Spaziergänger Zbinden (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
192 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31004-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Spaziergänger Zbinden -  Christoph Simon
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Am Arm des Zivildienstleistenden Kâzim begibt sich der 87-jährige Lukas Zbinden auf einen Streifzug durchs Seniorenheim. Treppe um Treppe, Stockwerk um Stockwerk zieht es den leidenschaftlichen Spaziergänger Zbinden hinaus auf die Wege, auf denen er ein Leben lang an der Seite seiner Emilie dem Sinn des Lebens nachgespürt hat. Der sanftmütige und geistreiche Mann will seinem Begleiter die Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens anvertrauen. Er erzählt die stille, herzbewegende Geschichte der Liebe zu seiner verstorbenen Emilie. Eine hinreißende Liebesgeschichte.

Christoph Simon (*1972) ist Schriftsteller, Kabarettist und Slam-Poet. Er ist zweifacher Schweizermeister im Poetry-Slam und wurde zweimal mit dem Literaturpreis des Kantons Bern sowie mit dem Prix Trouvaille ausgezeichnet. Christoph Simon ist Preisträger des Salzburger Stiers 2018, dem renommiertesten Kleinkunstpreis im deutschen Sprachraum. Er lebt in Bern.

Christoph Simon (*1972) ist Schriftsteller, Kabarettist und Slam-Poet. Er ist zweifacher Schweizermeister im Poetry-Slam und wurde zweimal mit dem Literaturpreis des Kantons Bern sowie mit dem Prix Trouvaille ausgezeichnet. Christoph Simon ist Preisträger des Salzburger Stiers 2018, dem renommiertesten Kleinkunstpreis im deutschen Sprachraum. Er lebt in Bern.

 


Zum Mittagessen? Milchsuppe mit Geschlechtsorganen. Jedenfalls behauptete Herr Hügli, es seien welche. Tierischer Herkunft. Er fischte sie aus dem Teller und legte merkwürdige Muster auf den Tisch, bis er Ärger mit Frau Grundbacher und Frau Wyttenbach bekam. – Auf dem Nachttisch? Stimmt, diese Fotografie stand bisher nicht da, dein Scharfblick ist unvergleichlich. Auch Pflegerin Lydia fiel sie sofort auf, als sie gestern mit Regenjacke und Regenschirm in mein Zimmer platzte, parat für unseren Spaziergang, gewappnet gegen jede Form von Niederschlag. Ungefragt nahm sie die Fotografie in die Hand, um sie genauer zu betrachten.

»Ein so fröhliches Paar!«, rief sie mit glänzenden Apfelbäckchen. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung über die gemachte Entdeckung. »Wo ist das? Ist das Ihre Frau? Wie das Bild zweier Filmstars!«

»In diesem Teich brachte sie mir das Schwimmen bei.« Ich nahm ihr den Schnappschuss aus der Hand. »Unser Sohn hat das Foto gemacht, er war damals zehn, vielleicht elf.«

»Ich wollte nicht schnüffeln«, entschuldigte sich Lydia. »Nur habe ich das Foto noch nie bei Ihnen gesehen, und als ich es da stehen sah, nun, Ihre Frau und Sie scheinen so …«

Sie beendete den Satz nicht, stattdessen rückte sie den Hocker heran, setzte sich zu mir ans Fenster und ergriff meine Hände. Und weißt du, was ich fühlte? Ich fühlte dich, deine Wärme, Lydias Hände ähneln deinen, und ich erzählte ihr von uns beiden, von unseren halsbrecherischen Ausflügen und verwegenen Schwimmabenteuern. Wie wir unter den Bäumen an diesem Teich entlanggingen, dem Ufersaum folgend, bis uns niemand mehr sehen konnte. Der Teich lag im Schatten der Bäume, die Sonne stand tief. Wir zogen uns bis auf die Unterwäsche aus und wateten ins Wasser. Du hattest das Haar auf dem Kopf mit Klammern zusammengesteckt, unser Sohn jagte Frösche am Ufer, um Pfeilgift zu gewinnen. Du schwammst durch den Teich und zeigtest mir, wie man sich bewegen musste. Dann hieltest du mich auf deinen Armen im Wasser, und ich übte das Ertrinken. Nach einer Weile hatte ich den Trick heraus und konnte einen halben Meter weit schwimmen, ehe ich unterging.

»Die Hauptsache ist, dass du keine Angst hast«, sagtest du.

Wir gaben uns die Hand und stiegen aus dem Wasser, weil es zu dämmern begann. In dem Moment schoss Markus das Foto.

Pflegerin Lydia hörte lächelnd zu, als ich ihr erzählte, dass wir uns vier Jahre lang jeden Tag geschrieben haben – »Wie geht es dir? Mir geht es gut«, und du schreibst zurück: »Verlobter, mir geht’s auch gut, und aus all deinen Briefen weiß ich, dass es dir gutgeht. Hättest du etwas dagegen, mir zur Abwechslung einen richtigen Brief zu schreiben?«

Lydia nickte teilnahmsvoll, als ich von deinem Verehrer aus dem Vogelbeobachtungskurs erzählte und dem Gewitter, das deswegen in mir tobte. Ich erzählte, wie schweigsam ich einen endlosen Tag lang war, nachdem du mich im Bonstettenpark auf den Mund geschlagen hattest. Ich berichtete, wie ich mich im fortgeschrittenen Mannesalter doch noch zu einer nützlichen Haushaltshilfe mauserte – und Lydia schien ebenso erstaunt zu sein wie du damals. Nur ein einziges Mal setzte ich die Staubsaugertüte falsch ein, sodass der ganze Staub herausgestäubt kam. Der abgebrochene Griff der Waschmaschine ließ sich mit Sekundenkleber reparieren. Ich stellte die Fotografie an ihren Platz zurück, Lydia bot mir an, in der Cafeteria einen Kaffee zu trinken und warf den Regenschirm in die Ecke.

Ich denke so gern an dich, es gibt so viel zu erinnern. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der du nicht ein Teil von mir gewesen wärst. Und heute – ich suche dich nicht über den Wolken, ich suche dich nahe bei mir.

Selbstverständlich fühle ich mich unbehaglich in dem Hemd, was denkst du denn, ständig muss ich mit dem Finger den engen Kragen lockern. Es ist verrückt, sich bei der Hitze so anzuziehen, aber vor der Tür wartet der neue Zivildienstleistende auf mich, und ich möchte einen vertrauenswürdigen Eindruck machen: Lukas Zbinden, wissensvoll und aufrichtig, öffnet er sein Herz jedem, der einsam oder glücklos ist, unnachsichtig und furchtlos tritt er jenen entgegen, die Unrecht tun. Ich hoffe, der Zivildienstleistende mag mich ein Stück in die Stadt begleiten, das wäre mein größter Wunsch. Und wenn ich ehrlich sein soll, wäre ich wohl auch ein wenig gekränkt, wenn er es nicht abwarten könnte, mich wieder mir selbst zu überlassen. Es ist schöner, wenn anderen gefällt, woran man selbst Vergnügen hat. Drück mir die Daumen, Emilie.

Kâzim, den Namen habe ich doch richtig verstanden? Reichen Sie einem alternden Spaziergänger die Hand. Mit Treppen tue ich mich schrecklich schwer. Können Sie glauben, dass dieses Betagtenheim einmal ein Privatsitz gewesen ist? Dass hier eine nur vier- oder fünfköpfige Familie gelebt hat? Die Kinder haben sich hier ans Treppengeländer geschlichen und sich hingekauert, während ihre Eltern unten eine patrizische Abendgesellschaft empfingen. – Nehmen was? Sie müssen lauter sprechen. Ich habe zwei Hörgeräte. Mit dem einen höre ich und bekomme Kopfschmerzen, mit dem andern bekomme ich keine und höre aber nichts. – Den Lift? Nein, den Lift nehme ich nie. Im Lift stehen alle steif nebeneinander, blicken starr geradeaus oder halten den Blick gesenkt. Die Tür öffnet sich, einer kommt heraus, ein anderer geht hinein, dreht sich sofort um und blickt unbehaglich zur Tür. Wer hat ihnen befohlen, zur Tür zu blicken? Muss ich einen Lift benutzen, dann wende ich der Tür gern den Rücken zu, sehe den anderen ins Gesicht und sage: »Wäre es nicht wundervoll, wenn der Lift stecken bliebe und wir uns alle kennenlernen könnten?«

Wissen Sie, was dann geschieht? Die Tür öffnet sich auf der nächsten Etage, und alle verlassen den Aufzug.

Ich weiß. Ich stelle Leuten die unmöglichsten Fragen. Ich bitte meinen Sohn, mir die Funktionsweise des automatischen Getriebes zu erklären. Ich frage den Leiter des Betagtenheims, wer ihm die Socken strickt. Frau Grundbacher, halten Sie sich für sensibel und sind bloß beleidigt? Herr Imhof, können Sie eine Pflegefachfrau ansehen, ohne gleich den Wunsch nach tätiger Liebe zu verspüren? Herr Ziegler, unterschätzen Sie sich gern in Ihren Möglichkeiten, die Gefühle anderer zu verletzen? Herr Hügli, stehen Sie auf, um nachzuschauen, ob’s regnet, oder pfeifen Sie den Kater herein und fühlen, ob er nass ist?

Wenn ich die sanft abfallende Thunstrasse Richtung Helvetiaplatz hinabspaziere und den zahlreichen Leuten, die mir entgegenkommen, unverfänglich einen guten Tag wünsche, kommt es vor, dass man verunsichert fragt: »Kennen wir uns denn?«

»Nein, aber ich wüsste gern ein bisschen was über Sie. Was treibt Sie an? Was halten Sie für wichtig?«

Und manchmal erwidert jemand verstimmt: »Unverschämter Narr.«

Glauben Sie nicht, dass mich die Ablehnung kaltlässt. Aber ich dämpfe meinen Schmerz. Wie schade, denke ich nachsichtig, dass er mich nicht kennenlernen will. Wenn ich ihn morgen wiedersehe, werde ich ihm noch eine Chance geben.

Wem verdanken Sie Anregungen, Kâzim? Gespräche auf offener Straße höre ich neugierig mit. Zuneigungsbekundungen zaubern mir ein Lächeln auf die Mundwinkel. Ganz genau horche ich hin, schwingt in den Stimmen ein bekümmerter Ton mit. In zehn Minuten werde ich durch die Abgründe des Lebens gezogen, um dankbar für mein Glück weiterzugehen. Meine Frau, Friede ihrer Seele, mochte das nicht, sie behauptete immer, ich sollte es nicht nötig haben, mich an fremden Lebensausschnittsgeschichten zu stärken. Ich berichtete ihr brühwarm ein mitgehörtes Telefongespräch eines aufgeregten Welschen am Bahnhof, dessen läufige Bernhardinerhündin im Auto auf dem Parkplatz der Hundeschule in Lausanne eingesperrt sei, und als ich mich in der Wiedergabe der französischen Fetzen stotternd verfranste, sagte Emilie gelassen: »Lukas, du verlierst dich in Einzelheiten.«

Das ist die sechste Stufe, wenn ich mich nicht irre. Eine prächtige Stufe, nicht? Die nächste Stufe ist Nummer sieben beim Heruntergehen oder achtundachtzig beim Hinaufgehen. Ist sie nicht makellos? – Bitte, was denken Sie, weshalb lege ich die Hand hinters Ohr und zucke mit den Achseln? Sie müssen lauter sprechen, Kâzim. Langsam und deutlich. – Danke, nicht der Rede wert. Gemächlich, aber es geht. Nur wenn ich die falsche Hüfte belaste.

Letzten Mittwochmorgen spaziere ich durchs Viertel. So früh zeigt sich niemand bereit zu einer kleinen Unterhaltung, bis auf den Zeitungsverteiler Bobby am Burgernziel. Einmal sind mir im Schnee die Füße weggerutscht, ich bin rücklings hingestürzt, und Bobby hat mir aufgeholfen und gesagt: »Ein weniger beweglicher Greis hätte sich glatt das Genick gebrochen.«

Mit dieser schmeichelhaften Bemerkung hat eine von uns beiden geschätzte lockere Freundschaft angefangen.

Ich setze mich neben ihn. Der Stapel Pendlerzeitungen, den er verteilen sollte, ruht auf seinen Knien. Ich erkundige mich nach seinem Wohlergehen, der übernächtigte Bobby erkundigt sich nach meinem. Dann fragt er, ob ich eine Zeitung haben wolle »für im Tram«.

Bobby ist gekleidet, wie seiner Ansicht nach ein Zeitungsverteiler im Frühsommer gekleidet sein...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2019
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Altersheim • Alterspflege • Liebe • Schweiz
ISBN-10 3-293-31004-4 / 3293310044
ISBN-13 978-3-293-31004-9 / 9783293310049
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