Nach dem Gedächtnis (eBook)

Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2023

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
350 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75903-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nach dem Gedächtnis - Maria Stepanova
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Liebesgeschichten und Reiseberichte, Reflexionen über Fotografie, Erinnerung und Trauma: In einer dichten poetischen Sprache verwebt Maria Stepanova Fundstücke zu einem Jahrhundert ihrer jüdisch-russisch-europäischen Familiengeschichte.

Maria Stepanova erzählt von ihrer weitverzweigten Familie von Ärzten, Architekten, Bibliothekaren, Buchhaltern und Ingenieuren, die in unzivilisierten, gewaltgeprägten Zeiten ein stilles, unspektakuläres Leben führen wollten. Prädestiniert, Opfer von Verfolgung und Repressionen zu werden, ist es all ihren Verwandten gelungen, die Schrecken des 20. Jahrhunderts zu überleben. Wie war das möglich? Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln durchmisst die Autorin einen Gedächtnisraum, in dem die Linien des privaten Lebens haarscharf an den Abbruchkanten der Epochenlandschaft entlangführen. »Bei allen anderen bestand die Familie aus Teilnehmern der Geschichte, bei mir nur aus ihren Untermietern.«



Maria Stepanova, 1972 in Moskau geboren, ist die international erfolgreichste russische Dichterin der Gegenwart. Für ihr umfangreiches lyrisches und essayistisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet. Ihr Prosadebüt <em>Nach dem Gedächtnis</em> (2018) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sie lebt zurzeit in Paris.

Maria Stepanova, geboren 1972 in Moskau, ist Lyrikerin, Essayistin und Journalistin und eine der markantesten Gestalten des gegenwärtigen literarischen Lebens in Russland. Chefredakteurin der Internetzeitschrift colta.ru.

2

Anfänge


Das erste Mal, dass ich vermieden habe, diesen Text zu schreiben, liegt gut dreißig Jahre zurück – damals ließ ich ihn nach zwei oder drei Seiten eines linierten Schulhefts liegen, »zum Reinwachsen«. Angesichts des Umfangs und der Bedeutung dessen, was ich mir vorgenommen hatte, verstand sich das bequeme »nicht jetzt« irgendwie von selbst.

Streng genommen, besteht die Geschichte dieses Buches aus einer langen Reihe von Rückziehern und Ausreden: Ich verschob es auf später, auf eine bessere Version meiner selbst, wie damals als Kind, und einstweilen brachte ich ihm bescheidene, immer ungenügende Opfergaben in Form kleiner Notizen dar, ritzte Kerben ein auf Zugfahrten oder während eines Telefonats: Gedächtnisstützen. Aus diesen Zwei- oder Dreiwort-Konzentraten sollte die Erinnerung irgendwann eine tragbare Konstruktion zusammenbauen, das wohnliche Zelt einer Handlung. Statt der Erinnerung an Geschehenes, die ich nicht habe, sollte die noch frische Erinnerung an Erzähltes wirksam werden; sie sollte die trockene Notiz befeuchten, bis daraus ein Kirschgarten wuchs.

In russischen Memoiren vom Anfang des 20. Jahrhunderts taucht gelegentlich eine Spielerei für Kinder auf: eine blassgelbe Papierscheibe, die man in eine Tasse legt und mit Wasser begießt, und schon wächst sie einem in den unwahrscheinlichsten, leuchtend asiatischen Farben entgegen, ein fremdes, fernes Blühen. Ich habe diese Zauberplättchen nie zu Gesicht bekommen – was ist eigentlich aus all diesen Dingen geworden? Immerhin gab es bei uns, im Arsenal der weihnachtlichen Noch-von-Babuschka-Schätze, ein Rauchmännchen, ein streichholzgroßes, schwarzgesichtiges Kerlchen, das sehr überzeugend winzige weiße Zigaretten paffte: Rauch stieg auf, Asche trat an die Stelle der Glut, bis der Tabakvorrat eines Tages endgültig aufgebraucht war. Von da an lebten die Fähigkeiten des Männchens im Erzählen weiter, und das kann man als Happy End sehen – wie es scheint, besteht für verschwindende Dinge und Alltagsgesten das Paradies genau darin, erwähnt zu werden.

Das erste Mal begann ich dieses Buch also im Alter von zehn Jahren zu schreiben, in derselben Wohnung in der Banny-Gasse, in der ich jetzt die ersten Buchstaben dieses Kapitels tippe. In den achtziger Jahren stand am Fenster ein Schreibtisch mit schartiger Kante, auf dem eine orange Tischlampe leuchtete; auf ihren weißen Kunststofffuß hatte ich ein Abziehbild geklebt, das beste von allen: Unter einem dunklen Schneehimmel schleppt eine plüschene Bärenmutter auf einem Schlitten eine Tanne und ein kleines, schief sitzendes Bärenkind hinter sich her, seitlich ist ein Sack mit Geschenken festgebunden. Fünf oder sechs Bilder waren damals auf jedem dieser klebrig glänzenden Blätter, man schnitt sie einzeln aus und legte sie in eine Schale mit warmem Wasser. Dann musste man die durchsichtige Farbfolie in einem Schwung abziehen, sie schnell auf eine freie Stelle legen und glattstreichen. Ich erinnere mich an einen Katzenjungen in Regenmantel und Karnevalsmaske auf der Tür des Küchenschranks und an einen Pinguin mit Pinguinkind vor grün-rosa gezacktem Nordlicht. Aber die Bären mochte ich am liebsten.

Als würde mir leichter, wenn ich sie eines nach dem anderen aufzähle, all diese beiläufig erinnerten Bruchstücke eines früheren Lebens, die noch zwanzig Jahre, bis zur nächsten Renovierung, am Küchenschrank nachdunkelten und mir erst in diesem Moment wieder lebhaft und bunt vor Augen stehen: der dicke Junge im Sombrero und schwarz-gelben Domino! die Maske mit den Lamettaschnörkeln! Als müsste ich – »sprach’s und war nicht mehr« – nach getaner Tat in tausend morsche, welke Sachen und Sächelchen zerspringen. Als wäre es meine Lebensaufgabe, sie zu katalogisieren, als wäre ich nur dafür erwachsen geworden.

Das zweite Mal begann ich dieses Buch, ohne es zu wissen, im schiefen, scheuen Alter von sechzehn Jahren zu schreiben. Es war am Ende einer Liebesgeschichte, von der mir damals mein weiteres Leben abzuhängen schien; mit den Jahren ist sie so verblasst und vertrocknet, dass ich das Gefühl eines Anfangs-von-allem, mit dem ich sie durchlebte, nicht wiederherstellen kann. Eine Sache ist mir aber noch sehr genau in Erinnerung. Als klar wurde, dass es vorbei war – vielleicht nicht in meiner Vorstellung, aber in Werken und Tagen – wollte ich mir unbedingt das Wichtigste merken, eine Art Best-of: Knotenpunkte, Gesprächsverläufe, Details, einzelne Sätze. Ich wollte sie festhalten, als Vorarbeit für eine spätere – irgendwann einmal – Beschreibung; eine lineare Erzählweise kam nicht in Frage, zu unplausibel wäre diese Linie ausgefallen. Also schrieb ich alles, was ich keinesfalls vergessen durfte, auf Zettel; auf jedem stand ein Wort oder ein Ausdruck, aus dem sich in der Erinnerung sofort ein ganzes Ereignisgebäude zusammensetzte: ein Gespräch, eine Straßenecke, ein Witz, ein Versprechen. Da das Geschehene sich in meinem Kopf verzweifelt dagegen wehrte, sich in eine Ordnung oder Reihenfolge bringen zu lassen, sei sie alphabetisch oder chronologisch, bestand die Aufgabe in Folgendem: Irgendwann in der nahen Zukunft würde ich alle diese Fragmente in einen Hut werfen (den meines Vaters, er hatte einen wunderbaren grauen Hut, den er nie trug), sie dann eines nach dem anderen hervorziehen und Geschichte für Geschichte, Punkt für Punkt aufschreiben, bis der Moment gekommen wäre, diese Karte des Lands der Zärtlichkeit hinter mir zu lassen: als Denkmal ihrer selbst. Mit der Zeit verteilten sich die dreißig oder vierzig Zettel über die Schubladen meines damaligen Schreibtischs, und irgendwann waren sie endgültig verschwunden, verschluckt von Umzügen, Renovierungen und plötzlichen Putzorgien.

Muss ich dazusagen, dass ich keines der vierzig Wörter mehr weiß, die zu vergessen ich damals so fürchtete?

*

Doch an sich beschäftigt mich die Idee eines fragmentarischen, zufälligen Bergens der eigenen und allgemeinen Geschichte aus dem Dunkel des Bekannten und Selbstverständlichen noch immer. Das Anfangsstadium dieser Rettungsaktion ist mir längst zur Gewohnheit geworden; der unsichtbare, unsystematisch wachsende Zettelkasten, der nie durchgesehen wird, ist heute ein fester Bestandteil meines Lebens. Nur die Menschen, mit denen man noch darüber sprechen kann, wie es gewesen ist, werden zusehends weniger.

Ich wusste immer, dass ich eines Tages ein Buch über meine Familie schreiben würde, und es gab eine Zeit, in der ich darin mein Lebenswerk sah (das Werk mehrerer zusammengeführter Leben vielmehr, denn zufällig war ich der erste und bisher einzige Mensch in der Familie, der Anlass zu einem nach außen gerichteten Reden hatte: unter der warmen Mütze des intimen Gesprächs hervor, nach draußen in die Bahnhofshalle der kollektiven Erfahrung). Dass alle diese Leute, die Lebenden wie die Toten, keine Gelegenheit hatten, gesehen zu werden, dass das Leben ihnen keine Chance ließ zu bleiben, erinnert zu werden, im Licht zu stehen, dass ihr Normalsein sie dem schlichten menschlichen Interesse entzog, schien mir ungerecht. Man musste von ihnen und für sie sprechen – und ich fürchtete mich, damit anzufangen: davor, auf einmal nicht mehr neugierige Zuhörerin und Adressatin zu sein, jener äußerste Punkt der Sippe, auf den die vieläugige, vielstufige Familiengeschichte zuläuft wie Telegrafendrähte, die sich in der Ferne zu treffen scheinen, sondern eine Fremde, eine von den anderen. Ein Erzähler nämlich, jene Auswahl- und Abwahlinstanz, die weiß, welcher Teil vom Unerzählten ins Licht zu rücken ist und welcher im Schatten bleiben soll, äußerlich wie innerlich.

Kurios war dabei, dass meine Großmütter und -väter einen beträchtlichen Teil ihrer Energie darauf verwendet hatten, unsichtbar zu bleiben. Möglichst unauffällig zu werden, im häuslichen Dunkel unterzutauchen, sich abseits zu halten von der Weltgeschichte mit ihren überlebensgroßen Narrativen und ihrer Fehlertoleranz von ein paar Millionen Menschenleben. Ob sie diesen Weg bewusst oder unbewusst wählten, ist schwer zu sagen. Meine...

Erscheint lt. Verlag 12.11.2018
Übersetzer Olga Radetzkaja
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Pamjati pamjati
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrundert • Ahnenforschung • Einzelschicksale • Erinnerung • Erinnerungen • Erinnerungskultur • Familie • Familiengeschichte • Fotografie • Fundstücke • Gedächtnis • Intellektuelle Erzählung • Jüdisches Leben • jüdisch-russisch-europäsiche Familie • Kulturgeschichte • Liebesgeschichten • Literarische Annäherung • literarische Erzählungen • metaroman • Panorama einer Epoche • Postmemory • Reflexionen • Reiseberichte • Russland • Schrecken des 20. Jahrhunderts • Sebald • Siegfried-Unseld-Gastprofessur • Sowjetunion • ST 5066 • ST5066 • suhrkamp taschenbuch 5066 • Susan Sontag • Tagebucheinträge
ISBN-10 3-518-75903-5 / 3518759035
ISBN-13 978-3-518-75903-5 / 9783518759035
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