Wallace (eBook)

Roman

(Autor)

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2019 | 2. Auflage
264 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6151-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wallace -  Anselm Oelze
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Frühjahr 1858: Ein Brief verlässt eine kleine Insel in den Molukken. Sein Ziel ist Südengland, sein Inhalt: ein Aufsatz über den Ursprung der Arten. Kaum ein Jahr später sorgt die Schrift für Aufsehen und wird bekannt als Theorie der Evolution. Doch nicht der Verfasser des Briefes, der Artensammler Alfred Russel Wallace, erntet den Ruhm dafür, sondern sein Empfänger, der Naturforscher Charles Darwin. Von Wallace bleibt lediglich eine nach ihm benannte Trennlinie der Arten im Malaiischen Archipel.Einhundertfünfzig Jahre später stößt der Museumsnachtwächter Albrecht Bromberg auf das Schicksal des vergessenen Wallace. Er begibt sich auf seine Spuren und je länger er mit Wallace unterwegs ist, desto mehr zweifelt Bromberg an, ob alles so bleiben muss, wie es ist. Er fasst einen Plan, der endlich denjenigen ins Licht rücken soll, der bisher im Dunkeln war, und erkennt: Geschichte wird nicht gemacht, sondern geschrieben.Mit seinem Debüt ist Anselm Oelze ein philosophischer Abenteuerroman gelungen, ein literarisches Denkmal für die Außenseiter des Lebens und der Geschichte.

Anselm Oelze geboren 1986 in Erfurt, studierte Philosophie in Freiburg und Oxford. 2019 erschien sein Roman Wallace, mit dem er für den Debütpreis der lit.COLOGNE nominiert war. Für seine literarische Reportage Die Grenzen des Glücks erhielt er den Literaturfestpreis Meißen 2021. Er lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in Leipzig.

"Anselm Oelze, geboren 1986 in Erfurt, studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Philosophical Theology in Freiburg und Oxford. Nach seiner Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin forschte und lehrte er an der Universität Helsinki und an der LMU München. 2019 erschien bei Schöffling & Co. sein Debütroman "Wallace", mit dem er für den Debütpreis der lit.COLOGNE nominiert war. Er lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in Leipzig."

Erstes Kapitel

In welchem dem Nachtwächter Albrecht Bromberg ein Buch auf die Füße fällt und die Geschichte ihren Lauf zu nehmen beginnt

Selbst die größten Umwälzungen der Geschichte beginnen bekanntlich mit einer Kleinigkeit. Und selbst die kleinste Kleinigkeit ist kaum klein genug, um nicht doch am Ende eine große Wirkung zu zeitigen.

So war es auch an diesem Morgen, als der Nachtwächter Albrecht Bromberg gegen fünf Uhr die Bibliothek des Museums für Natur- und Menschheitsgeschichte betrat. Wie immer schaltete er zunächst das Licht ein. Die Lampen auf den Tischen zuckten und flackerten, bevor sie vollends zu leuchten begannen, so als hätte man sie unsanft aus seligem Schlaf gerissen. Bromberg stöhnte leise, weil wie so oft auf etlichen Plätzen Bücher verstreut lagen, die faule Leser dort zurückgelassen hatten, anstatt sie zu den dafür vorgesehenen Wagen zu bringen. Er ging durch die Reihen, sammelte ein Wörterbuch des Elamitischen, einen Kommentar zum Codex Iustinianus, eine Studie zum Eheverständnis Dionysius des Kartäusers, einen Abriss über die Geschichte der Zugvögel Zentralasiens, ein Heft über Dampfmaschinen in Neuengland, eine Synopse der vier Evangelien sowie ein Buch ohne erkennbare Beschriftung ein. Dann bahnte er sich bis unters Kinn beladen einen Weg zwischen den Stühlen und Tischen hindurch.

Kurz vor der Theke – er war nur einen Moment lang unachtsam – blieb sein rechter Fuß unter dem welligen Saum des Läufers hängen, der quer durch den Lesesaal verlief. Bromberg stolperte, taumelte, wollte sich fangen, verlor jedoch den Halt und landete der Länge nach, die schweren Bände in alle Richtungen werfend, auf dem Boden. Fluchend und mit schmerzenden Knien tastete er nach seiner Brille.

Wäre genau in diesem Moment jemand zu ihm getreten, um ihm zu verkünden, dass dieser scheinbar bedeutungslose Stolperer sein Leben, ja nicht nur sein Leben, sondern auch das Leben anderer und den Lauf der Dinge insgesamt verändern sollte, er hätte nur verächtlich abgewinkt, wäre aufgestanden und davongegangen.

Seit jeher, das heißt, seit jenem Tag, an dem Bromberg als Nachtwächter im Museum zu arbeiten begonnen hatte, war der Ablauf seines Rundgangs stets der gleiche. Nur selten störte ein unvorhergesehenes Ereignis seinen gewohnten Trott. Vor einer Weile hatte sich ein Marder Zugang zu einem der Kabelschächte verschafft und dadurch einen Feuerwehrgroßeinsatz ausgelöst, weil plötzlich allerorten Rauchmelder Alarm schlugen, aber nirgends ein Brand auszumachen war. Erst als der Marder einige Tage später den verblüfften Museumsdirektor höchstpersönlich morgens in seinem Büro begrüßte und gänzlich unerschrocken an einem Stück Schinkenspeck nagte, das der adipöse Direktor, um der strengen Diät seiner Gattin zu entkommen, in einer Schublade seines Schreibtischs versteckt hatte, war die Ursache des Alarms gefunden, wenngleich der Direktor sich zierte zuzugeben, was den Marder in sein Büro gelockt haben mochte.

Ein anderes Mal hatte sich ein Zehnjähriger unbemerkt von seiner Schulklasse davongestohlen und bis zur Schließung des Gebäudes im Halbdunkel hinter einer Vitrine ausgeharrt. Punkt Mitternacht, als der Lärm der Tagesbesucher längst verklungen war und die Luft vollends rein schien, war er schließlich hervorgekrochen und dem Skelett des großen Brachiosaurus wie Siegfried dem Drachen entgegengetreten, mit dem Ergebnis, dass Bromberg ihn schon kurze Zeit später auf dem wackeligen Kniegelenk des riesigen Sauriers sitzend fand, laut wimmernd wie eine kleine, unerfahrene Katze, die einen hohen Baum zwar zu erklimmen, aber nicht wieder zu verlassen gewusst hatte. Seitdem musste Bromberg jede Nacht, wenn er die Galerie der Giganten betrat und die gewaltige Echse erblickte, daran denken, welch jämmerlichen und belustigenden Anblick zugleich der kleine Junge damals geboten hatte.

Die Galerie mit ihren naturgeschichtlichen Sammlungen, die den westlichen Trakt des Museums vollständig einnahm, war so groß wie das Langhaus einer mächtigen Kathedrale. Auch sonst glich sie in Form und Bauweise, mit ihren wuchtigen Säulen aus Stein, den bunt gegossenen Fenstern aus Bleiglas und dem Kreuzrippengewölbe, wie überhaupt das ganze Gebäude, eher einem Gotteshaus als einem Museum.Als Bromberg vor vielen Jahren zum ersten Mal die imposante Halle betreten hatte, meinte er, auf den Sockeln am Fuße der Säulen die Gesichter von Bibelvätern, Propheten, Kirchenlehrern und Heiligen auszumachen. Bei näherer Betrachtung jedoch stellte sich heraus, dass an ihre Stelle die ehrenwerten Köpfe der weltlichen Wissenschaften und großen Erfindungen getreten waren – Aristoteles, Hippokrates, Euklid, Galileo, Bacon, Newton, Leibniz, Watt, Linnaeus, Darwin und andere –, die nun mit versteinerten Mienen auf das kunterbunte Sammelsurium blickten.

Unter dem alles überspannenden Glasdach war auf mehreren Etagen ein Panoptikum der Lebewesen versammelt, welche die Natur im Laufe von Jahrmillionen hervorgebracht hatte. In mannshohen Gläsern schwammen giftige Vipern, Nesselquallen und Skorpione. Daneben standen ausgestopfte Sperber, Geier, Finken und Dohlen. Einen halbierten Elefantenschädel hatte man samt Haut und Haaren in Formaldehyd eingelegt. In Vitrinen und Schaukästen steckten die leblosen Leiber unzähliger Fliegen, Libellen, Wespen und Schaben. Unter Vergrößerungsgläsern lagen winzige Pfeilwürmer, Muschellarven und Krebstiere. Die riesigen Knochengerüste der Saurier teilten sich den Raum mit skelettierten Walen, Haien und Delfinen. In den Boden waren steinerne Platten mit fossilen Riesenfarnen eingelassen. An den stählernen Rippen des Daches hingen lebensgroße Nachbildungen von Pelagornis und Archäopteryx.

Brombergs Eindruck, man habe in diesem Dom die gesamte Ladung der Arche Noah versammelt, tat der alte, bucklige Kurator beim ersten Rundgang mit den Worten ab, die überforderten Taxonomen kennten auch nach Jahrhunderten des Sammelns, Vergleichens und Benennens noch nicht einmal ein Zehntel all dessen, was die Erde bevölkere, weshalb wohl noch mehrere Sintfluten vorübergehen müssten, bis auch nur annähernd alle Spezies aus dem Dunkel des Erdreichs, aus dem Dickicht der Wälder und den Untiefen der Ozeane heraufbefördert und so geordnete Zustände wie auf dem biblischen Boot hergestellt wären.

Tatsächlich war es um die Ordnung der Dinge im Hause nicht gerade bestens bestellt. Zwar folgte die Nomenklatur wie üblich dem bewährten Universalschema des Linnaeus, doch abseits dessen herrschte Systematik nur in den Augen des unbedarften Betrachters. In Wahrheit war fast jede Direktorengeneration ihrem eigenen Gutdünken gefolgt, wenn es galt, das Ausgestellte in Reih und Glied zu bringen.

Dem ersten Direktor erschien es einleuchtend, die Lebewesen entsprechend der Schöpfungstage zu arrangieren, und so hatte man zunächst Gräser, Kräuter und Bäume, darnach Wasserwesen, Fische und Vögel, anschließend Vieh, Gewürm und Feldgetier sowie schlussendlich den Menschen ausgestellt. Allerdings monierte der zweite, dass, wenn man der Heiligen Schrift folge, man leicht den gleichen Fehler wie Adam begehe, der nur den Vögeln, den Feldtieren und den Viechern Namen gegeben hatte. Daher schlug er vor, den Aufbau der Welt im Großen zum Aufbau des Hauses im Kleinen zu machen, ergo im Untergeschoss die Bewohner des Wassers und des Bodens zu präsentieren, zu ebener Erde sämtliche Tiere des Landes und auf den Emporen darüber, was in Sträuchern, Bäumen und Lüften fleuchte, damit nichts übersehen und vergessen werde.

Dem dritten gefiel diese Anordnung in der Vertikalen, doch überlegte er, ob nicht weniger das Vorkommen als vielmehr der Grad an Perfektion für eine Klassifikation entscheidend sei. Er begann, die Lebensformen wie auf einer Stufenleiter aufzustellen. Allerdings blieben seine Bemühungen auf halbem Wege stecken, weil unter den Helfern ein Streit entbrannte, welchen Merkmalen und Eigenschaften bei der Einteilung mehr Gewicht zukommen solle als anderen. Die Honigbiene, so argumentierten einige, beweise mit ihrem formvollendeten Bau hexagonaler Waben doch ebenso viel mathematischen Verstand wie der Mensch. Und der Luchs, meinten andere, übertreffe den Menschen an Sehsinn, weshalb man unmöglich behaupten könne, es sei der Mensch als Krone der Schöpfung längst ausgemacht.

Der sechste Direktor (Nummer 4 und 5 waren, gezeichnet von den Querelen ihres Vorgängers, angstvoll vor jeglicher Initiative zurückgeschreckt) fühlte sich zum flammenden Verfechter der geologischen Zeiteinteilung in Äonen, Ären, Perioden, Epochen und Alter berufen. Daher spielte es für ihn keine Rolle, ob ein Lebewesen der Schrift nach am zweiten oder dritten Tage erschaffen worden war, ob es zu Wasser, zu Land oder zu Luft lebte, ob es besser oder schlechter rechnen und sehen konnte. Was zählte, war sein erdgeschichtliches Erscheinen. Funde des Kambriums und Ordoviziums mussten in möglichst großer Entfernung von den Exponaten aus Jura und Kreide aufgestellt werden, weshalb er seinen verdutzten Sammlungsverwaltern auftrug, Jüngeres von Älterem zu trennen, woraufhin seine Ägide den Spöttern nach als Kataklysmus in die Annalen des Museums einging.

Auch sein Nachfolger sorgte nicht minder für geschäftiges Treiben, indem er beschloss, gebührendes Augenmerk auf die geographische Herkunft der Lebewesen zu legen. Es sei nicht nur das Wann, sondern auch das Wo des Auftretens von entscheidendem Wert, wenn nicht sogar am wichtigsten, betonte er und erklärte, versteinerte Gürteltiere aus der Pampa Südamerikas dürften nicht neben den mit Holzwolle gefüllten Orang-Utans Südostasiens landen. Seine Ordnung folgte nicht nur den...

Erscheint lt. Verlag 5.2.2019
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuerroman • Alfred Russel Wallace • Biologie • Charles Darwin • Debüt • Entdeckung • Evolution • Evolutionstheorie • Forschung • Historischer Roman • Humboldt • Museum • Nachtwächter • Nature writing • Rivalen • Schicksal • Über die Entstehung der Arten • Vermächtnis • Wissenschaft • Zufall
ISBN-10 3-7317-6151-3 / 3731761513
ISBN-13 978-3-7317-6151-8 / 9783731761518
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