Mensch, Rüdiger! (eBook)

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2017 | 1. Auflage
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40107-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mensch, Rüdiger! -  Sven Stricker
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Man muss auch mal loslassen können. Rüdiger ist Lehrer. Verheiratet, Cordhose, 2 Kinder. Für den Rest der Welt ist er nahezu unsichtbar. An seinem 40. Geburtstag, mitten im Unterricht, merkt er, dass er sein bisheriges Leben nicht mehr erträgt. Er steht auf und geht. Tom hatte vor Jahren einen Bestseller. Danach: Schreibblockade, Lebensblockade. Jetzt sitzt er im Supermarkt an der Kasse, von Ohnmachtsanfällen heimgesucht, und hilft biologisch verteuerter Landwurst übers Laufband. Bis es auch ihm reicht. Rüdiger und Tom treffen sich auf einer Talbrücke. Beide wollen die Welt hinter sich lassen. Am Ende aber beschließen sie: Fünf Tage lang werden sie testen, ob das Leben nicht vielleicht doch noch lebenswert ist.

Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Für seine Sörensen-Romane war Stricker 2017 und 2024 für den Glauser-Preis nominiert. Die Verfilmung von 'Sörensen hat Angst' gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.  

Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Mit «Sörensen hat Angst» war Sven Stricker für den Glauser-Preis 2017 nominiert, die gleichnamige Verfilmung gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.  

Teil  1


1


Rüdiger schaltete das kleine, spritzwassergeschützte Badezimmerradio an, das farb-, form-, und basslos neben der elektrischen Zahnbürste stand, und atmete tief durch. Heaven 17 waren «Crushed By The Wheels Of Industry» und gaben damit das Motto des Tages vor. Rüdiger wippte auf den Fußballen, spürte kurz den in der Rückschau allgemein überbewerteten Achtzigern nach, betrachtete verkniffen sein Spiegelbild, dann die Uhr, dann wieder das Spiegelbild, und war vierzig Jahre alt. Auf die Sekunde genau.

«Herzlichen Glückwunsch», hauchte er und nutzte den Niederschlag seines Atems, um die Scheibe mit dem Ärmel zu putzen. Es war Montag, fünf Minuten nach sieben. Er bleckte die frisch geputzten Zähne, die ihm auch schon mal weißer vorgekommen waren, faltete das Handtuch ordentlich auf den silbrig glänzenden Halter und betrachtete ein letztes Mal sein jetzt auch offiziell nicht mehr ganz jugendliches Selbst. Rüdiger war blass, deutlich zu klein, von schmaler Gestalt, ausgestattet mit einem länglichen Gesicht, schlackernden Armen und viel zu dürren Beinen. Der Seitenscheitel saß akkurat, wie festgetackert, erste graue Strähnen mischten sich in das annähernd undefinierbare Dunkelblond. Rüdiger hatte keine allzu hohe Meinung von sich, gelinde gesagt. Er sah sich eher als austauschbares Füllmaterial, das die Straßen bevölkerte, um die wirklich interessanten Leute strahlen zu lassen. Sein Charisma beschränkte sich auf seine schwarze Hornbrille, die er aus genau diesem Grunde andauernd trug, am liebsten auch im Bett. Er nahm sie etwa vierzigmal in der Stunde ab, nur um sie wieder aufzusetzen.

Er holte noch einmal Luft, schaltete den besten Mix der Achtziger, Neunziger, Nuller und von heute ab, öffnete die Badezimmertür und trat in das morgendliche Chaos wie ein Barfüßiger ins Wespennest. Die Lautstärke um ihn herum explodierte, Silvia fuchtelte in ihrem hellblauen Frotté-Bademantel wild in der Gegend herum und dirigierte Max und Lilian beidhändig durch die Morgenroutine.

«So», sagte er so leise wie unbemerkt, kontrollierte mit einem routinierten Seitenblick, dass die Aktentasche ordnungsgemäß neben der Haustür stand, trat in die Küche und dort sogleich zum Tisch. Ein Post-it, das schon seit Jahren auf der Kühlschranktür klebte, erinnerte die anderen an seinen Ehrentag. Aus dem Radio über der Dunstabzugshaube verbreitete eine aufgekratzte Morgenstimme Morgenstimmung.

«Alles Gute zum Geburtstag, Papa!», rief der vierjährige Max, sprang von seinem Stuhl und raste davon, wahrscheinlich, um ein Geschenk zu holen, das aus sehr viel Papier, noch mehr Tesafilm und einem halb zerquetschten Schokobonbon bestand.

«Herzlichen Glückwunsch, Papa», sagte auch Lilian (sie war dreizehn Jahre alt), gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und reichte Rüdiger den kleinen, runden Sandkuchen mit der brennenden Kerze in der Mitte, den Rüdiger jedes Jahr von seiner Tochter bekam und der immer von den anderen gegessen wurde, weil Rüdiger Sandkuchen nicht mochte. Er setzte sich und griff eine kalte Scheibe Toast aus dem Brotkorb.

«Danke, mein Schatz», sagte er, für seine Verhältnisse durchaus überzeugend lächelnd. «Das ist lieb.»

Silvia stellte sich hinter ihn und legte die Hände auf seine schmalen Schultern. «Max, komm sofort zurück!», brüllte sie, sodass Rüdiger zusammenzuckte und etwas Marmelade von seinem Messer tropfte. Er führte Daumen und Zeigefinger der linken Hand zur Nasenwurzel, bis ihm bewusst wurde, dass man das als Affront empfinden konnte, und zog die Hand zurück.

«Ich kann es aber nicht finden!», rief Max aus seinem Zimmer, das den Geräuschen nach zu urteilen in diesem Moment aufwendig renoviert wurde.

«Dann schenk es Papa später. Der freut sich auch nachher noch.»

«Natürlich», sagte Rüdiger halblaut und wünschte, es wäre so.

Silvia gab ihm einen energischen Kuss auf den Hinterkopf, dann eilte sie hinaus, um ihren Sohn einzufangen und gegen den alltäglichen, hartnäckigen Widerstand für den Kindergarten fertig zu machen.

Rüdiger aß seinen Toast, in kleinen Bissen, man sollte ja nicht so schlingen, Lilian lächelte unsicher, wusste nichts weiter zu sagen, stand auf, stellte ihren Teller in die Spüle statt in die halb geöffnete Spülmaschine und eilte grußlos aus der Küche.

Rüdiger war allein.

Die aufgekratzte Stimme aus dem Radio fand die Weltlage zwar irgendwie bedrückend, wünschte aber dennoch einen traumhaften Morgen an diesem heißen Tag, dann folgte ein kitschiges Liedchen von Phil Collins, das Rüdiger aus irgendeinem Disney-Film kannte. Er überlegte, ob er zur Feier des Tages eine zweite Scheibe Toast essen sollte, ob es für den Magen überhaupt einen Unterschied machen würde, und verzichtete. Er fand das Sitzen beklemmend, fand einfach alles beklemmend, stellte die Marmelade auf die andere Seite des Tellers, sammelte mit angefeuchtetem Zeigefinger zwei Krümel ein, schob sie in den Mund, begann ein wenig zu zittern (diese verdammte Nervosität), stand auf und trat ans Fenster.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, im dritten Stock eines fabrikartigen Rotklinkerbaus, befand sich seit einigen Jahren ein Fitnesscenter. Die Fensterfront reichte vom Boden bis zur Decke. Er betrachtete die sich abmühenden, federnden, muskulösen Körper in ihrem Kampf um ewige Jugend und perfekte Fassade. Rüdiger stand jeden Morgen an diesem Fenster, immer nur kurz, aber er hatte noch nie ein Gesicht wiedererkannt. Die Körper schwitzten, sie mühten sich, sie taten sich wohl, sie arbeiteten an sich und ihrer Schönheit. Aber dann, wenn Rüdiger mit seiner Aktentasche da unten, am Fuße des Gebäudes, vorbeikam, standen dieselben Körper vor der Tür und rauchten. Rüdiger verstand das nicht. Oder er verstand es eben doch. In der Welt dieser Körper war ausschließlich wichtig, was sichtbar war. Die Lunge war nicht sichtbar. Das, so folgerte Rüdiger, war sorgsam gelebte Oberflächlichkeit. Eine Oberflächlichkeit, die er insgeheim beneidete. Rüdiger hatte noch nie geraucht. Er hatte auch noch nie andere Drogen genommen. Er war noch nie in einem Fitnessstudio gewesen.

Er trat vom Fenster zurück, setzte sich wieder hin und starrte für einen Moment in die brennende Sandkuchen-Kerze. Dann pustete er. Und noch einmal. Er brauchte vier Anläufe, bis sie endlich ausging.

*

Der Morgen war von bestürzender Klarheit, und selbst Rüdiger bemerkte, dass der Himmel heute in einem besonders intensiven Sommerblau leuchtete, während zu seinen Füßen der Asphalt in Erwartung der Hitze vor sich hin glitzerte. Sein unsportlich verkürzter Atem wies ihm den Weg, es musste immer vorwärtsgehen. Am Wegesrand blühte eine einsame Blume, die wahrscheinlich nichts als Unkraut war; die Pfützen des überraschenden nächtlichen Regens boten ihre Oberfläche als Spiegel dar. Wenigstens die Natur würdigte ihn und seinen Ehrentag angemessen, dachte er und krampfte mit der linken Hand. Dabei wollte er gar nicht gewürdigt werden, einfach nur da sein wollte er und dass der Tag möglichst schnell vorbeiging.

Rüdiger trug seine Aktentasche wie einen Staffelstab. Er bog zügigen Schrittes in die Mittelstraße ein, den Taschenträger-Arm steif ausgestreckt, vor und zurück, vor und zurück, die andere Hand tief in der Hosentasche seiner schon zu dieser Uhrzeit zu warmen Cordhose vergraben. Er straffte sich, entledigte sich mit jedem Schritt mehr des Privaten und gab sich etwas Offizielles, schlüpfte sozusagen in seinen Lehrer-Mantel, den er bis heute Nachmittag nicht wieder ausziehen würde. Seine Brust verengte sich in tiefer Traurigkeit. Weil er das schon kannte, weil das in den letzten Jahren immer mehr zum Dauerzustand geworden war, ignorierte er es. Darin war er professionell.

Rüdiger schwenkte auf den Schulhof ein, wurde links und rechts von eilenden, wackelnden Schülern in kurzen Hosen überholt, und bedachte den Stundenplan. Er hatte eine achte, eine zehnte und eine sechste Klasse. Mit der sechsten kam er hinreichend zurecht, die anderen gerieten ihm zum Problem. Rüdiger wusste, dass er über wenig Autorität verfügte. Sobald die Kinder ihm buchstäblich über den Kopf wuchsen, was spätestens in der achten Klasse der Fall war, tanzten sie ihm darauf herum. Das war immer schon so gewesen, und er hatte immer noch kein Mittel dagegen gefunden. Sie lachten ihn aus, ganz offen, redeten durcheinander, störten, verweigerten sich und die Hausaufgaben, manchmal schmissen sie Gegenstände oder attackierten sich gegenseitig mit Gemeinheiten, und er, was tat er? – er nahm seine Brille ab, setzte sie wieder auf und hielt sich an «Effi Briest» fest wie an einer Rettungsboje. Manchmal sagte er leise «Na!» oder «Herrschaften!», aber genauso gut hätte er in einem voll besetzten Fußballstadion schriftlich um Ruhe bitten können.

Rüdiger gehörte zu den Menschen, die einen Beruf ausübten, der nicht für sie geschaffen war. Für Rüdiger hätte ein idealer Arbeitsplatz folgendermaßen ausgesehen: ein Keller, ein Gitterfenster, ein Schreibtisch, ein Stuhl (mit Sitzerhöhung), eine Lampe, kein Telefon, null Menschenkontakt und eine tägliche Kleinst-Aufgabe, die mit Ordnung, Sortieren und Akten zu tun gehabt hätte. Vielleicht hätte im Hintergrund das Radio leise gespielt. Irgendwas von Mozart, Chopin oder eventuell sogar Chris de Burgh. Rüdiger wäre zufrieden gewesen, ausgeglichen, beruhigt und vielleicht in gewisser Hinsicht unter Umständen gelegentlich, zum Beispiel wenn der Sommeranfang auf einen Sonntag fiel, sogar ansatzweise glücklich.

Aber Rüdiger war Lehrer geworden. Wie um sich gegen seine Misanthropie zu behaupten,...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2017
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beruf • Ehe • Lebenskrise • Lehrer
ISBN-10 3-644-40107-1 / 3644401071
ISBN-13 978-3-644-40107-5 / 9783644401075
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