Die unsichtbare Meile (eBook)

Roman
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2017 | 1. Auflage
366 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-75182-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die unsichtbare Meile -  David Coventry
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Paris, 17. Juni 1928. Das Signal ertönt, die Tour der France startet. Mit dabei: fünf Männer aus Neuseeland. Vor ihnen liegen 5.376 Kilometer. Dass sie es mit ihren alten Schrotträdern schaffen werden, glauben sie selbst nicht. Zu Beginn werden sie von den Franzosen wegen ihres lächerlichen Outfits nur belächelt. Doch nach kurzer Zeit sind sie Teil dieser sonderbaren Gemeinschaft, stoßen sich beim Sprintduell die Ellenbogen in die Rippen, jagen nachts lebensmüde die Alpen runter, betäuben sich nach der Etappe mit allem, was zur Verfügung steht. Aber es braucht mehr als nur Entschlossenheit, um in dieser von Kratern und Gräben zerfurchten Landschaft den Schatten der Vergangenheit zu entfliehen ...

Ein Buch über ein einzigartiges Abenteuer, kraftvoll und zugleich hochsensibel erzählt es von Ekstase, Freundschaft und dem Echo des Ersten Weltkriegs.



<p>David Coventry, geboren 1969, gilt nach Eleanor Catton als die nächste literarische Entdeckung aus Neuseeland. <em>Die unsichtbare Meile</em> ist sein Debütroman und stand monatelang auf der neuseeländischen Bestsellerliste. Coventry lebt in Wellington.</p>

David Coventry, geboren 1969, gilt nach Eleanor Catton als die nächste literarische Entdeckung aus Neuseeland. Die unsichtbare Meile ist sein Debütroman und stand monatelang auf der neuseeländischen Bestsellerliste. Coventry lebt in Wellington.

1


Ich glaube, niemand von uns hat die Blicke von zig Tausenden vorhergesehen, die Gesichter und die Körper dahinter. Diese fünfzigtausend Augen, hellbraun, dunkelbraun, blau, alle auf uns gerichtet. Ich sitze auf dem Sattel, Harry hält das Rad fest. Er ist groß, und er steht neben meinem Lenker, blickt vorbei an meiner Schulter. Sein Blick ist abwesend, die Augen gerötet von Kaffee, Zucker und hundert verschiedenen Fragen. Das Kopfsteinpflaster macht das Warten schwierig; ich habe Angst, dass ich umkippe, bevor es losgeht, eine Witzfigur vor den Pariser Menschenmassen. Ich frage, wie spät es ist, aber niemand wird mir antworten. Die Stunde des Tour-Starts ist angebrochen, mehr wissen wir nicht. Wir sind um 9:20 Uhr an der Reihe; wann das ist, kann ich nicht sagen. Harry nickt mir zu, aber dann dringt Lärm aus der Menge herüber, und sein Gesicht spannt sich an. Er kneift die Augen zusammen, und das Geräusch lässt kurz nach, die Gesichter, Münder und all die leuchtenden Augen verdunkeln sich und klaren wieder auf. Ich stelle den Bremshebel ein. Ich nehme Rennhaltung ein. Dann richte ich mich wieder auf.

Eigentlich müsste es warm sein, aber im Schatten hängen noch Reste der Nacht, kalte Luft kriecht an unseren Armen hoch, und wir bekommen Gänsehaut. Oben auf dem Balkon lehnt sich ein hübsches Mädchen aus der Menge, um die Aufmerksamkeit eines Fahrers, irgendeines Fahrers zu gewinnen. Sie trägt einen Mantel, aber die entscheidenden Knöpfe sind erfreulicherweise geöffnet. Jemand aus unserem Team sagt: »Puh!«. Es ist Percy, und sein Akzent ist hart, so hart, dass die Franzosen, wenn er den Mund aufmacht, ihre Schuhspitzen betrachten. Er ist nervös und klopft Harry auf die Schulter. Keiner beachtet ihn. Auf jeden Fall nicht Harry, denn ich weiß, was ihm durch den Kopf geht, als er sich zur Menge umdreht, was die meisten Männer denken, während sie sich startbereit machen.

»Was ist –«, sagt er.

»Was ist womit?«, frage ich zurück.

»Wissen wir –« Aber er wird abermals überdröhnt. Lärm überall, der Kathedralenklang der Tour. Das nächste Team ist auf der Strecke. Wir warten, bis wir an der Reihe sind, dem Getöse der Stadt ausgesetzt.

Ich schwenke die Mütze hin zu dem Mädchen. Es scheint, als würde sie etwas rufen. Ich grinse den anderen zu. Harry fragt mich, wie sie heißt, aber schon legt die Menge wieder los. Der Lärmpegel steigt, die Geräusche scheinen sich zu bewegen, zu einer Welle aufzutürmen. Er reckt den Hals und pufft mich in die Seite. Ich folge seinem Blick und nicke. Wir alle spüren die geballte Dichte der acht Touristes-routiers, die sich ganz hinten an ihre Aufwärmübungen machen. Ein paar erkenne ich. François Louvière ist dabei. Ich werde still. Die Menge auch. Er dehnt die Beine.

Harry kneift wieder die Augen zusammen. Ich beobachte ihn, weil ich zu wissen glaube, was in ihm vorgeht, woran er denkt: Er denkt daran, dass es bei ihm zu Hause gerade dunkel wird, überlegt, was in dem Haus am Ende der Straße am Rand der Tiefebene wohl heute auf den Tisch kommt, denn unten im Süden ist gleich Essenszeit. Er denkt an das Zimmer, an seine Frau vor dem leise simmernden Topf. Ich weiß, wie tröstlich solche Gedanken sein können, wenn man sich vor Lärm fürchtet, dem kesselartigen Klang von Gemurmel, das zu Rufen, Geschrei und Heulen anschwillt. Es umzingelt uns, kriecht unter unsere Trikots und über unsere Haut. Plötzlich schlägt die Einsamkeit zu, und du blickst dich um und denkst zurück an Essen und Trinken, an Liebe und Stille. Ich weiß es, weil wir alle uns vor diesem Lärm fürchten.

»He«, ruft Percy dem Mädchen zu. Sie zuckt zusammen, aber sie lächelt. Drei Australier und zwei Neuseeländer, wir können nicht wissen, wie wir uns mitten in Paris anhören. Ich sage mitten in Paris, dabei befinden wir uns eigentlich außerhalb, in Le Vésinet, aber die Stadt ist dennoch hier.

Ernie Bainbridge gähnt. Er beginnt ein Lied zu summen, aber Percy unterbricht ihn, das heißt, er unterbricht ihn nicht, denn er redet pausenlos. Er führt aufgeregte Selbstgespräche, scherzhaft, ernst, unbestimmt. Wörter, die er schon gesagt hat, gesagt hat, bevor wir nach Brüssel aufbrachen, an dem Märztag gesagt hat, als wir bei Tagesanbruch aus Perth ausliefen. Irgendetwas über Morgenstunden und Percy Osborne.

»Wir werden untergehen«, sagt er.

»Du bist ein Angsthase«, sagt Ernie.

»Eine Brücke wird einstürzen, und das war's dann mit euch, Jungs. Ich bin nicht dabei, ich habe dann schon aufgegeben.«

Harry lächelt und will etwas sagen.

»Du bist bloß nervös«, komme ich ihm zuvor.

»Und ob ich nervös bin«, sagt Percy. »Ich bin nervös. Ich bin furchtbar. Ich bin furchtbar nervös.« Das Wiederholen scheint zu helfen, scheint ihm den Mut zurückzugeben, von dem ich bislang nichts bemerkt habe, denn er pfeift dem Mädchen zu, schwenkt die Mütze und hält inne, als sie uns eine Kusshand zuwirft. Sie strahlt, aber diesmal vermag ich nicht zu sagen, ob sie ihr Lächeln heimlich Harry, Percy, Ernie, mir oder sogar Opperman schenkt, der uns still und vergnügt zuhört, oder ob es der großartigen Szene gilt, die sie von dort oben bestimmt zu sehen bekommt; Zehntausende leuchtende Gesichter.

»Wissen wir schon«, sagt Harry, »welches –«

»Welches Zeichen wir bekommen?«, frage ich, und Harry nickt.

»Wer?«, sagt Percy.

»Wir. Welches Startzeichen bekommen wir?«

»Hubert?« Harry dreht sich zu Opperman um, der mit seinem Lenkerband beschäftigt ist.

»Wie erkennen wir, dass das Rennen begonnen hat?«, fragt Percy.

Opperman schiebt die Unterlippe vor und zuckt die Achseln. »Keine Ahnung, Percy. Wenn wir losgefahren sind, sag ich dir Bescheid.«

Percy murmelt vor sich hin, sagt mit leiser Stimme, die nicht ganz seine ist: »Wir wollten einen Kapitän, und gekriegt haben wir diesen grünen Jungkadetten.« Seine Stirn legt sich in Falten und er denkt nach, verwundert, woher wohl diese Stimme kam: Von einem Schlachter auf der Straße, einem kaputten Soldaten, der am Bahnhof Zeitungen und Briefmarken verkauft, oder vielleicht von einem Verwandten, der schon einmal hier gewesen ist. Es scheint, als wäre er tief bestürzt darüber, auf einmal ein anderer sein zu müssen, um er selbst zu sein.

»Wir fahren ja nicht zum Sinai«, sage ich.

»Du meinst die Somme.«

»Scheiß auf die Somme.«

»Fahren wir überhaupt zur Somme?«, fragt Harry.

»Oppy?«

Unser Teamkapitän zeigt mit einer Kopfbewegung auf Ernie Bainbridge, und der nickt. »Eigentlich nicht.«

»Jemand noch ein paar Sternsprünge?«, sagt Percy, und Opperman bückt sich lachend, um seine Pedalhaken einzustellen, die nicht eingestellt werden müssen. Einer von der Tour gibt uns ein Zeichen, dass wir um einen Platz zur Startlinie vorrücken sollen, und die Menge tost wie eine zerreißende Welle: Ein Favorit ist gestartet. Wir sehen uns an und überlegen, welcher Liebling wohl ins Rennen gegangen ist. Von oben ruft uns Monsieur France zu. Er ist unser Manager und redet ohne ein einziges Wort Englisch. Mister France. Wir haben Wetten auf seinen Vornamen abgeschlossen. »Was sagt er?«, fragt Percy – aber wir wissen, dass es keine Rolle spielt, was er sagt, nicht bei diesem Lärm. Sein Blick verrät uns, was wir wissen müssen, und darin steht, dass wir als Nächste dran sind, das nächste Team, das sich in das Geschrei begeben muss, in das diese Stadt ausbricht, wenn Männer in ihr losgelassen werden.

 

 

Wir waren Gäste des Radsportclubs Le Vallois in Les Loges-en-Josas. Wir wohnten in einer Mansarde, denn die Chalets waren von der französischen Olympiamannschaft belegt. Auch sie waren zum Trainieren dort, menschliche Maschinen. Es war sagenhaft, wie sie sich auf der Bahn bewegten. Wir schauten ihnen im Morgendunst zu, bevor wir zum Training auf die Straße gingen und vierzig, sechzig, manchmal auch neunzig Kilometer abrissen. Sie glitten so geschmeidig über die Bahn wie ihre Ketten über die Blätter, sie wirkten schwerelos, getragen von einer stillen Wut. Wir ahmten ihre Haltung nach, beugten uns tief über den Lenker. Monsieur France schob uns unsanft auf den Sätteln herum, bis unsere Hintern in der richtigen Position waren.

Stille Wut. Harry sagte diese beiden Wörter, als wir an einem Regenmorgen nicht weit von unserer Unterkunft im Park von Versailles spazieren gingen, und ich musste lächeln.

Die heilsame Wirkung der Seeluft verpuffte in den Wochen aus pausenloser Konzentration und blindem Fleiß. Wir kochten in unserem Zimmer Wasser mit Eukalyptusblättern, die Percy im Gepäck hatte, und inhalierten mit einem Handtuch über dem Kopf die Dämpfe. Unsere Nebenhöhlen waren verstopft von Erkältungen und allem anderen, was wir uns seit unserer Ankunft eingefangen hatten. Ernie hatte es besonders schlimm erwischt. Er litt unter Magenbeschwerden, und wir hielten regelmäßig an, damit er das Frühstück ausspucken konnte, das man uns in aller Frühe hinstellte. Ein oft gesehenes Bild: Ernie Bainbridge, den Finger im Hals, hustend und würgend an einem Durchlass abseits der Straße. Er wollte alleine sein in diesen Momenten. Privatsphäre musste man sich hart erkämpfen.

Die anderen tranken kannenweise Kaffee und starrten auf ihre zitternden Hände. Ich las Briefe aus London, von einer so entfernten Angehörigen, dass ich bei dem Gedanken, ob wir überhaupt verwandt waren, ein Brennen verspüre; ich habe ein paar Dutzend Mal ihre Unterschrift gesehen, die Männer, die wir beim Wettkampf beobachten, ein paar hundert Mal.

Wir sahen uns Rennen an, den Klassiker Bordeaux–Paris, sahen uns die Bahn an....

Erscheint lt. Verlag 16.5.2017
Übersetzer Volker Oldenburg
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel The Invisible Mile
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1. Weltkrieg • Abenteuer • Erinnerung • Erster Weltkrieg • Frankreich • Freundschaft • Historischer Roman • insel taschenbuch 4726 • IT 4726 • IT4726 • Männer • Paris • Radrennen • Radsport • Sport • Teamgeist • Tour de France
ISBN-10 3-458-75182-3 / 3458751823
ISBN-13 978-3-458-75182-3 / 9783458751823
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