Philoktet (eBook)
147 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76099-4 (ISBN)
Philoktet, geschrieben 1958/1964 und uraufgeführt 1968 am Münchner Residenztheater, ist eines der bekanntesten und wichtigsten Stücke des Autors. Diese Ausgabe gestattet den Vergleich mit der ?Vorlage?, auf die Heiner Müller (1929-1995) antwortete: Sophokles' Philoktet, uraufgeführt 409 vor Christus in Athen.
»Die griechische wie die deutsche Version des tragischen Lebens von Philoktet zeigen deutlich, daß die Sprache der Partner des Todes ist. Man hört ihn als ein dunkles musikalisches Branden im Epos, aus dem das Ensemble der großen griechischen Tragödien hervorgeht. Man hört ihn auch, nicht nur in seinem Philoktet, im Ensemble der Stücke von Müller. Wenn es sich nicht um eine Komödie handelt, ist das Theater ein Akt des Tötens - wie der Stierkampf. Das Instrument, das Werkzeug dieser Tötung ist das Wort. Diese Macht zeigt sich nirgends so radikal, so klinisch wie in diesen beiden Werken.« Etel Adnan
<p>Heiner Müller, geboren am 9. Januar 1929 in Eppendorf, Sachsen, war einer der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zudem war er Lyriker, Prosa-Autor und Essayist sowie Präsident der Akademie der Künste Berlin (Ost). Er ist am 30. Dezember 1995 in Berlin verstorben.</p>
Prolog
Darsteller des Philoktet, in Clownmaske.
Damen und Herren, aus der heutigen Zeit
Führt unser Spiel in die Vergangenheit
Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war
Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr.
Und daß wirs gleich gestehn: es ist fatal
Was wir hier zeigen, hat keine Moral
Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen.
Wer passen will, der kann sich jetzt entfernen.
Saaltüren fliegen auf.
Sie sind gewarnt.
Saaltüren zu. Der Clown demaskiert sich: sein Kopf ist ein Totenkopf.
Sie haben nichts zu lachen
Bei dem, was wir jetzt miteinander machen.
Küste.
Odysseus. Neoptolemos.
ODYSSEUS
Das ist der Platz, Lemnos. Hier, Sohn Achills
Hab ich den Mann aus Melos ausgesetzt
Den Philoktet, in unserm Dienst verwundet
Uns nicht mehr dienlich seit dem, Eiter drang
Aus seiner Wunde stinkend, sein Gebrüll
Kürzte den Schlaf und gellte mißlich in
Das vorgeschriebne Schweigen bei den Opfern.
Der Berg ist sein Quartier, sein Grab nicht, hoff ich
Ein Loch, vom Wasser in den Fels gewaschen
In langer Arbeit, als der Fisch bewohnte
Was wir mit trockner Sohle jetzt begehn.
Ein Quell davor. Wenn zehn Jahre einen Quell nicht
Austrocknen. Such mir seine Wohnung. Dann
Hör meinen Plan und was dabei dir zufällt.
NEOPTOLEMOS
Dein Auftrag führt nicht weit.
ODYSSEUS
Leer?
NEOPTOLEMOS
Eine Laubstreu.
Aus rohem Holz ein Trinknapf. Feuersteine.
Lumpen, zum Trocknen an den Wind gehängt
Mit schwarzem Blut.
ODYSSEUS
Die Wunde immer noch.
Er kann nicht weit gehn mit dem alten Schaden
Sucht Nahrung oder Grünzeug das den Schmerz dämpft.
Sorg daß er uns nicht anfällt, lieber ja
Als irgendeinem gibt er mir den Tod.
NEOPTOLEMOS
Mit Grund. Du warst das Eisen das ihn abschnitt.
ODYSSEUS
Sei du das Netz, mit dem ich ihn zurückfang.
NEOPTOLEMOS
Dein Wort hat weite Maschen. Was verlangst du?
ODYSSEUS
Daß du in unsrer Sache dich nicht schonst.
NEOPTOLEMOS
Das Leben zu behalten leb ich nicht.
ODYSSEUS
Noch andres das dir mehr sein mag als Leben.
Schwatz ihm den Bogen aus der Hand, mit Pfeilen
Schickt er mein Wort zurück in meinen Mund
Du hattest keine Hand in seinem Unglück
Nicht dein Gesicht auf unsern Schiffen sah er
Leicht mit gespaltner Zunge fängst du ihn
Leicht schleppen wir aufs Schiff den Waffenlosen.
NEOPTOLEMOS
Zum Helfer bin ich hier, zum Lügner nicht.
ODYSSEUS
Doch braucht es einen Helfer hier der lügt.
NEOPTOLEMOS
Vielleicht kann Wahrheit mehr.
ODYSSEUS
Bei dem nicht unsre.
NEOPTOLEMOS
Was kann er gegen zwei auf einem Fuß?
ODYSSEUS
Solang er seinen Bogen hat, zu viel.
NEOPTOLEMOS
Laß uns mit Pfeilen kreuzen seinen Pfeil.
ODYSSEUS
Wer folgt dem toten Feldherrn in die Schlacht?
NEOPTOLEMOS
Der Pfeil auf unsrer Sehne hält vielleicht
Im Köcher seinen Pfeil.
ODYSSEUS
Mehr als sein Leben
Gilt unser Tod ihm, und kein Leben ist
Auf Lemnos, das der Krieg nicht braucht vor Troja.
NEOPTOLEMOS wirft seinen Speer weg.
Mit nackten Händen zieh ich ihn aufs Schiff.
ODYSSEUS nimmt den Speer auf.
Sei wo du willst kühn, klug brauch ich dich hier
Und wenig nütz ist mir des Toten Schläue.
Lern das von mir eh dich sein Pfeil belehrt.
Dein letzter Gang wärs, Narr, ließ ich dich gehn.
NEOPTOLEMOS
Laß mir den Gang, so laß ich dir die Furcht.
ODYSSEUS
Wenn du noch einen Schritt gehst nagl ich dich
Mit deinem eignen Speer an diese Insel.
Und Herakles erscheint dir nicht wie dem
Den der beraubte Gott an sein Gebirg schlug
Zu dauernder Gesellschaft seinen Vögeln
Nicht von der Art die nachwächst ist dein Fleisch
Dich werden ganz vom Stein die Geier pflücken.
NEOPTOLEMOS
Viel hohen Mut dem Waffenlosen zeigst du.
ODYSSEUS
Ich zeig dir, was der Waffenlose kann.
NEOPTOLEMOS
Mit meinem Speer. Und nicht zum erstenmal
Seh ich in deinen Händen meins, geschickt
Zum Diebstahl, und an mir besonders, sind die
Mit Recht nicht trägst du, was mein Vater trug
Als er noch Hände hatte, sie zu brauchen
Das viel beschriene Erz, die narbige Stierhaut.
Gib mir von meinen Speeren einen wieder
Ich zeig dir, was ich kann mit einem Speer.
ODYSSEUS
Zeig mirs zu andrer Zeit am andern Ort.
Auch hab ich deinen Speer schon rot gesehn
Und zweifle nicht an deiner Kunst im Schlachten.
Ich brauch dich lebend und noch brauchst du mich so.
Mit tausend Speeren ist mein Speer begabt
Vom Zufall der Geburt, mit tausend deiner
Und tausend Speere sind mit dem behalten
Oder verloren, wenn du mir versagst.
Das wars warum ich dich nach Troja schleppte
Von Skyros weg, eh du das Leben schmecktest
Nach deines Vaters uns zu zeitigem Tod
Als seine Mannschaft weigerte die Schlacht
Auf seinem Hügel saufend seinen Wein
Und seine Weiber teilend, lang entbehrt
Das eine wie das andre überm Schlachten
Für seinen Ruhm und Mehrung seiner Beute.
Wer hat ihm Hektor auf den Speer gesteckt?
Wir brauchten dich, sie in die Schlacht zu haun
Wie wir den brauchen jetzt für seine Mannschaft.
Nicht deinen Arm, zum Schlachten ungeschickt
Nicht seinen Arm, allein uns wenig brauchbar
Denn williger geht der Mann in seinem Blut
Unter dem Fuß der kommt im heimischen Leder.
Dein Erbe trag ich nicht zu meinem Ruhm
Sondern im Kampf um deines Vaters Leichnam
Sterbend für Totes, ging das meiste Blut
Aus meiner Mannschaft, und die Narben brannten.
Und brennen nicht mehr, seit sie mich behängt sehn
Mit deinem Erz zum Lohn für ihre Wunden.
Setz ich den Fuß aufs Festland ohne den
Kehrt seine Mannschaft unserm Krieg den Rücken
Der Troer wäscht sich weiß mit unserm Blut
Mästet mit unserm Fleisch die heimischen Geier.
Zum Dieb und Lügner bist du schlecht begabt
Ich weiß es. Süß aber, Sohn Achills, ist der Sieg.
Drum einen Tag lang, länger brauchts nicht, schwärz
Die Zunge, dann in Tugend wie du willst
Solang sie dauert, leb du deine Zeit.
Ins Schwarze gehn wir alle, weigerst dus.
NEOPTOLEMOS
Aus faulem Grund wächst wohl ein Gutes nicht.
ODYSSEUS
Eins ist der Grund, ein andres ist der Baum.
NEOPTOLEMOS
Den Baum nach seiner Wurzel fragt der Sturm.
ODYSSEUS
Den Wald nicht fragt er.
NEOPTOLEMOS
Den das Feuer...
Erscheint lt. Verlag | 17.6.2019 |
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Nachwort | Wolfgang Storch |
Übersetzer | Wolfgang Schadewaldt |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Altes Griechenland • Antike • Bibliothek Suhrkamp 1402 • BS 1402 • BS1402 • Bühne • Deutschland • Drama • Dramatiker • Einfluss • Heiner Müller • Müller • Ostdeutschland DDR • Philoktet • Rezeption • Schauspiel • Sophokles • Theater • Tragödie • Vorlage |
ISBN-10 | 3-518-76099-8 / 3518760998 |
ISBN-13 | 978-3-518-76099-4 / 9783518760994 |
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