Ein Witz für ein Leben (eBook)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
160 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31043-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Witz für ein Leben -  Mazen Maarouf
Systemvoraussetzungen
16,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein Kind, das einer einsamen Kuh durch die Trümmer folgt. Ein Onkel, der drei Mal stirbt. Ein Mann, der die Träume der anderen träumt, und einer, der immer flacher wird. Ein Junge, der seinen kleinen Bruder verkaufen will, und einer, der beschließt, nie wieder zu lächeln. Geschichten von fantastischen Matadoren, von reumütigen Voyeuren, von verlorenen Leben, von allmächtigen Milizen an jeder Ecke - und von der Notwendigkeit, trotz allem zu lachen. Wie überlebt man in einer Welt, die täglich zerstört wird? Wie findet man Worte für einen Schrecken, der so ganz anders ist, als wir ihn uns vorstellen? In seinen aufsehenerregenden Texten erzählt Mazen Maarouf überraschend und kühn, voller Humor und Fantasie.

Mazen Maarouf (*1978 in Beirut) ist ein palästinensischer Autor, Übersetzer und Journalist. Im Libanon aufgewachsen, spricht er sich in seinem Schreiben dezidiert gegen repressive Regimes aus, weshalb er 2011 nach Island ins Exil gehen musste. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen. Er wurde mit dem Al-Mutaqa-Preis ausgezeichnet und stand 2019 auf der Longlist des Man Booker International Prize. Zudem übersetzt er u. a. Werke von Sjón und Andri Snær Magnason aus dem Isländischen ins Arabische. Er lebt in Reykjavík und Beirut.

Mazen Maarouf (*1978 in Beirut) ist ein palästinensischer Autor, Übersetzer und Journalist. Im Libanon aufgewachsen, spricht er sich in seinem Schreiben dezidiert gegen repressive Regimes aus, weshalb er 2011 nach Island ins Exil gehen musste. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen. Er wurde mit dem Al-Mutaqa-Preis ausgezeichnet und stand 2019 auf der Longlist des Man Booker International Prize. Zudem übersetzt er u. a. Werke von Sjón und Andri Snær Magnason aus dem Isländischen ins Arabische. Er lebt in Reykjavík und Beirut.

Ein Witz für ein Leben


Eine Paprikapflanze


Ich träumte, dass Vater ein Glasauge hatte. Als ich aufwachte, schlug mein Herz heftig – wie das einer verschreckten Kuh. Ich lächelte glücklich, denn endlich schien es Wirklichkeit geworden zu sein: Mein Vater hatte ein Glasauge. Als ich klein war, schenkte Vater mir einmal zum Geburtstag eine Paprikapflanze. Es war ein eigenartiges Geschenk, dessen tieferen Sinn ich damals nicht verstand. Von Zeit zu Zeit hörten wir Schüsse, aber wir hatten uns daran gewöhnt wie an das Hupen vorbeifahrender Autos. Und genauso wenig, wie ich verstand, was da draußen vor sich ging, verstand ich, warum Vater mir ausgerechnet eine Paprikapflanze geschenkt hatte. Sie hatte zwei kleine Paprikaknospen, und ich glaubte, sie würden mich und meinen Zwillingsbruder verkörpern.

Die Bewaffneten kämpften monatelang um unsere Straße, die zwischen dem Meer und der Innenstadt lag, doch Mutter schickte mich trotzdem zur Schule, mich und meinen tauben Zwillingsbruder, der sich auf dem Schulweg aus Angst hinter mir versteckte.

Ich mochte Vaters Geschenk damals nicht, ich fand es anormal und abscheulich und erzählte keinem meiner Mitschüler davon. Trotzdem kümmerte ich mich um die Pflanze, so wie Vater es von mir verlangt hatte. Vater, der eine Reinigung hatte, zeigte mir, wie man die kleinen Knospen mit einem Stück Baumwolle abreibt und mit einer Kerze beleuchtet, damit sie Vitamine bekommen und wachsen. Er machte das ganz vorsichtig. »Du musst die Pflanze gut pflegen, damit sie Knospen bekommt. Dieser Paprikabusch soll dein Freund werden«, sagte er. Durch Vaters Verhalten verstand ich, dass jede kleine Paprikaknospe eine Seele hat, und dass ich sie schützen musste, was immer es kostete. Das war meine kleine unbedeutende Aufgabe im Krieg. Manchmal, wenn die Gefechte heftiger wurden und die Bewaffneten schwere Waffen wie Mörser und RPGs einsetzten, legten sich meine verängstigte Mutter und mein Bruder im Flur zwischen Wohnzimmer, Küche und Badezimmer auf den Boden, während ich mich neben den Fernseher stellte – wo mich die Heckenschützen besonders gut sehen konnten. Ich beleuchtete die dort stehende Paprikapflanze mit einer Kerze, in dem Glauben, dass auch unsere Seelen, die von mir, meinem Bruder, von Vater und Mutter, in den kleinen Paprikaschoten steckten, und dass, wenn ich mich um sie kümmerte, niemand von uns in Gefahr war, getötet zu werden, insbesondere nicht Vater, der erst am Abend nach Hause kommen würde. Auf diese Weise vertiefte sich meine Beziehung zu der Paprikapflanze, und ich begann, sie zu mögen, auch wenn ich sie einmal eine Zeit lang nicht goss, sondern stattdessen anspuckte. Statt ihr Wasser zu geben, trank ich es selbst, denn Mutter sagte immer wieder, dass Wasser knapp sei und die Menschen verdursten würden. Ich bekam Angst und trank das Wasser selbst, denn ich stellte mir vor, dadurch in der Zukunft keinen Durst leiden zu müssen. Außerdem fand ich, dass das Gießen mit meinem Speichel die Paprikapflanze und mich einander noch näher brachte. Bis Mutter mich eines Tages dabei erwischte und es Vater erzählte, als er von der Arbeit kam.

Das war das erste Mal, dass Vater mich mit dem Gürtel schlug. Er war unfassbar wütend, und ich fragte mich: »Verdient das Bespucken der Paprikapflanze wirklich solche Wut?« Ich sah, wie mein tauber Bruder die Augen zukniff und jedes Mal, wenn der Gürtel auf meinen Körper schlug, zusammenzuckte. Als Vater von mir abließ, kroch ich heulend und tränenüberströmt auf die Paprikapflanze zu und versuchte herauszubekommen, in welcher der Schoten die Seele meines Vaters steckte. Es war ganz einfach. Ich wählte die größte Schote aus, riss sie eiskalt ab und zermalmte sie mit dem Fuß.

Grashüpfer


In der Schule prahlten die Kinder mit Geschichten, wie ihre Väter sie geschlagen hätten. Das Schlagen war Ausdruck der Autorität des Vaters in der Familie, denn Stärke war das Wichtigste für uns im Krieg. Mein Vater stand nicht an der Spitze der Hierarchie dieser Väter, er war kein Meister im Erfinden brutaler Strafen. Voller Stolz erzählte ich, dass er mich mit dem Gürtel verprügelt hatte, und als ich nach dem Grund dafür gefragt wurde, log ich und sagte nicht: »Ich habe die Paprikapflanze angespuckt«, sondern ich erfand stattdessen eine Geschichte, die zeigen sollte, dass ich, als wäre ich aus heroischem Holz geschnitzt, etwas äußerst Mutiges getan hatte: »Ich habe das Valium meiner Mutter geschluckt, eine ganze Schachtel. Da hat mein Vater so lange auf mich eingeprügelt, bis ich die Tabletten alle wieder ausgekotzt habe.«

Einige Tage nachdem ich mit meinem Heldenepos geprahlt hatte, erzählte mir ein Mitschüler, mit dem ich befreundet war, dass er beobachtet habe, wie mein Vater auf der Straße verprügelt worden sei. »Er hatte einen braunen Gürtel an«, sagte er, »aber er hat ihn nicht benutzt. Ist das nicht derselbe Gürtel, mit dem er dich verprügelt hat?« »Doch!«, nickte ich, denn Vater besaß nur einen einzigen braunen Gürtel. Der Freund, der das alles gesehen hatte, als hätte er durch einen Guckkasten geschaut, in den man den Kopf hineinstecken muss, beschrieb mir den Gürtel. Als Vater am Abend nach Hause kam, fiel mir auf, dass die Flecken in seinem Gesicht keine Verbrennungen durch Bügeldampf waren. Um herauszufinden, wie weh sie ihm taten, berührte ich den größten Fleck in seinem Gesicht mit dem Finger, während er schlief. Er zuckte vor Schmerz zusammen, drehte, ohne die Augen zu öffnen, sein Gesicht zur Seite und tat, als schliefe er einfach weiter.

In jenem Moment wurde mir bewusst, dass Vaters Seele endgültig aus der Paprikapflanze entwichen war. Ich schimpfte mit mir selbst. Hätte ich nicht die größte Schote abgerissen und mit dem Fuß zerquetscht, wäre Vater nicht so schwach geworden. Und feige. Und das schmerzte mich noch mehr. Danach hat Vater mich nie wieder geschlagen – trotz meiner Versuche, ihn zu provozieren. Mehrmals bespuckte ich in seiner Anwesenheit die Paprikapflanze, doch er reagierte nicht, wie kräftig und geräuschvoll ich auch spucken mochte.

Von da an sprach Vater nicht mehr viel. Die meiste Zeit verbrachte er im Badezimmer, wo er auf dem Badewannenrand saß. Ich spähte durchs Schlüsselloch: Er schien mir wie abwesend, ihm tropfte sogar der Speichel aus dem Mund, ohne dass er es zu bemerken schien. Durch die Tür hindurch flüsterte ich ihm mit zusammengepressten Zähnen zu, wie ein Freund, der ihm einen Rat gibt, während er mit ihm – auf dem Rand einer Badewanne hockend – am Meer sitzt und angelt: »Weine nicht. Nicht weinen …« Und Vater weinte nicht. Deshalb war ich davon überzeugt, dass er noch genügend Standhaftigkeit besaß.

Einige Zeit später waren auf seiner Kleidung Spuren von Fußtritten sichtbar, als er nach Hause kam. Er nahm den Fernseher und stellte ihn unter den Baum vor das Haus. Der Fernseher hatte zwar keinen Defekt, aber Vater wollte, dass alle sähen, dass er nichts mit Politik zu tun habe. Trotz allem ging Vater weiterhin täglich zur Arbeit, denn die Reinigung hatte die Kleidung der Gäste eines großen Hotels zu waschen und zu bügeln. Die meisten Hotelgäste waren ausländische Journalisten, die von weit her gekommen waren, um über den Krieg zu berichten, der in unserer und den benachbarten Straßen tobte.

Dass mein Vater geschlagen worden war, kursierte bald in der gesamten Schule. Ich wurde deshalb als Grashüpfer bezeichnet, weil auch mein Vater ein Grashüpfer sei. Denn Grashüpfer ergreifen stets die Flucht, statt anzugreifen. Um diesen Spottnamen wieder loszuwerden, erfand ich Geschichten, wie mein Vater mich brutal verdrosch. Zum Beispiel fügte ich mir auf dem Schulweg mit Zigaretten Brandwunden auf meinem Arm und meinem Bauch zu, oder ich zerriss meine Schuluniform oder zerkratzte meinen Hals und rieb mir die Augen. Ich ging also morgens vor der Schule eine verlassene Gasse entlang und fügte mir eine gehörige Portion Selbstverletzung zu. Manchmal tat es höllisch weh. Wenn ich in diesem Zustand in die Schule kam, scharten sich die Kinder um mich, und sofort platzte es aus mir heraus, während ich mich wie erschöpft auf das Tor stützte: »Das war mein Vater. Er hat mich wieder geschlagen. Er ist kein Grashüpfer, wie ihr sagt.« Doch bald wurde ich zur Direktorin gerufen. Nachdem sie mich untersucht hatte, sagte sie: »Ich habe das Gefühl, dass du dir das selbst angetan hast«, weil kein Vater seinen kleinen Sohn auf diese Weise am Hals kratzt, wenn er ihn schlägt, oder ihn mit Zigaretten verbrennt und ihn dann in die Schule schickt. Also bestellte sie Mutter ein, die auf der Stelle kam und, sobald wir die Schule verlassen hatten, auf mich einzuschlagen begann – noch in Sichtweite der Schüler, die sich in den Klassenzimmern an die Fenster drückten und hämisch lachten, wie Ratten.

Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl eines Misserfolgs. Ich war bereit, auf alles zu verzichten, etwa auf mein kleines Königreich aus Matchbox-Autos, nur damit Vater zu einer angsteinflößenden Persönlichkeit würde. Ich würde auch meine Spardose knacken, in deren Spalt ich stets meine Träume geflüstert hatte. Ich glaubte nämlich, dass das Hineinflüstern der Träume in den Geldspalt die Spardose in die Lage versetzen würde, alle Träume zu erfüllen. Wenn man der Spardose seine Träume anvertraute, vermehrte diese die Geldsumme, sodass sie dem Preis der Träume angemessen war. Und...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2020
Übersetzer Larissa Bender
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arabien • Bürgerkrieg • Großstadt • Kindheit • Krieg • Naher Osten • Palästina
ISBN-10 3-293-31043-5 / 3293310435
ISBN-13 978-3-293-31043-8 / 9783293310438
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99