Die Ebenen (eBook)
152 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75084-1 (ISBN)
In den Ebenen im Outback, auf ihren riesigen Ländereien, leben Familien, die eine eigentümliche, teils fort-, teils rückschrittliche Kultur pflegen. Besessen von der eigenen Überlieferung, heuern sie Maler, Musiker, Schriftsteller und Denker an, um jeden Aspekt ihres Lebens dokumentieren zu lassen. Ein junger Filmemacher kommt in die Region, um ein Porträt jener Ebenen zu realisieren. Doch statt in die Landschaft zu gehen, vergräbt er sich in der labyrinthartigen Bibliothek seines Gönners, durch die, auf verschiedenen Zeit-Ebenen, Projektionen von Frauen geistern. Alles treibt auf »Offenbarungen« hin ...
Die Ebenen ist ein moderner Klassiker der australischen Literatur und erzählt - in einer hypnotisierenden Prosa von akrobatischem Bau - die Geschichte einer existenziell aufgeladenen Suche und eines sonderbaren Selbstverlustes.
Mit einem Nachwort von Ben Lerner
<p>Gerald Murnane, geboren 1939 in Melbourne, ist der vielfach ausgezeichnete – und mit u.a. Kafka, Calvino, Borges und Thomas Bernhard verglichene – Autor von zwölf Romanen, Erzählungsbänden und Essays. In den vergangenen Jahren war Murnane immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt worden.</p>
Gerald Murnane, geboren 1939 in Melbourne, ist der vielfach ausgezeichnete – und mit u.a. Kafka, Calvino, Borges und Thomas Bernhard verglichene – Autor von zwölf Romanen, Erzählungsbänden und Essays. In den vergangenen Jahren war Murnane immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt worden.
1
Vor zwanzig Jahren, als ich erstmals auf den Ebenen eintraf, hielt ich die Augen offen. Ich suchte in der Landschaft etwas, das auf eine vielfältige Bedeutung hinter den Erscheinungen hinwies.
Meine Reise zu den Ebenen war weit weniger mühsam als danach von mir beschrieben. Und ich kann nicht einmal sagen, zu einer bestimmten Zeit gewusst zu haben, dass ich Australien verlassen hatte. Aber ich erinnere mich deutlich an eine Reihe von Tagen, als das flache Land in meiner Umgebung mir mehr und mehr als eine Stätte erschien, die einzig ich zu deuten vermochte.
Die Ebenen, die ich damals durchquerte, waren einander nicht endlos ähnlich. Mal blickte ich über ein großes flaches Tal mit vereinzelten Bäumen und trägem Vieh und vielleicht einem Rinnsal mittendrin. Mal stieg am Ende eines äußerst wenig verheißungsvollen Landstrichs die Straße zu etwas an, das unzweifelhaft ein Hügel war, bevor ich voraus nur eine weitere Ebene sah, plan und kahl und entmutigend.
In der großen Stadt, die ich an einem bestimmten Nachmittag erreichte, bemerkte ich eine Art, zu sprechen und sich zu kleiden, die mich davon überzeugte, dass ich weit genug gekommen war. Die Bewohner waren nicht ganz die unverkennbaren Plainsleute, die ich in den entlegenen Gebieten der Mitte zu finden hoffte, doch war es mir recht, noch mehr Ebenen als die von mir schon durchquerten vor mir zu wissen.
Spät an jenem Abend stand ich an einem Fenster im dritten Stock des größten Hotels in der Stadt. Ich schaute an dem regelmäßigen Muster der Straßenbeleuchtung vorbei in Richtung des dunklen Landes dahinter. Ein Windhauch kam in warmen Böen von Norden her. Ich neigte mich in die vom nahen Grasland aufsteigenden Luftwogen und brachte mein Gesicht in die Stimmung, eine Vielzahl kraftvoller Gefühle zu zeigen. Und ich flüsterte Worte, die eine Filmfigur in dem Moment benutzt haben könnte, als sie erkannte, ihren Ort gefunden zu haben. Dann trat ich ins Zimmer zurück und setzte mich an den eigens für mich aufgestellten Schreibtisch.
Ich hatte meine Koffer schon einige Stunden zuvor ausgepackt. Jetzt stapelten sich auf meinem Schreibtisch Mappen mit Notizpapier und Karteikästen und ein Sortiment von Büchern mit nummerierten Zetteln zwischen den Seiten. Oben auf dem Stapel lag eine mittelgroße Kladde mit der Aufschrift:
DAS INNERE
(DREHBUCH)
HAUPTSCHLÜSSEL ZUM VERZEICHNIS VON
HINTERGRUNDNOTIZEN
UND MATERIAL ZUR ANREGUNG
Ich zog eine dicke Mappe mit der Aufschrift Gelegenheitsgedanken – noch nicht katalogisiert heraus und schrieb hinein:
Keine Menschenseele hier weiß, wer ich bin oder was ich in dieser Gegend zu tun plane. Seltsam der Gedanke, dass von allen Plainsleuten, die im Schlaf liegen (in ausgedehnten Häusern mit weißen Schutzbrettern, mit roten Eisendächern und großen, ausgedörrten Gärten, die von Pfefferbäumen und Kurrajongs und Reihen von Tamarisken beherrscht werden), keiner den Anblick der Ebenen gehabt hat, den ich bald enthüllen werde.
Ich verbrachte den nächsten Tag in den Labyrinthen von Bars und Salons im Parterre des Hotels. Den ganzen Morgen saß ich allein in einem tiefen ledernen Lehnsessel und starrte auf die Streifen unerträglichen Sonnenlichts am Rand der verschlossenen Jalousien in Fenstern, die die Hauptstraße überblickten. Es war ein wolkenloser Frühsommertag, und die grelle Morgensonne reichte sogar bis in die höhlenartige Veranda des Hotels hinein.
Manchmal neigte ich mein Gesicht ein wenig, um den kühleren, von einem Deckenventilator kommenden Luftstrom aufzufangen. Und ich beobachtete den sich auf meinem Glas bildenden Tau und dachte zustimmend an die Wetterextreme, die den Ebenen hart zusetzten. Unbehindert durch Hügel oder Berge nahm das Sonnenlicht vom Morgen bis zum Abend die gesamte Weite des Landes ein. Und im Winter fegten die Winde und Schauer über die weiten offenen Räume und wurden durch die geringen Waldbestände, die Mensch oder Tier schützen sollten, kaum ins Stocken gebracht. Ich wusste, dass viele große Ebenen in der Welt monatelang unter Schnee lagen, doch war ich froh, dass mein eigenes Gebiet nicht dazu zählte. Ich sah viel lieber das ganze Jahr über die wahre Gestalt der Erde selbst und nicht die falschen Hügel und Mulden eines anderen Elements. Jedenfalls hielt ich Schnee (den ich nie gesehen hatte) allzu sehr für einen Teil der europäischen und amerikanischen Kultur, als dass er für meine eigene Gegend passend erschien.
Nachmittags schloss ich mich einer der Gruppen von Plainsleuten an, die von der Hauptstraße hereinschlenderten und sich auf ihre Stammplätze längs der gewaltigen Bars setzten. Ich entschied mich für eine Gruppe, die Intellektuelle und Hüter der Geschichte und des Wissens dieses Bezirks zu umfassen schien. Aus ihrer Kleidung und ihrem Verhalten schloss ich, dass sie keine Schaf- oder Rinderhirten waren, obwohl sie viel von ihrer Zeit im Freien verbracht haben mochten. Ein paar hatten ihren Lebensweg vielleicht als die jüngeren Söhne der großen Grundbesitzerfamilien begonnen. (Jeder auf den Ebenen verdankte seinen Wohlstand dem Land. Jede Stadt, ob groß oder klein, erhielt Auftrieb durch den bodenlosen Reichtum der latifundia in ihrem Umkreis.) Sie alle trugen die Kleidung der kultivierten und müßiggängerischen Leute auf den Ebenen – einfache graue Hose mit scharfer Bügelfalte und fleckenloses weißes Hemd mit passender Krawattennadel und Armbändern.
Ich wollte unbedingt von diesen Männern akzeptiert werden und war auf jede Prüfung durch sie gefasst. Doch ich erwartete kaum, mich auf irgendetwas berufen zu können, das ich in meinen Büchern über die Ebenen gelesen hatte. Aus Werken der Literatur zu zitieren würde dem Geist der Zusammenkunft widerstreben, obwohl jeder hier jedes von mir genannte Buch gelesen hätte. Vielleicht weil sie sich immer noch von Australien eingekreist fühlten, betrachteten die Plainsleute ihr Lesen lieber als eine private Übung, die sie zwar in ihren öffentlichen Geschäften unterstützte, sie aber nicht von ihrer Verpflichtung entband, eine einvernehmliche Tradition zu pflegen.
Und doch, was war diese Tradition? Wenn ich den Plainsleuten zuhörte, hatte ich den verwirrenden Eindruck, dass sie keine gemeinsame Überzeugung wünschten, auf die sie zurückgreifen konnten: dass jeder von ihnen sich unbehaglich fühlte, wenn ein anderer etwas als selbstverständlich anzusehen schien, das er für die Ebenen als Ganzes behauptete. Als ob jeder Plainsmann lieber als ein einziger Bewohner eines Gebiets erschiene, das nur er erklären konnte. Und selbst wenn ein Mann von seiner ganz persönlichen Ebene redete, schien er seine Worte so zu wählen, als käme das einfachste von diesen nicht aus einem gemeinsamen Bestand, sondern schöpfte seine Bedeutung aus dem eigentümlichen Gebrauch, den der Sprecher von ihm machte.
An jenem ersten Nachmittag sah ich, dass das, was manchmal als der Dünkel der Plainsleute bezeichnet worden war, bloß ihr Widerstreben darstellte, zwischen ihnen und anderen irgendeinen gemeinsamen Boden anzuerkennen. Das war genau das Gegenteil (wie die Plainsleute selbst wohl wussten) des allgemeinen Verlangens der Australier von damals, all das hervorzuheben, was sie mit anderen Kulturen zu teilen schienen. Ein Plainsmann würde nicht nur behaupten, nichts über die Sitten anderer Regionen zu wissen, sondern auch gern als fehlinformiert über sie erscheinen. Am ärgerlichsten für Außenstehende war, dass jener lieber ohne eine unverkennbare Kultur wäre, als zu erlauben, dass sein Land und seine Bräuche als Teil einer größeren Gemeinschaft ansteckender Vorlieben oder Moden betrachtet würden.
*
Ich blieb weiter in dem Hotel, zechte aber fast jeden Tag mit einer neuen Gruppe. Trotz all meiner Notizen und Planskizzen war ich noch längst nicht sicher, was mein Film zeigen würde. Ich erwartete, zu einer plötzlichen Entschlusskraft durch die Begegnung mit einem Plainsmann zu gelangen, dessen vollkommene Zuversicht nur daher rühren konnte, dass er gerade heute die letzte Seite seiner Notizen für einen Roman oder einen Film beendet hatte, der mit meinem konkurrieren konnte.
Ich hatte dann begonnen, offen vor den Plainsleuten zu sprechen, die ich traf. Einige wollten meine Geschichte hören, bevor sie ihre eigene ausplauderten. Ich war darauf gefasst. Ich war bereit gewesen, insofern sie bloß davon erfuhren, Monate stillen Studiums in den Bibliotheken und Kunstgalerien ihrer Stadt zu verbringen, um zu beweisen, dass ich kein Tourist war, der Sehenswürdigkeiten abklapperte. Doch nach ein paar Tagen im Hotel hatte ich eine Geschichte ersonnen, die mir nützte.
Ich erzählte den Plainsleuten, ich sei auf einer Reise, was nur zu wahr war. Ich verriet ihnen weder den Weg, den ich zu ihrer Stadt genommen hatte, noch die Richtung, die ich einschlagen könnte, wenn ich sie verließ. Sie würden die Wahrheit erfahren, wenn Das Innere als Film herauskäme. Unterdessen ließ ich sie glauben, ich hätte meine Reise in einem fernen Winkel der Ebenen begonnen. Und wie ich gehofft hatte, zweifelte niemand an mir oder behauptete gar, die von mir genannte Region zu kennen. Die Ebenen waren so unermesslich groß, dass kein Plainsmann je überrascht war zu hören, dass sie ein Gebiet umfassten, das er nie gesehen hatte. Überdies waren viele Orte weit im Innern eine strittige Sache – gehörten sie nun zu den Ebenen oder nicht? Über die wahre Ausdehnung der Ebenen ist man sich nie einig geworden.
Ich erzählte ihnen eine Geschichte, der es fast völlig an Ereignissen oder Taten...
Erscheint lt. Verlag | 8.5.2017 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Plains |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Australien • Ben Lerner • Bibliothek Suhrkamp 1499 • BS 1499 • BS1499 • Filmemacher • Franz Kafka • Italo Calvino • Johann-Heinrich-Voß-Preis 2022 • Jorge Luis Borges • Klassiker • Landschaft • Modernismus • Outback • Parabel • Paul-Celan-Preis 1998 • Prime Minister’s Literary Award 2018 • Samuel Beckett • The Plains deutsch • Thomas Bernhard • Uluru und Outback |
ISBN-10 | 3-518-75084-4 / 3518750844 |
ISBN-13 | 978-3-518-75084-1 / 9783518750841 |
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