Überleben -  Gerhard Zeillinger

Überleben (eBook)

Der Gürtel des Walter Fantl
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Kremayr & Scheriau
978-3-218-01143-3 (ISBN)
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Walter Fantl ist vierzehn, als Hitler in Österreich einmarschiert, mit 18 wird er nach Theresienstadt, mit 20 nach Auschwitz deportiert. Gemeinsam mit seinem Vater geht er am 29. September 1944 über die Rampe von Birkenau, ahnungslos, was geschehen wird. Als der 21-Jährige im Juli 1945 nach Wien zurückkommt, ist ihm nichts von seinem Leben geblieben als ein breiter Ledergürtel: das Einzige, was er nach der Selektion behalten durfte. Bis zur Befreiung ist der Gürtel für ihn ein Überlebenssymbol, an das er sich jeden Tag klammert. Und bis heute ein Stück Erinnerung an die dunkelste Zeit seines Lebens: als er seine gesamte Familie verlor. Heute ist Walter Fantl einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen in Österreich. Basierend auf jahrelangen Gesprächen und zahlreichen Originaldokumenten zeichnet der Historiker und Journalist Gerhard Zeillinger den bewegenden Lebensweg nach, der von der behüteten Kindheit in Bischofstetten in Niederösterreich direkt in den Horror der NS-Zeit und in die Stunde null nach der Befreiung mündet. Zeillingers dokumentarisch erzählender Stil macht diese berührende Geschichte achtzig Jahre später noch einmal lebendig und schildert sehr eindringlich das Bild einer Zeit, die uns bis heute beschäftigt.

Gerhard Zeillinger, geboren 1964 in Amstetten/NÖ, Studium der Germanistik und Geschichte in Wien, Dissertation über Julian Schutting. Berufliche Tätigkeiten als Verlagslektor, Literaturwissenschaftler und Historiker. Seit 1982 zahlreiche Veröffentlichungen in in- und ausländischen Literaturzeitschriften und Anthologien sowie im Rundfunk. 2001 erschien in der Edition Thurnhof 'Wald : Stilübungen' und 2013 in der Literaturedition Niederösterreich die Reiseerzählung 'O?wi?cim. Reise nach Au'. Daneben langjährige Tätigkeit als Literaturkritiker, u. a. für 'Der Standard', 'Die Presse', 'Literatur und Kritik'.

Gerhard Zeillinger, geboren 1964 in Amstetten/NÖ, Studium der Germanistik und Geschichte in Wien, Dissertation über Julian Schutting. Berufliche Tätigkeiten als Verlagslektor, Literaturwissenschaftler und Historiker. Seit 1982 zahlreiche Veröffentlichungen in in- und ausländischen Literaturzeitschriften und Anthologien sowie im Rundfunk. 2001 erschien in der Edition Thurnhof "Wald : Stilübungen" und 2013 in der Literaturedition Niederösterreich die Reiseerzählung "Oświęcim. Reise nach Au". Daneben langjährige Tätigkeit als Literaturkritiker, u. a. für "Der Standard", "Die Presse", "Literatur und Kritik".

Was jetzt?


Wien, 10. Juli 1945


1


Als er plötzlich vor ihr stand, hat Grete Gross ihn nicht mehr erkannt. Ein junger, schmächtiger Mann mit hohlen Wangen, zwar rasiert und die Haare geschnitten, aber insgesamt eine bedauernswerte Erscheinung. Alles hängt an ihm, Hemd und Hose sind um ein paar Nummern zu groß, um die Taille hat er einen breiten Gürtel geschlungen, wie ihn sonst nur die Arbeiter tragen. Der Gürtel gibt dem jungen Mann scheinbar den einzigen Halt. Kaum fünfzig Kilo hat Walter damals gewogen, zu Beginn des Jahres, wird er später erzählen, waren es gar nur achtunddreißig. Er war dürr, wie zum Abbrechen. Hätte er sich in einem Spiegel sehen können, er wäre vor sich selber erschrocken. Vorsichtig hat er zu essen begonnen, langsam, über Monate hin, hat er wieder zugenommen, aber ohne den breiten Gürtel, der ihn scheinbar so zusammenschnürt, hält ihm die Hose noch immer nicht am Leib.

Frau Gross hat im ersten Augenblick nicht gewusst, was sie mit ihm anfangen soll. Natürlich war ihr sofort klar, dass es sich um keinen Klienten handelt, der zum Dr. Stern möchte, deshalb braucht sie auch nicht zu sagen, dass die Kanzlei noch gar nicht wieder geöffnet hat, das kann noch eine Zeit dauern. Nein, dieser junge Mann, das sieht man auf den ersten Blick, hat nichts mit dem Gericht zu tun. Frau Gross kennt mittlerweile diese „Gestalten“, die seit einigen Wochen in Wien herumlaufen. Die jetzt alle aus den Lagern zurückkommen, ausgehungert und wenig Vertrauen erweckend. Dabei hat Walter immer großen Wert auf ordentliche Kleidung und korrekte Erscheinung gelegt. Und er selbst weiß, so schlimm wie jetzt – wenn er von der Zeit im Lager absieht – hat er noch nie ausgesehen, abgerissen, fast schäbig, so kommt er sich vor.

Das Wenige, das er zum Anziehen hat, hat er sich in den letzten Monaten „organisiert“, irgendwo auf dem Weg zwischen Gleiwitz, Theresienstadt und Wien, die Strecke seiner monatelangen Rückkehr nach Hause. Am Anfang ging es nur darum, das verhasste Streifengewand loszuwerden und wieder normale Kleidung zu tragen. Das eine oder andere Hemd, ein wenig Wäsche hat er vom Roten Kreuz bekommen. Nur den Gürtel hat er auch vorher schon gehabt. Der Gürtel, der seinen Körper so auffallend in zwei Hälften teilt, ist das Einzige, was ihm geblieben ist. So ist er vor drei Jahren in Wien als Schlosser gegangen, in der „Technischen Kolonne“ der Kultusgemeinde. Da war Walter achtzehn. Er hat Türschlösser repariert, Schlüssel gefeilt. Oder er hat beim Übersiedeln geholfen. Übersiedeln hat immer geheißen, dass die Parteien in eine noch kleinere Wohnung ziehen mussten, eigentlich in ein Untermietzimmer, bis sie ein paar Wochen später abgeholt wurden, um dann für immer zu verschwinden.

Grete Gross und ihrer Mutter hätte es jederzeit auch so ergehen können. Die ganze Zeit hat sie in Angst gelebt, man könnte sie ebenfalls fortbringen, ins Sammellager, in ein Ghetto nach Polen. Auf der Straße wechselte sie die Seite, wenn sie jemanden in Uniform auf sich zukommen sah – nur nicht auffallen, nur nicht nach dem Ausweis gefragt werden. Jedes Mal dieses Herzklopfen, bis sie endlich die Kanzlei von Dr. Stern erreichte. Bei ihm hat sie sich sicher gefühlt. „Sie bleiben bei mir“, hat er zu ihr gesagt, „Ihnen und Ihrer Mutter wird nichts passieren.“ Aber wie konnte er das versprechen? Dr. Stern war doch selbst Jude.

Walter hat Grete und ihre Mutter das letzte Mal im September 1942 gesehen, kurz bevor er und seine Familie „auf Transport gingen“. Danach hatten sie nichts mehr voneinander gehört.

Walter kommt alles fremd vor. Seit dem Morgen ist er zurück in Wien. Er ist über Pressburg gekommen, mit ein paar Kameraden, dem Leo, Kurt Herzka, Sigi Rittberg und noch vier anderen. Genau genommen ist er mit ihnen schon seit Monaten unterwegs. Gemeinsam waren sie im Lager und auf „Todesmarsch“, das hat sie zusammengeschweißt. Als sie Ende Januar befreit wurden, wussten sie lange nicht, wohin. Sie zogen von einem Ort zum andern, wie eine verschworene Gruppe. Junge Männer mit Hunger nach Leben, aber ohne Vorstellung, wie dieses Leben aussehen soll. Zuletzt waren sie wieder in Theresienstadt gelandet. Das ist nun genau vier Wochen her. Sie hatten sich fast schon an diesen Ausnahmezustand gewöhnt, dann haben sie spontan beschlossen, nach Wien zu fahren – nicht, um dorthin zurückzukehren, sie wollten nur wissen, wie es in Wien jetzt aussieht.

Natürlich sind sie schockiert. Überall zerbombte Häuser, Schuttberge und Menschen, die darin herumwühlen. Alle Brücken gesprengt. Auch die Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse, wohin sie als Erstes gehen, ist in den letzten Kriegswochen von einer Bombe getroffen worden. Später wird Walter erfahren, dass mehr als sechzig Menschen im Luftschutzkeller ums Leben gekommen sind, auch Ilse, eine Jugendfreundin aus seiner Clique, die eine hübsche junge Frau geworden war. So knapp vor dem Ende. Die Eingänge sind mit Brettern vernagelt, auf einem angeschlagenen Schild lesen sie, dass sich die Amtsdirektion nun am Schottenring, Ecke Deutschmeisterplatz befindet. Dort sei auch eine Meldestelle für Rückkehrer eingerichtet und es würden Pakete ausgegeben, wird den jungen Männern gesagt.

Walter bekommt an diesem Morgen eine Legitimation ausgestellt. In vier Sprachen, auf Deutsch, Russisch, Englisch und Französisch, wird ihm bescheinigt, dass er Häftling in Auschwitz war. Nunmehr ist es amtlich. Eigentlich ist er gekommen, weil er wissen möchte, ob jemand von seinen Verwandten überlebt hat. Aber keiner der Namen findet sich in den Listen. Weder hier noch beim Roten Kreuz hat sich einer von ihnen seit der Befreiung gemeldet. Das müsse nichts bedeuten, sagt man ihm, fast täglich würden neue Listen erstellt, immer noch würden sich Vermisste melden. Dasselbe hat man ihm auch in Theresienstadt gesagt, als er nach seiner Mutter und seiner Schwester gefragt hat.

Als er wieder auf der Straße steht und überlegt, wohin er gehen könnte, fällt ihm die Grete Gross ein. Die Gretl. Er kennt sie, seit er ein Kind war und sie mit ihren Eltern jedes Jahr zur Sommerfrische nach Bischofstetten aufs Land gekommen ist. Sie waren die einzigen jüdischen Sommergäste in der kleinen Landgemeinde, und Walters Eltern, die eine Greißlerei führten, waren die einzigen Juden im Ort. Da ist schnell eine Freundschaft entstanden. Als Walter 1924 zur Welt kam und am achten Tag nach seiner Geburt in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen wurde, waren die Gross eigens aus Wien gekommen. Gretes Vater hatte Walter bei der Beschneidung gehalten. Damals hat sich noch niemand vorstellen können, eines Tages alles hier aufgeben zu müssen.

Sechzehn Jahre später hieß es plötzlich fortgehen, in einem fremden Land ein neues Leben anfangen. Von Amerika wurde geredet. Aber dazu brauchte man Geld, man brauchte Beziehungen. Auch Grete Gross hat überlegt, sich und ihre Mutter irgendwo im Ausland in Sicherheit zu bringen. Nur wohin hätten sie gehen können? Und dann hat der Dr. Stern seine Hand über sie gehalten. „Machen Sie sich keine Sorgen“, hat er gesagt. Aber konnte sie sich darauf verlassen?

Dr. Stern war einer der wenigen jüdischen Rechtsanwälte in Wien, die auch nach 1938 noch jüdische Klienten vertreten durften, zuletzt war er der einzige. Es war bekannt, dass er Kontakte zur Gestapo hatte. Er könne Juden vor dem Transport retten, wurde gesagt, es käme nur auf die Höhe der Summe an. Aber die wenigsten hatten noch so viel Geld, um sich freikaufen zu können. Das war 1942, auf dem Höhepunkt der Deportationen, als auch Walter und seine Familie fortmussten. Was seither in Wien geschehen ist, davon hat Walter nur gerüchteweise in Theresienstadt gehört.

An diesem Vormittag geht er noch einmal durch den 1. Bezirk. Die Kanzlei von Dr. Stern befand sich in der Wollzeile. Gibt es die Kanzlei noch? Kann er die Grete dort antreffen? Er kommt am ausgebrannten Stephansdom und an Schuttbergen vorbei. In der Wollzeile, eine Straße weiter, sind die Häuser fast alle unbeschädigt, auch das Haus Nummer 18 steht noch. Eine noble Innenstadtadresse, das Stiegenhaus mit Marmor verkleidet. Frau Gross, die in Walters Erinnerung hinter einem großen Schreibtisch im Empfangszimmer sitzt, hätte bei Dr. Stern eigentlich nichts mehr zu tun, die Kanzlei ist geschlossen, der Rechtsanwalt, der sie und ihre Mutter tatsächlich vor der Gestapo geschützt hat, wartet noch immer auf seine Wiederzulassung.

Trotzdem kommt Frau Gross, sie ist siebenunddreißig und unverheiratet, jeden Morgen in die Kanzlei, ordnet Akten und sichtet die spärliche Post. Als es läutet, geht sie automatisch zur Tür. „Ja bitte?“, fragt sie, und eigentlich will sie gleich sagen, dass Dr. Stern vorerst noch niemanden vertreten kann.

Der junge Mann, der so fremd vor der Tür steht, der so entsetzlich aussieht, lächelt. Und Grete sieht ihn mit fragenden Augen an. Dann erschrickt sie. Als stünde ein Gespenst vor ihr.

„Und deine Eltern“, fragt sie,...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2018
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Auschwitz • Deportation • Gedenken • Holocaust • Juden • Konzentrationslager • KZ • Nationalsozialismus • Nazis • Niederösterreich • Österreich • Theresienstadt • Überlebende • Wien • Zeitzeuge
ISBN-10 3-218-01143-4 / 3218011434
ISBN-13 978-3-218-01143-3 / 9783218011433
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