Ich bedaure nichts (eBook)

Tagebücher 1955-1963

(Autor)

Angela Drescher (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
429 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1457-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich bedaure nichts -  Brigitte Reimann
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»Dieses Buch hat die Qualität eines Romans und die Vorzüge eines Tagebuchs.« Marcel Reich-Ranicki.

Brigitte Reimanns Tagebücher werden als ihr wichtigster Roman gelesen. Sie erzählt darin ihr stürmisches, kreatives und nur sich selbst treues Leben und fängt wie nebenbei Geist und Stimmung einer ganzen Periode deutscher Geschichte ein. Es ist ihr scharfer, auch gegen sich selbst unerbittlicher Blick, der dieses Werk nicht nur zu einem einzigartigen Lebenszeugnis macht, sondern zu großartiger Literatur. Faszinierend, aufrüttelnd, beflügelnd.

Die DDR durch die Augen einer Frau, die konsequent für Gleichberechtigung eintrat, für freie Meinungsäußerung und das Recht auf ein erfülltes, glückliches Leben.



Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin.

Veröffentlichungen: Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994), Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995) und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973 (2003), sowie die Tagebücher Ich bedaure nichts (1997) und Alles schmeckt nach Abschied (1998). Aus dem Nachlaß: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane (2003). Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).

1955


Burg, den 31. 8. 55

Nun bin ich wieder zuhause – hinter mir liegt eine Woche reinsten Glückes, und ich wünschte nichts sehnlicher als eine Wiederholung dieser wunderbar schönen Zeit. Aber freilich – so etwas wird uns nur einmal beschert […].

Vieles ist geschehen, Schweres – ich habe mich von Günter getrennt. Daher auch dieses neue Tagebuch – mein anderes hat Günter und gibt es nicht heraus; er wird mich damit bei der Scheidung erpressen wollen. […]

Günter hatte mich – es mag jetzt drei Wochen her sein – nach einer sehr unerfreulichen Szene verlassen, kam aber am nächsten Tage, unserem Hochzeitstag, wieder, mit einem prächtigen Strauß üppiger Gladiolen. Wir waren beide bedrückt und unruhig […]. Ganz plötzlich dann küßte mich Günter, bat, ich solle ihm Treue versprechen – dann sei alles wieder gut. Ich versprach es, und ich hatte in diesem Augenblick auch den besten Willen, mein Versprechen zu halten […]. Es folgte eine Woche, während der wir glücklich waren: Wir lebten zwar getrennt, aber jede Nacht stieg Günter zu mir durchs Fenster, und wir liebten à la Romeo und Julia. […]

Und dann kam er der heimlich erhoffte, gefürchtete Brief von Georg Piltz, der mich nach Rheinsberg einlud, zur Besprechung meines Buches. Nach einer langen Auseinandersetzung erst erlaubte mir Günter, auf 3 Tage nach R. zu fahren. Ich will ja ehrlich sein: trotz meiner Beteuerung, ich würde ihm während dieser 3 Tage treu sein, erwartete ich den üblichen Flirt […].

Es ist nicht zu leugnen: Piltz hatte Eindruck auf mich gemacht, und ich landete nach einer mehr als zehnstündigen, sehr beschwerlichen Fahrt mit Herzklopfen in Rheinsberg. Dort ist die Welt mit Brettern vernagelt: die Eisenbahnlinie endet hier, das Städtchen ist winzig und kulturlos und hat nichts vom Lärm anderer Städte.

Piltz empfing mich an der Bahn und brachte mich zum HO-Hotel Ratskeller, dem einzigen Hotel von R., in dem auch er sein Zimmer hatte. Ich war zuerst sehr befangen, und er brachte mich noch dazu beim Abendessen in arge Verlegenheit, weil er nicht gestatten wollte, daß ich für mich selbst bezahlte: ich sei sein Gast. Das lief mir gegen mein Selbstbewußtsein, aber er lachte mich aus […] ich bin in solchen Dingen sehr empfindlich und möchte um alles in der Welt mir nicht wie eine ausgehaltene Person vorkommen.

Aber er ist dabei geblieben: ich war während der ganzen Zeit sein Gast, und wir [haben] prächtig gelebt. Ich habe so viel Schlagsahne gegessen wie in den Jahren zuvor nicht, je lebhafter ich beteuerte, ich dürfe wegen meiner schlanken Linie nicht so viel essen, mit desto größerem Vergnügen bestellte er nach – und ich habe tatsächlich nicht zugenommen. Wahrscheinlich wegen unserer ausgedehnten Wanderungen und Ruderpartien, die mir in jeder Hinsicht gut getan haben – auch mein Husten ist verschwunden. Das liegt vielleicht auch daran, daß ich nur wenig rauchen durfte – Georg plädierte für ein absolut solides Leben, und neben Zigaretten war auch der Schnaps verpönt.

Aber ich greife vor. An diesem ersten Abend sprachen wir nur wenig über mein Buch – Piltz sagte lediglich, daß es ihm sehr gut gefallen habe, daß ich begabt sei und daß mein Buch noch von allerhand Schlacken gereinigt werden müsse.

Wir gingen, bevor die Dämmerung hereinbrach, zum Schloß, das nur wenige Schritte von unserem Hotel entfernt ist – ein erster Bau Knobelsdorffs, von dem mir Georg in der Folge sehr viel erzählt hat. Wir besichtigten es nur von außen […]. Dann wanderten wir durch den Park, den mir Piltz ganz genau erklärte – er ist so klug, er weiß ungeheuer viel, und er ist erschreckend sarkastisch und von geistvoller Ironie, daß ich ihm nicht immer zu folgen vermochte und stumm lauschte, erfüllt von Bewunderung […].

Auf einer Erhöhung steht der Obelisk […]. Man kann von hier aus über den See hinweg auf das Schloß schauen, zu beiden Seiten erstreckt sich der Park. Wir saßen auf einer Bank, es wurde dunkel, im Schloß flammten Lichter auf, Heimchen zirpten, und der Wind rauschte in den Bäumen.

Wir sprachen nun über allerlei Privates, […] und immerhin glitten wir in eine ganz vertrauliche Unterhaltung hinein, die Piltz mehr als einmal Gelegenheit bot, über meine naiven Ansichten zu lachen, wobei er es nicht versäumte, mir freundschaftlich den Arm um die Schulter zu legen, was ich aber bewußt ignorierte. (Der Püschel hatte mir eingeimpft, Piltz sei ein Frauenjäger. Ich sagte ihm das später auch ganz freimütig, und er war amüsiert und ein bißchen beleidigt und überzeugte mich bald davon, daß Püschel nur aus Egoismus dergleichen gesagt habe.)

Als wir endlich aufbrachen, war schon ein ganz anderer, vertrauter Ton in unserem Gespräch, obgleich ich mich sehr zurückhielt. Es war inzwischen ganz finster geworden, und als in der düsteren Allee Piltz plötzlich von Gespensterhunden zu sprechen begann, zitterte ich vor Angst. Ich war froh, als wir endlich den Park verlassen hatten, denn es drohte noch anderes in diesen unheimlichen Gängen als nur ein Gespensterhund. Wir hätten ins Hotel gehen sollen, aber Piltz überredete mich leicht, noch mit an den See hinunterzukommen. […] Dann lagen wir im Gras, hörten den Heimchen zu, und das Schweigen wurde so schrecklich, daß ich heiß wünschte, er möge irgendetwas Belangloses sagen, mich aus dieser Qual des Wartens zu befreien. […]

Ich weiß nicht, wie es kam, daß er mich in seine Arme zog – aber das weiß man ja hinterher niemals mehr. Wir küßten uns, und wir wußten an diesem ersten Abend schon, daß wir uns gern haben, sehr gern – aber zu welcher Verstrickung das anwachsen sollte, wußten wir noch nicht.

Das erste »Du« zwischen uns war so seltsam, es rührte mich im Innersten an, ich hatte Angst vor dem Kommenden und ersehnte es zugleich. Wir sprachen kaum auf dem Heimweg. Am nächsten Morgen brachen wir früh auf zu einer Ruderpartie. Georg mietete ein Boot, er ruderte über den Grienericksee, und ich steuerte. Der See ist ganz grün, sehr klar und groß. Ich saß Georg gegenüber und betrachtete ihn – das breite Gesicht –, »kassubisch« nennt er es, und er hat auch wirklich etwas von einem Russen –, das ungebärdige, glatte Haar, das ihm immer in die Stirn fällt, die blauen Augen und den vollen Mund […] wenn er lacht, ist er wie ein Junge, und man vergißt die grauen Haare an seinen Schläfen. Aber sie liebe ich gerade, diese grauen Haare […].

Wir ruderten zur Remusinsel, da saßen wir im Boot am Ufer und sprachen über mein Buch. Georg hat rigoros gestrichen, aber er hat recht mit allem, er ist streng, ich habe sogar geweint. Er hat mich ausgelacht und mir die Tränen vom Gesicht geküßt, und er hat mir ganz genau erklärt, warum ich dies und jenes nicht schreiben dürfte in einer so strengen Novelle. Georg meint, ich könne, wenn ich den rechten Weg fände, eine zweite Seghers werden; ich könne aber auch, verfehlte ich den Weg, in glatter Mittelmäßigkeit landen. Er will nicht, daß ich der herrschenden Strömung in der heutigen DDR-Literatur verfalle, […] er will nicht, daß ich »linientreu« schreibe – ich soll meinen eigenen Weg gehen, unbekümmerter um Parteiregeln, und wirkliche Menschen gestalten, Bücher schreiben, die nicht heute nur gelten, sondern auch später noch Bestand haben. Er hat sehr eigenwillige Anschauungen, und er wird deshalb gehaßt, aber ich glaube, er ist im Recht […].

Wir badeten im Rheinsberger See, hinterher lagen wir naß in der heißen Sonne, wir küßten und kämpften miteinander – oh, ich schämte mich wirklich, und ich habe geweint, als er meine Brust berührte und in mich drang, ich solle am Abend doch mein Zimmer nicht abschließen. Ich habe geschworen, niemals Ehebruch zu begehen […]! Aber als wir am Abend nach Hause fuhren, ahnte ich schon, daß ich nicht würde ausweichen können.

Er kam des Nachts in mein Zimmer. […] Wir schliefen zusammen in meinem schmalen Bett, erst im Morgengrauen verließ er mich. Ich habe ihn umarmt mit wilder Leidenschaft, und ich schäme mich dessen nicht. Es ist doch das natürlichste Recht der Liebenden, und ich liebe, mein Gott, ich liebe! Dabei habe ich doch noch immer eine gewisse Scheu nicht überwunden, und Georg nennt mich lächelnd seine »schamhafte kleine Geliebte«, er ist aber überzeugt davon, daß ich sehr sinnlich bin und ein Künstler in der Liebe werden könnte […].

Einmal bin auch ich zu ihm gekommen, es war schon gegen Morgen, ein schreckliches Gewitter ging über Rheinsberg nieder. Ich erwachte von den Donnerschlägen, ich fürchtete mich, und eine plötzlich brennende Sehnsucht nach Geborgenheit in Georgs Armen trieb mich zu ihm. […] Ich weckte ihn mit Küssen, und er war gerührt, als er mich so vor sich stehen sah, und ängstlich fragen hörte, ob ich bei ihm bleiben dürfte. […] erst am hellen Morgen ging ich, ohne Furcht vor den anderen Gästen, in mein Zimmer zurück. Am letzten Tag noch sagte Georg, daß er diese Szene nie im Leben vergessen würde: wie ich da in seinem Zimmer stand, erschrocken vor dem eigenen Mut und dabei angstvoll auf das Gewitter lauschend. Er hält mich für ein Kind, und ich bin es gegen ihn wirklich noch.

Ich blieb länger, als beabsichtigt. Es war ja nun gleichgültig […], und ich genoß diese herrlichen Tage in Rheinsberg […].

Sein ganzes Vertrauen hat mir Georg geschenkt […]. Ich will mich in Zukunft ganz nach ihm richten, er soll meine Arbeiten lesen und mich unbarmherzig kritisieren, es wird gut werden dadurch.

[…]

Am letzten Tag wanderten wir zum Leuchtturm hinaus. Da saßen...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • 50er Jahre • 60er Jahre • Alltag • Autobiografisches Erzählen • Brigitte Reimann • DDR • Deutschland • Edition • Emanzipation • Erinnerungen • Gesellschaft • Literatur • Politik • Reimann • Roman • Schriftstellerin • Tagebuch • Tagebücher
ISBN-10 3-8412-1457-6 / 3841214576
ISBN-13 978-3-8412-1457-7 / 9783841214577
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