexander Grothendieck • Atombombe • Big Bang Theory • Bolaño • Chemie • Daniel Kehlmann • Erfindungen • Erkenntnis • Erster Weltkrieg • Erwin Schrödinger • Fakt und Fiktion • faszination wissen • Forscher • Forscherdrang • Fortschritt • Fortschrittsglaube • Fritz Haber • Gefährliches Wissen • Genie • Giftgas • Grenzen der Forschung • grothendieck • Heisenberg • Ilies • Kehlmann • Mathematik • Mathematikgeschichte • menschliche Hybris • Naturwissenschaft • Nuklearforschung • Physik • Quantenphysik • Relativitätstheorie • Scheitern • Schrödinger • Schrödingers Katze • Schwarzes Loch • Schwarzschild-Lösung • Schwarzschild-Singularität • ST 5152 • ST5152 • suhrkamp taschenbuch 5152 • Vermessung der Welt • Vision • Wahnsinn • Werner Heisenberg • Wissenschaft • Wissenschaftler • Wissenschaftsgeschichte
ISBN-10 3-518-76469-1 / 3518764691
ISBN-13 978-3-518-76469-5 / 9783518764695
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99