Die Hände meines Vaters (eBook)

Eine russische Familiengeschichte
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
416 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44223-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Hände meines Vaters -  Irina Scherbakowa
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Friedensnobelpreis 2022: Die russische Organisation Memorial mit Gründungsmitglied Irina Scherbakowa, die ukrainische Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties und Ales Bialiatski aus Belarus erhalten als Vorkämpfer für die Menschenrechte in Belarus, Russland und der Ukraine diesjährigen Friedensnobelpreis 2022.  Marion-Dönhoff-Preis 2022: Irina Scherbakowa, Historikerin und Mitgründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, wird in diesem Jahr mit dem Marion-Dönhoff-Preis für internationale Verständigung und Versöhnung ausgezeichnet.  'Die Hände meines Vaters' ist eine epische russische Familiengeschichte vor dem Panorama der Oktoberrevolution, der Weltkriege wie des ganzen 20. Jahrhunderts. Die jüdische Großmutter, die Pogrome, die Oktoberrevolution und den Bürgerkrieg von 1917/18 überlebte. Der Vater, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat um ein Haar seine Hände für immer verlor. Und sie selbst, die im berühmtem Hotel Lux aufwuchs und heute Repressionen ausgesetzt ist, weil sie sich leidenschaftlich der Aufarbeitung der Verbrechen der sowjetischen Gewaltherrschaft widmet: Irina Scherbakowa stammt aus einer Familie, die alle Schrecknisse des vorigen Jahrhunderts miterlebt hat. Und doch empfindet die renommierte Publizistin ihre Familiengeschichte als eine glückliche - sind ihre Vorfahren und sie doch immer wider alle Wahrscheinlichkeit davongekommen, Und so wird Irina Scherbakowas Buch zu einem beeindruckenden Porträt nicht nur einer Familie, der es stets mit viel Glück gelang, düstere Zeiten zu überstehen, sondern auch und vor allem die mitreißende Geschichte einer bewegten Zeit.

Irina Scherbakowa, geboren 1949 in Moskau, ist Historikerin, Publizistin und Übersetzerin. Sie war als Redakteurin unter anderem bei der renommierten Literaturnaja Gaseta tätig, war Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin und ist Ehrenmitglied des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Sie ist eine der Mitbegründerinnen der NGO Memorial, die sich für die Aufklärung der sowjetischen Repressionen und den Schutz der Menschenrechte in Russland einsetzt. 2021 liquidierte das Putin-Regime die regierungskritische Organisation, 2022 erhielt Memorial gemeinsam mit einer ukrainischen und einer belarussischen NGO den Friedensnobelpreis. Scherbakowa lebt in Tel Aviv und Deutschland im Exil.

Irina Scherbakowa, geboren 1949 in Moskau, ist Historikerin, Publizistin und Übersetzerin. Sie war als Redakteurin unter anderem bei der renommierten Literaturnaja Gaseta tätig, war Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin und ist Ehrenmitglied des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Sie ist eine der Mitbegründerinnen der NGO Memorial, die sich für die Aufklärung der sowjetischen Repressionen und den Schutz der Menschenrechte in Russland einsetzt. 2021 liquidierte das Putin-Regime die regierungskritische Organisation, 2022 erhielt Memorial gemeinsam mit einer ukrainischen und einer belarussischen NGO den Friedensnobelpreis. Scherbakowa lebt in Tel Aviv und Deutschland im Exil.

Die Urgroßmutter spielt Schach


Vor hundert Jahren, im Februar 1917, kaufte meine Großmutter ein dickes Heft und gab es einem Buchbinder. Der fertigte dafür einen kunstvollen Einband aus schwerer dunkelroter Seide mit einem Rücken aus braunem Leder, auf dem in silbernen Lettern das Wort »Heft« stand und darunter die Initialen der Großmutter: MS für Mira Skepner. Das Heft war für zwei vorgesehen, für die Großmutter und ihren zukünftigen Mann Jakow Roskin, den sie im Herbst 1916 kennengelernt hatte.

Nicht alle Seiten dieses Heftes sind erhalten geblieben, viele Jahre später sollte meine Großmutter fast alle herausreißen, die sie beschrieben hatte. Sie wollte nicht, dass ihre Kinder und Enkel Einträge einer Gymnasialschülerin lasen, die ihnen sentimental und überschwänglich erscheinen mochten. Es blieben nur die Einträge des Großvaters erhalten. Aber eine ihrer Notizen überdauerte doch, und ich denke, dass das nicht zufällig geschah. Am 15. April 1917, kurz nach ihrem 19. Geburtstag, schrieb sie:

Die Ereignisse erfolgen mit schwindelerregender Geschwindigkeit. So viel Neues, Aufregendes! Das Leben klopft an die Türe, das neue Leben. Man muss die Türen weit aufreißen und dem neuen Gast mutig und freudig entgegentreten. Ich bin unendlich glücklich, dass ich jetzt lebe, jetzt Zeitung lese!

Mit diesen euphorischen Worten im Heft der Großmutter beginnt das Leben meiner Familie im 20. Jahrhundert. Die Ereignisse, über die Großmutter Mira in den Zeitungen las, waren auch wirklich unglaublich. Im März hatte Zar Nikolaus II. abgedankt und die Provisorische Regierung war gebildet worden, die unter anderem sogleich Presse- und Versammlungsfreiheit verkündet hatte sowie die Gleichheit aller Bürger Russlands ohne Unterschied des Geschlechts, des Glaubens oder der ethnischen Zugehörigkeit. Für meine Großmutter und meinen Großvater – junge Juden aus einer kleinen Kreisstadt im Südwesten des russischen Imperiums – bedeutete das eine entscheidende Veränderung. Alle diskriminierenden Einschränkungen, die 120 Jahre lang die Situation der Juden im Zarenreich bestimmt hatten, waren aufgehoben. Jetzt konnten sie sich frei in jeder Stadt des Landes ansiedeln und an jeder Universität studieren. Weil so etwas bis dahin absolut unvorstellbar gewesen war, hatte meine Großmutter an jenem 15. April 1917 vom Beginn eines neuen Lebens gesprochen, dem man »die Türen weit aufmachen« müsse. Wie neu dieses neue Leben tatsächlich sein würde, dass schon sehr bald nicht einmal mehr Spuren des vorangegangenen zurückbleiben sollten, das konnte sie sich allerdings nicht vorstellen.

Die Erinnerung meiner Familie, die ich hier nach bestem Vermögen aufzeichne, reichen nicht sehr weit zurück. Belegen lässt sich die Geschichte dieser für die damalige Zeit typischen jüdischen Familie in Russland von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an. In der alten Kreisstadt Starodub im Gouvernement Tschernigow finden sich erste Spuren meiner Vorfahren.

Die jüdische Bevölkerung, die sich hier innerhalb einiger Jahrhunderte angesiedelt hatte, kam aus Polen, der Ukraine und aus Weißrussland. Das Leben, das die Juden führten, war nicht leicht, immer wieder wurden sie Opfer blutiger Verfolgung, wie zum Beispiel im 17. Jahrhundert während des Kosaken-Aufstandes unter Bogdan Chmelnizki[1]. Regelmäßig gab es Pogrome, man jagte sie aus einem Schtetl weg, und kaum hatten sie sich in einem neuen angesiedelt, wurden sie wieder vertrieben.

Hier, im Südwesten des Russischen Reiches, waren Juden nach der zweiten Teilung Polens 1793 aufgetaucht. Durch den Petersburger Vertrag zwischen Preußen, Russland und Österreich war die Teilung besiegelt worden, und große Teile des Landes waren an das russische Kaiserreich gefallen. Nach einem Erlass der Zarin Katharina II. gestattete man den Juden, sich im sogenannten Rayon anzusiedeln. Der Ansiedlungsraum, ein ehemals zu Polen und Litauen gehörendes Gebiet von mehr als einer Million Quadratkilometern, erstreckte sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Im Juni 1794 war dieses Territorium um das Gouvernement Tschernigow erweitert worden.

Ende der 1830er Jahre lebten in Starodub, einem wichtigen Knotenpunkt für den Handel zwischen polnischen, ukrainischen und russischen Städten, 2000 Juden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es schon 5000 von insgesamt 12000 Bewohnern.

Es ist schwer zu sagen, wann genau sich meine Vorfahren in Starodub niedergelassen haben. Ich weiß nur, dass meine Urgroßmutter Etlja Jakubson – die erste Frau in unserer Familienmatrjoschka des 20. Jahrhunderts – 1866 in der Stadt Pogar geboren wurde, wo die Familie ihres Vaters Naum Jakubson lebte. Russland befand sich damals in einer Zeit des Umbruchs. Unter Zar Alexander II. waren Reformen eingeleitet worden, die auch das Leben der jüdischen Bevölkerung ein wenig erleichterten. Sie durften sich nun auch außerhalb des Ansiedlungsrayons niederlassen, was bis dahin nur sehr reichen oder Juden mit akademischem Grad vorbehalten war. Auch die Beschränkungen, mit denen gewisse Berufe belegt waren, wurden gelockert. Juden hatten nur bestimmte Handwerke ausüben und Kleinhandel treiben dürfen. So wie meine Ururgroßmutter, die mit Porzellangeschirr handelte. Aus dieser Zeit ist ein kleiner ausgeschlagener Teller mit grünen Blümchen erhalten geblieben, den meine Großmutter Mira ihr Leben lang aufbewahrte.

Die Ehe meiner Urgroßmutter Etlja Jakubson kam durch einen Heiratsvermittler zustande. Man hatte sie nicht nach ihrer Meinung gefragt, und meine Großmutter erzählte später, Chaim Skepner sei nicht der Mann ihrer Träume gewesen. Aber die weiteren Entscheidungen in ihrem Leben sollte sie fortan selbst treffen.

Wir besitzen ein Foto von ihr, auf dem sie schon an die vierzig Jahre alt ist und das sie gemeinsam mit ihrem Mann und der Schwiegermutter zeigt. Während die beiden in angespannter Haltung vor ihr sitzen, die Hände auf dem Schoß, blickt meine Urgroßmutter Etlja selbstbewusst in die Kamera. Dem Betrachter wird sofort klar, wer hier das Sagen hatte. Sogar auf dieser gestellten Fotografie lässt sich ihr Charakter erkennen. Die kleinen tief liegenden Augen blicken ernsthaft und wach, an dem dunklen Kleid findet sich nichts Überflüssiges, sie trägt weder Hut noch Brosche, wie das auf Fotografien jener Zeit für Frauen üblich war.

Die Ururgroßmutter, deren Namen ich leider nicht weiß, Urgroßmutter Etlja und ihr Mann Chaim Skepner, um 1910

Etlja starb 1921, und was ich über sie weiß, habe ich von meiner Großmutter und ihren Schwestern erfahren. Aber da es hieß, von allen sechs Töchtern der Etlja Jakubson sei ihr meine Großmutter am ähnlichsten gewesen, kann ich mir die Stärke ihres Charakters sehr gut vorstellen, denn auch meine Großmutter war eine starke Frau. Wenngleich sie immer versicherte, mit ihrer Mutter könne sie sich nicht messen.

Ich weiß nicht, ob Urgroßmutter Etlja in eine Schule für jüdische Mädchen ging oder ob sie zu Hause unterrichtet wurde. Großmutter Mira erzählte, ihre Mutter habe die Bücher der russischen Klassiker, die sie in Warschau bestellte, nicht auf Russisch, sondern auf Jiddisch gelesen. Sie war jedenfalls nicht nur gebildet, sondern der Wohlstand der Familie und die gesamten Lebensumstände hingen von ihr ab. Etljas Mann, mein Urgroßvater Chaim, war religiös, etwas wunderlich und zerstreut und mischte sich nicht besonders in die Dinge des täglichen Lebens ein. Meine Großmutter erzählte, dass keines der Geburtsdaten ihrer sechs Schwestern und zwei Brüder gesichert war, denn es war stets Aufgabe des Vaters, in die Stadt zu fahren, um die Neugeborenen registrieren zu lassen. Und Chaim, ein zerstreuter und vergesslicher Mensch, bestimmte Jahr und Tag der Geburt ziemlich vage – er erinnerte sich zum Beispiel, dass eines seiner Kinder am Tag vor Pessach auf die Welt gekommen war. Deshalb steht in den Papieren meiner Großmutter auch, dass sie nur wenige Monate nach ihrer älteren Schwester geboren wurde, was in der Familie immer wieder für Gelächter sorgte.

Ich weiß nicht genau, wann Urgroßmutter Etlja beschloss, die Stadt Starodub zu verlassen, in der alle ihre Verwandten lebten. Es mag sein, dass die angespannte Atmosphäre in der übervölkerten Stadt, wo im ausgehenden 19. Jahrhundert fast die Hälfte der Bewohner Juden waren, zum Ortswechsel beigetragen hat. 1891 jedenfalls kam es in Starodub zu einem Pogrom, ausgelöst durch die Erlaubnis für die Juden, am Sonntag auf dem Marktplatz Handel zu treiben. In der Stadt brannten jüdische Häuser, jüdische Geschäfte wurden ausgeraubt, Fenster gingen zu Bruch, und Juden, die sich nicht rechtzeitig hatten verstecken können, wurden verprügelt.

Irgendwann um diese Zeit ging Etlja mit ihrem Mann und den älteren Kindern nach Iwaitenki. In diesem Dorf, 30 Kilometer von Starodub entfernt, wo die jüngeren Kinder geboren wurden, wollte sie sich in der Landwirtschaft betätigen. Ein erstaunlicher Schritt, als Frau und als Jüdin. Alexander III. hatte die Reformen, die sein Vater Alexander II. für die jüdische Bevölkerung auf den Weg gebracht hatte, weitgehend zurückgenommen. De facto war es Juden im Russischen Reich bis 1917 verboten, Land zu bestellen. Allein schon für die Pacht brauchte Urgroßmutter einen Strohmann – einen russischen Kaufmann –, der für seine Dienste eine monatliche Zahlung erhielt. Das Land, das sie in Iwaitenki pachtete, war seit dem 17. Jahrhundert im Besitz der inzwischen verarmten Familie des Grafen Gudowitsch. Hier wollte sie Tabak anbauen, eine wirtschaftlich gesehen sehr kluge Entscheidung: In jenem Teil des Landes gedieh Tabak gut, und Pogar, die Geburtsstadt meiner Urgroßmutter, lag kaum 50...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2017
Übersetzer Susanne Scholl
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aktivistin für Menschenrechte • Ales Bialiatski • alexander litvinenko • Alexander Navalnyj • Belarus • Center for Civil Liberties • Der Große Terror • Erster Weltkrieg • Familiengeschichte • Friedens-Nobelpreis • Friedensnobelpreis 2022 • GULAG • Irina Scherbakowa • Jüdisch • jüdische Familie • Jüdische Familiengeschichte • Katerina Gordeeva • Kommunismus • Leonid Wolkow • Marina Litvinenko • Memoir • Memorial • Menschenrechte • Oktoberrevolution • Russisch • Russische Geschichte • Russland • Sowjetische Geschichte • Stalin • Stalingrad • Stalinismus • Straflager • Ukraine • ukrainische Menschenrechtsorganisation • wahre Begebenheit Buch • wahre Begebenheiten • wahre Familiengeschichte • Wahre GEschichte • wahre Geschichte Bücher • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-426-44223-X / 342644223X
ISBN-13 978-3-426-44223-4 / 9783426442234
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 9,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Mein Leben in der Politik

von Wolfgang Schäuble

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
29,99
Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise

von J. D. Vance

eBook Download (2024)
Yes-Verlag
13,99
Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten

von Florian Illies

eBook Download (2023)
S. Fischer Verlag GmbH
22,99