Das Kino am Jungfernstieg - Der Filmpalast (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
400 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-22943-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Kino am Jungfernstieg - Der Filmpalast - Micaela Jary
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
1944: In den Babelsberger Filmstudios passiert ein Unglück mit fatalen Folgen. Sieben Jahre später: Der internationale Filmstar Thea von Middendorff kehrt zur Eröffnung der Berliner Filmfestspiele nach Deutschland zurück - jene Frau, die für das Unglück damals verantwortlich war, was sie aber zu verheimlichen wusste. Auf ihrer Spur befindet sich der britische Journalist John Fontaine, der Thea von Middendorff nun mit einem Interview kompromittiert. Das bringt wiederum die Hamburger Kinobesitzerin Lili Paal auf den Plan, die ebenfalls von der alten Geschichte weiß - und in die Fontaine hoffnungslos verliebt war...

Micaela Jary stammt aus Hamburg und wuchs im Tessin auf. Sie arbeitete lange als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Nach einem langjährigen Aufenthalt in Paris lebt sie heute mit Mann und Hund in Berlin und München. Zum Schreiben begibt sie sich aber auch in ein kleines Landhaus nahe Rostock.

Hamburg

Februar 1951

1

Ihre Augen brannten, ihre Lider waren schwer, und hinter ihren Schläfen zuckten Blitze wie Leuchtfeuer einer bevorstehenden Migräne. Es waren die typischen Zeichen von Überarbeitung, die Lili Paal zusetzten. Sie brauchte nicht auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, dass ihre Abendschicht dem Morgengrauen entgegenging und sie längst Überstunden machte.

Zimperlich oder gar müde durfte eine Cutterin bei der Neuen Wochenschau nicht sein, ein pünktlicher Dienstschluss gehörte nicht zu den Gepflogenheiten ihres Berufs. Vor allem die Nacht vor der Abnahme der Beiträge war lang, nervenaufreibend, anstrengend – und häufig auch aufregend. Immerhin setzte Lili als Schnittmeisterin die neuesten Nachrichten und Reportagen aus aller Welt zu einem insgesamt etwa zwanzig Minuten langen Bericht zusammen, der wöchentlich aktualisiert vor dem Hauptfilm über die Leinwand der Kinos flimmerten. Auf zu viel Politik wurde dabei verzichtet, die Kontrolleure der Alliierten muteten den Deutschen nicht zu viel davon zu. Aber es gab genügend andere Berichte, sodass die Stunden am Schneidetisch für Lili dahinflossen wie Wasser durch Stromschnellen.

Meist wurde sie sogar von den Dokumentationen gefangen genommen wie eine Kinobesucherin, doch verbarg sie ihr persönliches Interesse hinter ihrer Professionalität. Trotz ihrer beginnenden Migräne starrte sie konzentriert auf den Bildschirm, lauschte der Tonspur, die neben dem Filmstreifen über den jeweiligen Metallteller lief, und stellte die Synchronisation zwischen Sprache und Lippenbewegungen her. Dann markierte sie die Szenen. Es war ein Bericht über den Koreakrieg, über die Besetzung Seouls durch das chinesische Militär, den Rückzug der UN-Streitkräfte und das eisige Wetter in Ostasien, das weitere Offensiven durch die unter amerikanischer Führung stehenden westlichen Truppen verhinderte. Die Erinnerung an den noch gar nicht so lange zurückliegenden Weltkrieg berührte Lili. Ihr Nacken schmerzte, weil sie angespannt und fast verbissen weiterarbeitete, während die Bilder sie fesselten. Dagegen war die sich anschließende Reportage über die prunkvolle Hochzeit des Schahs von Persien, Mohammad Reza Pahlavi, mit Soraya Esfandiary so aufmunternd wie das Stück Traubenzucker, das sie geistesabwesend aus dem Päckchen neben sich gegriffen hatte und auf der Zunge zergehen ließ.

»Lili!« Walter Bachmann, heute Nachtchef vom Dienst und für die aktuelle Redaktion zuständig, trat in den Schneideraum und schlug die Glastür mit übertriebener Munterkeit hinter sich ins Schloss, sodass es leise klirrte. »Aufwachen!« Er grinste sie an. »Gerade ist ein Bericht aus Berlin eingetroffen, den wir unbedingt noch unterbringen müssen. Der Fahrer brauchte so lange, weil sich ein VoPo an der Zonengrenze aufspielte, als wäre er Ulbricht höchstpersönlich.«

»Was sagt der Regisseur?« Während sie die Bedienungsknöpfe ausschaltete, gähnte sie verstohlen.

»Der kommt gleich. Wir müssen das Material erst mal sichten …«

Walter tätschelte in einer Mischung aus Freundschaftlichkeit und Verständnis kurz ihre Schulter. Sie ließ es sich gefallen, weil sie sicher war, dass er nicht mit ihr flirtete. Dabei war er ein netter Mann in ihrem Alter und nicht unattraktiv, Anfang dreißig, dunkelblonde Locken, braune Augen in einem markanten Gesicht. Er war als Kriegsreporter eingezogen worden, aber ziemlich bald in Gefangenschaft geraten. Zwar sprach er nie über seine Zeit als Soldat, wohl aber über die Möglichkeiten, die ihm die amerikanische Gefangenschaft eröffnet hatte, weil er auf diese Weise völlig neue Ansätze seines Jobs kennenlernte. Mit dem war er inzwischen wie verheiratet, eine Ehefrau gab es in Walters Leben nicht.

»Über welche Sensation wird denn berichtet?«, warf sie matt ein. Es musste sich schon um ein spektakuläres Ereignis handeln, wenn sie sich deshalb klaglos auch noch den Rest der Nacht um die Ohren schlagen sollte.

»Es geht um den Beschluss des West-Berliner Senats, einen Arbeitsausschuss zur Organisation von Filmfestspielen zu ernennen.« Walter ließ sich auf dem Stuhl neben ihr nieder und plauderte weiter, die Film- und Tonrollen in Dosen aus Metall auf den Knien. »Das Festival soll bereits diesen Juni stattfinden. Dazu haben wir ein paar Stimmen von Korrespondenten aus Paris, London und Los Angeles. Das ist eine runde Kulturreportage …«

Lili nickte geistesabwesend. Sie hatte in den vergangenen Monaten immer wieder davon gehört, dass Filmoffiziere der britischen und amerikanischen Besatzungsmächte sowie deutsche Produzenten und Journalisten eine sogenannte Film-Olympiade für West-Berlin forderten, die in der Tradition der Filmfestspiele von Venedig und Cannes stehen sollte. Diesen Nachrichten hatte sie allerdings keine besondere Bedeutung beigemessen, da sich die in vier Sektoren aufgeteilte alte Hauptstadt in einem ganz erbärmlichen Zustand befand, schlimmer noch als die zerbombten Städte in Westdeutschland, viel deprimierender als Hamburg, wo ein fast atemberaubender ehrgeiziger Wille zum Wiederaufbau herrschte. Es war für Lili, die den Krieg über in Berlin gelebt hatte, unvorstellbar, dass in einem der West-Sektoren der alte Glanz der Filmmetropole wiederauferstehen könnte. Allerdings pflegte sie Hintergrundinformationen über die Filmwelt grundsätzlich nicht so wichtig zu nehmen, die Erinnerung an ihre eigene Tätigkeit für die Ufa schmerzte noch immer zu sehr.

Seit etwa viereinhalb Jahren war sie raus aus der Branche. Da war zunächst der schwere Autounfall gewesen, den sie nur knapp überlebt hatte, die langwierigen gesundheitlichen Folgen, dann der Tod ihrer Mutter und schließlich die erzwungene Aufgabe des Kinos am Jungfernstieg, das einst ihr Vater gegründet hatte, die ihr Leben von Grund auf veränderten. Es war wie ein Puzzle, das ohne ihr Zutun mit dem letzten Teilchen zu einem Stoppsignal zusammengesetzt worden war. Obwohl sie es anfangs anders gewollt hatte, schien ihre Zeit als Cutterin von Spielfilmen seit jenem Dezembertag 1946 vorbei.

Ihre Hoffnung, sich als Fotografin eine berufliche Existenz aufzubauen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil sie sich die technischen Mittel dafür nicht leisten konnte. Ihr Mann verdiente zwar als Musiker nicht schlecht, aber es war nicht so viel, dass er ihr damit eine moderne Ausrüstung hätte kaufen können; außerdem weigerte sich ihre Halbschwester Hilde, bei der sie wohnten, ihr einen Raum als Dunkelkammer zur Verfügung zu stellen. So verliefen Lilis Ambitionen im Sande.

Als die erste bundesdeutsche Nachkriegswochenschau »Blick in die Welt« in Hamburg gegründet wurde, war das wie ein Glücksfall. Sie konnte in ihrem erlernten Beruf arbeiten, ohne an die Vergangenheit anzuknüpfen. Deshalb unterschlug sie bei ihrer Bewerbung den Hinweis, dass es sich bei ihr um die durchaus angesehene und bekannte Cutterin Lili Wartenberg handelte, weil sie auch ihren Mädchennamen mit ihrer Mutter begraben hatte. Vielmehr behauptete sie, ihre persönlichen Dokumente wie etwa Arbeitszeugnisse seien in den Kriegswirren verloren gegangen, und hoffte darauf, ihren künftigen Arbeitgeber mit Leistung zu überzeugen. Da fehlerhafte oder mangelnde Papiere bei Bewerbungen heutzutage nicht ungewöhnlich waren, wurde sie eingestellt. Nach einer Probezeit fühlte sie sich inzwischen in dem neuen Metier ebenso zu Hause wie in dem alten. Nur manchmal, wenn die Rede auf die Filmwirtschaft kam, versetzte es ihr einen kleinen Stich. Zu sehr hatte ihr Herz einst daran gehangen.

»Lili? Hörst du mir eigentlich zu?«

»Nein …«, entfuhr es ihr. Sie nahm sich zusammen und korrigierte sich rasch. »Ja. Natürlich. Was denkst du von mir? Ich bin ganz Ohr.« Himmel, stöhnte sie in Gedanken auf, worüber hatte Walter Bachmann geredet? Deshalb fügte sie mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu: »Ich habe nur nicht alles richtig mitbekommen.«

Er legte ein Blatt mit handschriftlichen Notizen, das zwischen den Filmdosen geklemmt hatte, auf den Schneidetisch. »Das Manuskript, das mitgeschickt wurde, ist ein bisschen provisorisch, aber wir kriegen das schon hin … Schau mal, wir haben hier O-Töne von dem amerikanischen Filmoffizier Oscar Martway und seinem britischen Kollegen George Turner, beide erzählen etwas über ein Schaufenster der westlichen Kultur, das die Filmfestspiele in Berlin werden sollen. Dazu haben wir Bilder vom Schöneberger Rathaus, dem Sitz des Senats von West-Berlin, und dem Amerika-Haus in der Kleiststraße, wo das neue Organisationskomitee tagen soll. Außerdem … warte mal«, er drehte das Papier wieder zu sich, beugte sich darüber und fuhr fort: »Außerdem haben wir die Erklärungen des künftigen Festivaldirektors Alfred Bauer und des Journalisten Manfred Barthel, der neben einigen anderen dem neu installierten Ausschuss angehört, sowie Kommentare des Korrespondenten der Los Angeles Times, der BBC, von Le Monde und Corriere della Sera …«

»Ich verstehe«, erwiderte Lili, die nun tatsächlich voll bei der Sache war.

»Wenn die Zeit nicht reicht, können wir das eine oder andere Interview kürzen oder streichen. Auf jeden Fall sollen wir den Kollegen aus London zu Wort kommen lassen. Hier stehen drei Ausrufezeichen neben seinem Namen. Er ist wichtig, weil sein Vater vor der Emigration nach England ein bekannter Filmproduzent in Berlin war und er selbst nach dem Krieg irgendeine Position in der Film Section bekleidete.« Er tippte auf die handschriftlichen Anweisungen. »Du findest John Fontaine im Material bei Sekunde vier…«

Lili erstarrte. »Wen?«

»Vierundvierzig«, vollendete der...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2021
Reihe/Serie Die Kino-Saga
Die Kino-Saga
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • eBooks • Familiensaga • Filmfestspiele Berlin • Filmproduktion • Frauenroman • Frauenromane • Fünfzigerjahre • Ku'damm 56 • Liebesromane • Mademoiselle Coco • Michelle Marly • Nachkriegsdeutschland • Nachkriegskarriere von Nazis • Romane für Frauen • Titania Filmpalast • Vierzigerjahre • Wiederaufbau
ISBN-10 3-641-22943-X / 364122943X
ISBN-13 978-3-641-22943-6 / 9783641229436
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99