Freiheit (eBook)
736 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31172-3 (ISBN)
Angela Merkel, von 2005 bis 2021 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, war die erste Frau im mächtigsten Amt, das das Land zu vergeben hat. 1954 in Hamburg geboren, aufgewachsen in der DDR, wo sie Physik studierte und zum Dr. rer. nat. promovierte, wurde sie 1990 in den Deutschen Bundestag gewählt. Von 1991 bis 1994 war sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, von 2000 bis 2018 Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. 2021 beendete sie ihre aktive politische Laufbahn.
Angela Merkel, von 2005 bis 2021 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, war die erste Frau im mächtigsten Amt, das das Land zu vergeben hat. 1954 in Hamburg geboren, aufgewachsen in der DDR, wo sie Physik studierte und zum Dr. rer. nat. promovierte, wurde sie 1990 in den Deutschen Bundestag gewählt. Von 1991 bis 1994 war sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, von 2000 bis 2018 Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. 2021 beendete sie ihre aktive politische Laufbahn.
Auf in die Ferne
Das Studium der Physik
Im September 1973 verließ ich mein Elternhaus. Ich zog von Templin nach Leipzig, um an der Karl-Marx-Universität mein Physikstudium aufzunehmen. Bevor es richtig losging, mussten wir eine Art paramilitärischen Kurs absolvieren. Er dauerte vierzehn Tage und fand in Schwarzenberg im Erzgebirge statt, in einem Lager, vergleichbar einer Jugendherberge mit angeschlossenem Sportplatz. Übernachtet wurde in Zimmern mit zwei Doppelstockbetten. Mit mir einquartiert war eine Studentin, die aus der Umgebung von Dresden kam. Sie sprach einen ausgeprägten sächsischen Dialekt, wie ich ihn zuvor nie gehört hatte. Wenn sie redete, verstand ich sie teilweise nicht. Wir gingen dazu über, die uns jeweils geläufigen Bezeichnungen verschiedener Wörter zu vergleichen. Rührkuchen hieß bei ihr »Schlagasch«, wie ich gleich in den ersten Minuten lernte. Auch wie man die Betten richtig zu beziehen hatte, wusste sie: »Ich kann das«, sagte sie, »mein Freund ist Offiziersschüler.« Dass sie die Offiziersausbildung der Nationalen Volksarmee als Autoritätsbeweis für die Fähigkeit zum Beziehen von Betten heranzog, war ein kleiner Kulturschock für mich.
Nach dem Aufenthalt in Schwarzenberg begann das eigentliche Studium. In meinem Studienjahr gab es fünf Seminargruppen, jede bestand aus ungefähr fünfzehn Studentinnen und Studenten. In Leipzig wohnte ich im Studentenwohnheim in der Linnéstraße. Statt im Dachgeschosszimmer mit Blick auf Wald und Wiesen lebte ich nun in einem Vierbettzimmer mit zwei Doppelstockbetten, in dem jede Bewohnerin einen Sprelacart-Tisch zum Lernen zur Verfügung hatte. Sprelacart war der Markenname für in der DDR weitverbreitete Kunstharzschichtplatten. Immerhin hatte ich ein unteres Bett ergattern können. So zu wohnen und zu arbeiten, ist heute unvorstellbar für mich. Damals hielt ich es wahrscheinlich aus, weil meine Zimmergenossinnen aus der Umgebung kamen, an den Wochenenden nach Hause fuhren und ich von Freitagmittag bis Montagfrüh das Zimmer für mich allein hatte.
Das Physikstudium war auf fünf Jahre angelegt. Eine Unterteilung in Semester gab es nicht. In den höheren Studienjahren konnte man sich mit wissenschaftlichen Assistentenjobs zusätzlich zu den Stipendien der Universität etwas Geld hinzuverdienen. Das machte ich später auch und korrigierte zum Beispiel Übungsaufgaben jüngerer Jahrgänge. Eine Unterbrechung des Studiums in Leipzig durch ein Auslandsstudium war nicht möglich, jedenfalls in meinem Studienfach nicht. Dabei hätte ich mir durchaus vorstellen können, wie Studenten im Westen ein halbes oder ein ganzes Jahr im Ausland zu studieren. Wenigstens gab es aber die Möglichkeit, während des Studiums für vierzehn Tage, maximal drei Wochen an einem Studentenaustausch mit der Universität Leningrad teilzunehmen. Diese Möglichkeit nutzte ich zusammen mit einigen Freunden aus meiner Seminargruppe.
Es war Juni, kurz vor den wunderbaren Weißen Nächten, in denen es in Leningrad, heute Sankt Petersburg, nachts kaum dunkel wird. Ich wohnte in einem Studentenwohnheim, konnte mein Russisch wieder etwas aufpolieren und hatte ansonsten nicht viel zu tun. So hatte ich Zeit, mich in der Stadt und Umgebung umzuschauen. Ich besuchte die Eremitage, den Peterhof, den Katharinenpalast, Repino – den Wohnort des Malers Ilja J. Repin – und viele andere Sehenswürdigkeiten. Abends setzten meine Freunde und ich uns mit einer Flasche Rotwein und etwas Käse in die Parks und genossen die Atmosphäre. Wir hatten nicht viel Kontakt mit russischen Studenten, jedoch über einen russischen Physikdozenten, der uns betreute, umso mehr mit russischen Künstlern und Intellektuellen, die uns auch zu sich nach Hause einluden. Es war schon während dieses viel zu kurzen Aufenthalts erkennbar und spürbar, dass es in Leningrad eine spannende und dem Staat nicht voll zugängliche Intellektuellenszene gab.
Auf meinem Stundenplan in Leipzig standen Vorlesungen, Seminare und Praktika, also experimentelle Übungen an Geräten. Es wurde erwartet, dass wir an allen Veranstaltungen teilnahmen. Anfangs ging es um die mathematische Ausbildung, später dominierten die physikalischen Fächer. Die Leistungskontrolle fand über permanent zu schreibende Klausuren und praktische Übungsaufgaben statt. Unsere Seminargruppenleiterin kümmerte sich darum, dass niemand zurückfiel. Das schien auch nötig zu sein, denn ungefähr ein halbes Jahr nach Studienbeginn sagte sie mit Blick auf die Noten zu uns: »Fangen Sie bitte nicht an, die Drei für die neue Eins zu halten! Das kann bei Ihnen schon noch deutlich besser werden!«
Wenn ich an diese Anfangszeit zurückdenke, sehe ich mich unentwegt an meinem Sprelacart-Tisch in dem Vierbettzimmer sitzen, um Übungsaufgaben in Analysis, Algebra und Theoretischer Physik zu lösen. Stunden über Stunden brütete ich über den Aufgaben, bis mir irgendwann die zündende Idee kam. Das Gefühl, die Lösung gefunden zu haben, war großartig und befreiend. In dieser Zeit lernte ich, dass es sich lohnt, nicht sofort die Flinte ins Korn zu werfen, sondern durchzuhalten, an die eigene Leistungskraft zu glauben, mich allein durchzuboxen. Anders als die Schulzeit führte mich die Studienzeit tatsächlich an meine Leistungsgrenzen. Genau das hatte ich gesucht – und gefunden.
Die Sektion Physik – zu DDR-Zeiten hieß es während des Studiums Sektion und nicht Fakultät – befand sich wie mein Studentenwohnheim in der Linnéstraße. Dort fanden alle zentralen Physik- und Mathematikvorlesungen statt. Unsere Physikdozenten waren nicht wegen guter Kontakte zu SED und Staat auf ihren Positionen, sondern weil sie fachlich sehr renommiert und international anerkannt waren. Einer von ihnen ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Professor Harry Pfeifer, ein drahtiger, eher kleiner Mann mit Glatze. Er hielt unsere Elektronikvorlesungen, hatte mehrere erfolgreiche Lehrbücher geschrieben und durfte auch an Fachkonferenzen im Westen teilnehmen. Eine Zeit lang hatte ich montags um acht Uhr bei ihm Vorlesung. Zu Beginn des Studiums hatte er uns mit einer klaren Ansage begrüßt: »Erstens, Sie haben pünktlich zu sein«, sagte er, »und zweitens, nach acht Uhr nehme ich keine Übungsaufgaben mehr an. Versuchen Sie es erst gar nicht. Es hat keinen Sinn.« Und tatsächlich: Er nahm keine Übungsaufgaben an, die nicht bis Vorlesungsbeginn um acht Uhr auf seinem Tisch lagen. Mir bereitete das keine Probleme, denn ich brauchte ja nur wenige Minuten von meinem Zimmer im Wohnheim zum Hörsaal. Für viele andere aber, die zwar in der Nähe, aber gleichwohl außerhalb Leipzigs wohnten, war es eine Tortur, es montags bis kurz vor acht Uhr zur Vorlesung zu schaffen, damit sie auch die Übungsaufgaben rechtzeitig vorher abgeben konnten. Doch Pfeifer ließ nicht mit sich reden, vermutlich weil er davon ausging, dass wir Mitstudenten während der Vorlesung abschreiben ließen, wenn wir die Aufgaben nach Veranstaltungsbeginn noch bei uns gehabt hätten. Er wollte wahrscheinlich außerdem durch dieses Vorgehen erzwingen, dass wir seine Vorlesungen immer besuchten.
Die Praktika begannen zum Teil sogar noch früher, und zwar schon um sieben Uhr. Das war heftig. Ich musste bereits gegen 6.30 Uhr das Wohnheim verlassen, weil sie anders als die Vorlesungen und Seminare nicht in der Linnéstraße stattfanden, sondern gleich neben dem Gewandhaus, im Hochhaus der Universität. Gebaut worden war es nach der Sprengung der altehrwürdigen Universitätskirche im Jahr 1969 – einer einzigartigen kulturellen Barbarei. Neben dem frühen Beginn der Praktika störte mich sehr, dass die männlichen Studenten sofort an die Geräte gingen und alles ausprobierten, ohne einen Plan für ihr Vorgehen zu haben, während ich mir zunächst gedankliche Klarheit über die geplanten Experimente verschaffte. Wenn ich dann an einem Gerät etwas erproben wollte, war es schon belegt. Schneller ans Ziel kamen die männlichen Studenten damit dennoch nicht. Deshalb machte ich die Praktika am liebsten zusammen mit den anderen Studentinnen.
Keiner besonderen Erwähnung bedarf es sicher mehr, dass es neben den Praktika der Sport war, der mir wie in der Schule auch im Studium die meiste Mühe bereitete. Heute kann ich darüber lachen, damals jedoch war das keine Lappalie, denn Sportprüfungen waren verpflichtender Bestandteil des Studiums. Meine größte Hürde war der Hundertmeterlauf. Einmal musste ich die Sportprüfung sogar wiederholen, weil ich sonst eine Fünf bekommen und das den Abschluss des gesamten Studienjahres gefährdet hätte. Ich glaube, dass mein Prüfer bei der Wiederholung Gnade vor Recht ergehen ließ, denn ich hatte beim Laufen nicht das Gefühl, sehr viel schneller als beim ersten Mal gewesen zu sein. Dass ich aber wegen eines Hundertmeterlaufs das Studienjahr nicht hätte abschließen können, wollte er offensichtlich doch nicht.
Unbekümmert
Was in der Erweiterten Oberschule mit dem Fach Staatsbürgerkunde begonnen hatte, wurde an der Universität mit Seminaren und Vorlesungen im Fach Marxismus-Leninismus beziehungsweise mit »ML«, wie wir damals kurz sagten, fortgesetzt. Der ML-Unterricht befasste sich wieder mit den drei schon aus der Staatsbürgerkunde bekannten Kategorien: dem Dialektischen Materialismus, der Politischen Ökonomie und – das war der unangenehmste Teil der Trias – dem Wissenschaftlichen Kommunismus. In der Nachbarschaft meines Wohnheims wohnten...
Erscheint lt. Verlag | 26.11.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Autobiografie • Bundeskanzlerin • Bundespolitik • Bundesregierung • Bundestag • CDU • Demokratie • Europa • Krise • Memoiren • Politik • Politische Memoiren • USA • Weltpolitik |
ISBN-10 | 3-462-31172-7 / 3462311727 |
ISBN-13 | 978-3-462-31172-3 / 9783462311723 |
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